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PolitikNahost

Tunesien: Auf autoritärem Kurs

9. Februar 2022

Der tunesische Präsident Kais Saied hat angekündigt, den Obersten Justizrat des Landes aufzulösen. Der Schritt reiht sich ein in eine ganze Reihe weiterer autoritärer Maßnahmen. Inzwischen regt sich verhalten Widerstand.

Symbolbild Tunesien Volksbefragung
Protest: Demonstration gegen die Politik des Präsidenten in Tunis, September 2021Bild: Zoubeir Souissi/REUTERS

Geht es nach dem tunesischen Präsident Kais Saied, wird es den Obersten Justizrat des Landes bald nicht mehr geben. Bald werde der Rat der Vergangenheit angehören, hat Saied am vergangenen Sonntag (06.02.) angekündigt. Er werde ein entsprechendes Dekret erlassen. Der Rat selbst erklärte daraufhin, man werde der Anordnung nicht Folge leisten und die Arbeit fortsetzen. Er ist unter anderem dafür zuständig, die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern.

Wiederholt hatte der Präsident den Richtern jedoch vorgeworfen, sie handelten so, als seien sie selbst der Staat - und nicht eine seiner Einrichtungen. Außerdem, bemängelte er, verschleppe die Justiz immer wieder in wichtigen Korruptions- und Terrorismusfällen die Urteilsfindung.

Die von den UN und westlichen Staaten scharf kritisierte Ankündigung ist der neueste Schritt in einer Reihe eigenmächtiger Entscheidungen, die Saied in den vergangenen Monaten getroffen hat. Bereits im Juli hatte er die Regierung und das Parlament entmachtet. Seitdem wird Tunesien faktisch per Dekret regiert. Im September hatte Saied zudem weite Teile der Verfassung außer Kraft gesetzt. Zudem ging er gegen Kritiker und Oppositionelle vor. So wurde der in Paris lebende ehemalige tunesische Präsident Moncef Marzouki im Dezember in Abwesenheit wegen angeblicher "Untergrabung der Staatssicherheit" zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Insgesamt, erklärte der Präsident, wolle er den politischen und wirtschaftlichen Stillstand in Tunesien überwinden und zudem die Coronavirus-Pandemie in den Griff bekommen. Eine umstrittene Online-Befragung soll angeblich helfen, Tunesien in die Zukunft zu führen. In einem größeren Teil der Bevölkerung hatten seine Maßnahmen zunächst Rückhalt gefunden.

Schwer bewacht: Sicherheitskräfte vor dem Gebäude des Obersten Justizrates, Februar 2022Bild: Fethi Belaid/AFP via Getty Images

Teils berechtigte Vorwürfe?

Auch mit seinem Vorgehen gegenüber dem Obersten Justizrat greife Saied einen im Lande weit verbreiteten Kritikpunkt auf, sagt Johannes Kadura, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis. "Vielen Richtern wird Verschleppung von Verfahren oder Parteilichkeit unterstellt. Da gibt es schon genug zu kritisieren. Allerdings hat der Präsident hier bislang keine ernstzunehmende Alternative oder Lösung angeboten."

Generell lasse Saied konstruktive Impulse vermissen, bemängelt der Experte aus Deutschland. Das gelte auch für die von ihm ernannte Regierung unter Nejla Bouden, der ersten Premierministerin des Landes. Kadura spricht von einer "Technokraten-Regierung", die "wie ein Durchführungsorgan des Präsidenten" anmute. "In der Summe handelt es sich um eine Schwächung der Institutionen."

Aufhebung demokratischer Prinzipien

Diese Schwächung dürfte Saied freilich bewusst in Kauf nehmen, meint der Politologe Anthony Dworkin vom Thinktank 'European Council on Foreign Relations': "Die angekündigte Auflösung des Justizrates passt zu seiner seit letztem Sommer sichtbaren Politik, immer mehr Macht in seinen eigenen Händen zu konzentrieren und jede ihm im Wege stehende Institution ins Abseits zu drängen." So sei seine jüngste Ankündigung zwar keine allzu große Überraschung. "Aber es ist natürlich ein sehr ernster Schritt, weil er die Unabhängigkeit der Justiz aufhebt, die doch einer der verbleibenden Bausteine oder Kernelemente der Demokratie in Tunesien ist. Er greift also eine Art Grundbestandteil des demokratischen Systems in Tunesien an", so Dworkin im DW-Gespräch.

