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PolitikAfrika

Tunesien, die Revolution und die Krise

Moncef Slimi kk
14. Januar 2021

Zehn Jahre nach dem Sturz des autokratisch regierenden Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali steht die junge Demokratie in Tunesien vor enormen Herausforderungen. Das könnte auch das positive Image des Landes gefährden.

Tunesien | Proteste in Sidi Bouzid | Arabischer Frühling
Ernüchterung: Kundgebung zum 10. Jahrestag der Revolution in Tunesien, Dezember 2020Bild: Riadh Dridi/AP Photo/picture alliance

Fast 165.000 Infizierte und rund 5300 Verstorbene: Die Coronakrise setzt Tunesien unter Druck, so sehr, dass eines der wichtigsten Daten der jüngsten Geschichte an den Rand der Aufmerksamkeit rückt: die Flucht des gestürzten tunesischen Präsident Zine el-Abidine Ben Ali samt seiner Familie nach Saudi-Arabien vor zehn Jahren. Am 14. Januar 2011 setzte sich der bis dahin autokratisch regierende Staatsmann samt seiner Familie ins Flugzeug, um dem Zorn seiner nach Freiheit und einem funktionierenden Rechtsstaat verlangenden Landsleute zu entkommen.

Heute, zehn Jahre nach dem Beginn der daraufhin einsetzenden demokratischen Entwicklung - der erfolgreichsten in den arabischsprachigen Ländern überhaupt - sieht sich Tunesien vor Problemen, die durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschärft werden. Es scheint, als stünde das Land vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, die auch der bisherigen politischen Stabilität zusetzen könnten.

Tunesien hat bislang keinen Impfstoff gegen das Virus erhalten. So ist die junge Regierung von Premierminister Hisham el-Mechichi gezwungen, umfassende Maßnahmen anzuordnen, die weitere Infektionen nach Möglichkeit verhindern sollen.

Unter Druck: der tunesische Premier Hichem MechichiBild: picture-alliance/AP/F. Belaid

Schwelende Vertrauenskrise

Die Pandemie trägt dazu bei, die aufgrund einer stagnierenden Wirtschaft ohnehin starke Kritik an den gewählten Instanzen des Landes zu verstärken. Insbesondere der Premierminister sieht sich politischen Gegnern gegenüber, die darauf hinarbeiten, ihm das Vertrauen zu entziehen. Die Angriffe kommen von Vertretern des alten Regimes wie auch von linksliberaler Seite. Während erstere darauf aus sind, wieder ins Zentrum der Macht zu gelangen, halten die Liberalen dem Premier vor, sich zu wenig um die Belange insbesondere der ärmeren Bevölkerungsschichten zu kümmern.

Inzwischen ist auch Staatspräsident Kais Saied in diesen Konflikt geraten. Kritiker werfen ihm vor, zwischen den rivalisierenden politischen Gruppen nicht hinreichend zu vermitteln. Der 62 Jahre alte Professor für Verwaltungsrecht gilt vielen als unerfahren und politisch wenig durchsetzungsstark. Auch wird ihm vorgeworfen, zu wenige Ideen für die politische Entwicklung des Landes zu haben.

Wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung

Die politische und ökonomische Stagnation führte bei der Bevölkerung, insbesondere der jungen, zu wachsender Unzufriedenheit, teilweise sogar zu Verzweiflung. Ohne Aussicht darauf, selbst bescheidene Lebensträume verwirklichen zu können, sucht ein Teil der jungen Tunesier Zuflucht bei extremistischen Gruppieren, während andere auf die - meist - illegale Einsreise nach Europa oder in andere Weltregionen setzen.

Andere wenden sich teils gewalttätigen Protestformen zu. So werden leichtere Angriffe auf die industrielle Infrastruktur des Landes verzeichnet, etwa der Energieerzeugung oder des Phosphatabbaus. Die Angriffe richten sich auch gegen die weit verbreitete Korruption und Schmuggelwirtschaft. Die durch sie verursachten Einnahmeausfälle betragen unterschiedlichen Schätzungen zufolge über 50 Prozent des Bruttoinlandprodukts.

Herausforderung Fundamentalismus

Die demokratische Kultur des Landes wird zudem durch Störfeuer fundamentalistisch orientierter lokaler oder internationaler, überwiegend aus Ägypten oder den Golfstaaten stammender Medien unter Druck gesetzt. Auch deren Ziel ist es, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu untergraben und sie auf diese Weise nachhaltig zu schwächen. Andere wiederum fordern den Präsidenten offen auf, die Verfassung auszusetzen oder das Parlament aufzulösen. Selbst ein Militärputsch wird teils unverhohlen gefordert - ein Szenario, das angesichts der historisch gewachsenen Professionalität der tunesischen Armee und ihrer kulturellen Distanz zur derzeitigen Staatsmacht keineswegs aus der Luft gegriffen ist.

Allerdings treffen solche Diskussionen auf den Widerstand der Regierung ebenso wie der Opposition. So zerstritten sie in manchen Fragen auch sein mögen, in der Verteidigung der Demokratie sind sie sich einig. Sie setzen weiterhin auf das Prinzip demokratischer Legitimation und sehen den von Präsident Saied angestrebten nationalen Dialog als sinnvollen Weg in die Zukunft.

Frust und Zorn: Szene aus Tunis, Januar 2021Bild: Fauque Nicolas/Images de Tunisie/ABACA/picture alliance

Ernüchterung bei den Partnern

Der zehnte Jahrestag der Flucht von Präsident Ben Ali fällt in eine Zeit des Zauderns, das durch den Blick auf die arabischsprachigen Länder zusätzlich befeuert wird. Weite Teile der Region sind von Kriegen durchzogen, so etwa der direkte Nachbar Libyen; andere verzeichnen seit langem eine Stärkung der vorrevolutionären Kräfte wie etwa Ägypten.

Die Stagnation Tunesiens bleibt auch jenseits seiner Grenzen nicht unbemerkt. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass auch in Europa und den USA die Begeisterung für das tunesische Demokratie-Experiment schwindet. Diese Abkühlung geht teils auf die reale Stagnation zurück, teils aber auch auf bisweilen allzu negative Berichte der lokalen Medien. Dies führt in Tunesien wiederum zur Sorge, dass insbesondere die europäischen Partner in ihrer Hilfsbereitschaft nachlassen werden.

"Tunesien für dich": Demonstration in Tunis kurz nach Ben Alis Flucht, Februar 2011Bild: picture alliance/dpa

So könnte das Land zehn Jahre nach der Revolution in einen Teufelskreis geraten: Erschlaffen die Reformkräfte im Inneren auf Dauer, ernüchtert dies auch die internationalen Partner, die das Land dann zögerlicher unterstützen könnten - was wiederum die Akteure vor Ort entmutigt. In Tunesien steht viel auf dem Spiel.

Adaptiert aus dem Arabischen von Kersten Knipp.