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PolitikNahost

Tunesien in der Dauerkrise

Jennifer Holleis | Tarak Guizani Tunis
20. September 2022

Steigende Preise machen immer mehr Tunesiern zu schaffen. Die Auswanderungsquote schnellt in die Höhe. Derweil setzt Präsident Kais Saied mit einem neuen Mediengesetz seinen autoritären Kurs fort.

Tunesierinnen demonstrierten im Juli gegen das Verfassungs-Referendum
Unmut in Tunesien: Protest gegen das Verfassungs-Referendum im vergangenen Juli Bild: Zoubeir Souissi/REUTERS

Kais Alaoui hat aufgegeben. Seitdem er 2020 während der Corona-Pandemie seinen Job in einem Hotel auf der Insel Djerba verloren hat, sucht der 47-Jährige vergeblich nach Arbeit. Seine Ersparnisse sind aufgebraucht, und selbst wenn er wieder eine Anstellung in einem Hotel fände, würde er angesichts der steigenden Preise nicht genug verdienen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. "Mit einem Durchschnittslohn von 500 tunesischen Dinar (etwa 155 Euro - Anm.d.Red.) kann man bei der derzeitigen Teuerungsrate nicht mehr leben", sagt er im Gespräch mit der DW.

Alaoui hatte einen Traum: Er wollte eine kleine Familie gründen. Den hat er vorerst aufgeschoben. Stattdessen hat er sich um eine Stelle im Ausland beworben und möchte bald nach Nordirland gehen und sein Glück dort versuchen.

Weil Zucker fehlt, bleiben auch viele Regale mit Biskuits und anderen Teigwaren leerBild: Chedly Ben Ibrahim/NurPhoto/picture alliance

Auch Mohamed Denguezli aus Tunis kann seine Familie kaum ernähren. Dabei, sagt er, habe er einen vergleichsweise gut bezahlten Job. "Doch die Situation hat sich dramatisch verändert", so der 38-jährige Techniker zur  DW.

Die hohe Inflation und ihre Folgen werden auch im Internet diskutiert, wie hier auf Twitter bezüglich der Mangelware Zucker.

Nach Angaben des staatlichen Statistikinstituts sind die Lebensmittelpreise im August um fast zwölf Prozent gestiegen - so stark wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr.

Es mangele an Grundnahrungsmitteln wie Zucker oder Öl, klagt auch Denguezli. Außerdem herrsche ein "nebeliges politisches Klima". Beides lässt den Familienvater zunehmend um die Zukunft in seinem Heimatland fürchten.

Immer mehr Tunesier verlassen das Land

Mit dem Gedanken, Tunesien auch ohne einen Arbeitsvertrag oder eine andere verlässliche finanzielle Grundlage in Richtung Ausland zu verlassen, beschäftigen sich in diesem Jahr in Tunesien offenbar immer mehr Menschen.

Not durch steigende Preise: Szene bei einer Kundgebung in Tunis, Mai 2022Bild: Chedly Ben Ibrahim/NurPhoto/picture alliance

So teilte das Tunesische Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte kürzlich mit, allein zwischen Januar und September hätten sich rund 13.500 tunesische Migranten auf den Weg nach Italien gemacht - ein Anstieg von 23 Prozent oder 2500 Personen im Vergleich zum Vorjahr.

Ramadan Ben Omar, Sprecher des Forums, hat keinen Zweifel daran, wer dafür verantwortlich zu machen sei: "Die volle Verantwortung für den Anstieg der Einwanderung nach Europa trägt die tunesische Präsidentschaft", sagte er kürzlich der Nachrichtenagentur Reuters.

Autoritärer Kurs in Tunis

In der Tat ist der politische Druck enorm - demokratische Rechte im einstigen Vorzeige-Modell des "Arabischen Frühlings" werden nach und nach zurückgedrängt oder gleich ganz abgeschafft. Bereits im Juli 2021 hatte der autoritär agierende Staatspräsident Kais Saied, damals im zweiten Jahr seiner fünfjährigen Amtszeit, das Parlament aufgelöst und den Regierungschef entlassen. Im Februar 2022 löste er den Obersten Justizrat auf, Ende März das zuvor bereits suspendierte Parlament. Anfang Juni entließ er 57 Richter und Staatsanwälte. Hinzu kamen nun noch spektakuläre Festnahmen und polizeiliche Befragungen bekannter Politiker.

Solche Schritte seien notwendig, um die politische Lähmung des Landes zu beenden und die Korruption auszumerzen, begründete Saied von Beginn an seine Politik.

Das kam in Teilen durchaus an: Breite Schichten der Bevölkerung unterstützten seinen autoritären Kurs, zumindest in der Anfangszeit. Die Opposition hingegen kritisierte die Politik des Präsidenten in aller Schärfe.

Auf autoritärem Kurs: Staatspräsident Kais SaiedBild: Slim Abid/Tunisian Presidency/AP/picture alliance

So hatte ein Bündnis oppositioneller Parteien zu einem Boykott des öffentlichen Referendums über die neue Verfassung im Juli dieses Jahres aufgerufen, die dem Präsidenten zusätzliche Befugnisse einräumt. Angenommen wurde sie dann aber mit 96 Prozent Ja-Stimmen - allerdings bei einer niedrigen Wahlbeteiligung von nur etwa 30 Prozent.