Auf eigenmächtigem Kurs: Präsident Kais SaiedBild: Tunisian Presidency/AA/picture alliance

Ähnliche Kritik äußern auch Vertreter der tunesischen Justiz. Mit seiner Politik bilde Präsident Saied einen Staat im Staat, sagt etwa Mohamed Afif Jaidi, Berater am Kassationsgerichtshof in Tunis, gegenüber der DW. "Niemand weiß genau, welche Befugnisse er jetzt hat und wer sie kontrolliert. Wir haben den Rahmen der Rechtsstaatlichkeit einem De-facto-Staat überlassen."

Schwindende Zustimmung

Im Sommer, bei der Auflösung von Parlament und Regierung, hatte Saieds rigider Kurs noch in einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung große Zustimmung gefunden. Viele Tunesier sehen ihre Zukunftshoffnungen enttäuscht. Das Jahrzehnt nach der sogenannten Jasmin-Revolution im Jahr 2011 hat aus ihrer Sicht insbesondere die wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht gelöst. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei mehr als 17 Prozent, insbesondere bei jungen Menschen dürfte sie in Wahrheit noch um einiges höher liegen. Viele Menschen sehen kaum Perspektiven für sich. Doch auch das Zutrauen in Saieds einsame Entscheidungen scheint einer gewissen Ernüchterung zu weichen: So rief der Präsident die Bevölkerung auf, seine Politik durch öffentliche Kundgebungen zu unterstützen. Doch dem Ruf folgten nur sehr wenige Menschen. "Das deutet darauf hin, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung nicht mit Saieds anhaltender Machtausweitung einverstanden ist", urteilt Anthony Dworkin.

Kritische Stimmen

Stattdessen mehren sich auch in der Bevölkerung die kritischen Stimmen gegenüber dem Kurs des Präsidenten. Saied habe Tunesien in die Zeit vor der Revolution zurückversetzt, sagt etwa der Student und Aktivist Ahmed Troudi gegenüber der DW. "Er hat die Verfassung abgeschafft und die Macht in seine Hände gelegt." Das habe es so nicht einmal während der Diktatur gegeben.

Auch Ezzeddine Hazgui von der Organisation "Bürger gegen den Staatsstreich" geht mit dem Präsidenten hart ins Gericht: "Er hat sich auf Konfrontationen mit den meisten Institutionen eingelassen. Dies wird das Bewusstsein der Menschen für die Gefahr schärfen, die er für das Land darstellt".

"Wir sind Kais Saied": Anhänger des Präsidenten bei einer Kundgebung in Tunis, Dezember 2021Bild: Yassine Mahjoub/Maxppp/dpa/picture alliance

Riskanter Kurs

Doch noch scheint der Gegenwind nicht so groß, dass er dem Präsidenten gefährlich werden könnte. Das ideologische Spektrum seiner Opponenten reicht von den einflussreichen Islamisten der Ennahda-Partei bis hin zu linksliberalen Kräften. Bislang allerdings haben sich diese Kräfte nicht zusammengeschlossen, eine von der Ennahda organisierte Kundgebung gegen die Politik des Präsidenten vor einigen Wochen vermochte nur einige hundert Teilnehmer auf die Straße zu locken. "Tatsächlich ist die Opposition nach wie vor sehr gespalten, und es gibt auch keinen großen öffentlichen Aufschrei gegen ihn", urteilt Experte Dworkin.

Der könnte allerdings noch kommen - meint Johannes Kadura. Was die Bevölkerung von Saieds Politik halte, werde sich spätestens beim Verfassungsreferendum im Juli und bei den für Dezember geplanten Parlamentswahlen zeigen. "Saied muss fundamentale Probleme in den Griff bekommen", sagt der Experte der Friedrich-Ebert-Stiftung. "Wenn ihm das nicht gelingt, ist seine Zukunft sehr ungewiss."

Mitarbeit: Tarak Guizani, Tunis

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.