Sami Hamdi, Geschäftsführer des in London ansässigen Analyseunternehmens "The International Interest", deutet dies als Hinweis, dass der Präsident in der Bevölkerung inzwischen keine nennenswerte Unterstützung mehr finde.

"Beliebteste politische Figur"

Anders sieht es der Politologe Anthony Dworkin vom Think Tank 'European Council on Foreign Relations'. "Saied bleibt bei weitem die beliebteste und vertrauenswürdigste politische Figur im Land", sagt er im Gespräch mit der DW. "In Tunesien gibt es für viele Bürger niemanden, an den sie sich wenden könnten. So hoffen viele Menschen offenbar weiterhin, Präsident Saied werde sich um ihre wirtschaftlichen und sozialen Belange kümmern."

Allerdings gebe es in der breiten Bevölkerung nur geringes Interesse an Saieds verfassungsrechtlicher Agenda. "Man sollte nicht davon ausgehen, dass seine Unterstützung in dieser Frage langfristig gesichert ist", so Dworkin.

Widerstand gegen Wahlen angekündigt

Für das Referendum über eine neue Verfassung und die Parlamentswahlen im kommenden Dezember hat der oppositionelle Zusammenschluss "Nationale Heilsfront" erneut zum Boykott aufgerufen. "Wir erkennen diese illegitimen Wahlen nicht an, da sie eine Perversion des demokratischen Prozesses darstellen", sagt Jawhar ben Mobarak, Hauptkoordinator der "Nationalen Heilsfront", im DW-Interview. Die Wahl dienten lediglich dazu, den "Putsch" des Präsidenten zu legitimieren, klagt er und betont: "Eine Teilnahme liefe auf dessen Billigung hinaus."

Anhänger von Präsident Saied feiern im Juli die Annahme der neuen Verfassung - die Wahlbeteiligung lag allerdings nur bei etwa 30 ProzentBild: ANIS MILI/AFP

Doch wird der Boykott diesmal erfolgreicher sein? Experten bezweifeln dies. Der Schwung der Oppositionsparteien habe nachgelassen, sagt Sami Hamdi. "Es ist ihr nicht gelungen, die Bevölkerung von ihrer Sicht zu überzeugen. Viele Menschen geben weiterhin den politischen Parteien die Schuld an der Krise", so der Experte von "The International Interest".

Ähnlich sieht es Anthony Dworkin. "Die Strategie der Opposition besteht im Wesentlichen darin, darauf zu warten, dass die wirtschaftliche Not die Menschen zu Saied und seinem System auf Distanz gehen lässt und auf die Straße treibt", sagt er. "Allerdings: Auf öffentliche Unruhen zu warten, ist eine riskante Strategie."

Journalisten-Protest gegen neues Mediengesetz

Für zusätzlichen Protest - diesmal vor allem von Journalisten - sorgt dieser Tage ein als Präsidialdekret erlassenes neues Mediengesetz. Diesem zufolge kann die Verbreitung von falschen Informationen oder Gerüchten im Internet mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren geahndet werden. Werden angeblich unwahre Behauptungen gegen staatliche Repräsentanten verbreitet, kann die Haftstrafe sogar auf zehn Jahre steigen. Unterbunden werden sollen damit laut offizieller Darstellung Versuche, den Ruf einer Person zu ruinieren, die öffentliche Sicherheit zu beeinträchtigen oder Terror zu verbreiten.

Das Gesetz rief umgehend Kritik hervor, viele Journalisten befürchten drastische Einschnitte bei der Meinungsfreiheit. "Das Dekret ist ein neuer Rückschlag für die Rechte und Freiheiten", so Mahdi Jlassi, der Vorsitzende der tunesischen Journalistengewerkschaft. "Strafen für die Veröffentlichung in beliebigen Netzwerken sind ein schwerer Schlag gegen die revolutionären Werte, die allen Journalisten und allen Tunesiern Freiheit garantiert haben", sagte der Gewerkschafts-Chef in Nachrichtenagenturen. Das Dekret erinnere an die Gesetze, mit denen der 2011 gestürzte Langzeit-Herrscher Zine al-Abidine Ben Ali gegen Andersdenkende vorgegangen sei, so Jlassi.

Kaum Hoffnung auf Verbesserungen in Tunesien 

Mohamed Denguezli hat derweil die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft in Tunesien verloren. "Ich kenne viele Menschen, darunter auch einige schon recht fortgeschrittenen Alters, die ernsthaft darüber nachdenken, das Land zu verlassen", sagt er. "Für die meisten von uns gibt es nichts Wichtigeres im Leben als Sicherheit und ein ausgewogenes soziales Klima, um eine Familie zu gründen." Im Dauerkrisen-Land Tunesien sei all dies heute kaum noch zu finden. 

Mitarbeit und Adaption aus dem Englischen: Kersten Knipp.

Nachhaltige Fischerei in Tunesien

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Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.
Tarak Guizani Freier Korrespondent Tunesien