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PolitikNahost

Tunesien: Opposition gegen Machtergreifung des Präsidenten

Cathrin Schaer | Tarak Guizani
30. September 2021

Die jüngsten Entscheidungen von Präsident Kais Saied spalten Tunesien immer tiefer. Selbst ehemalige Verbündete kritisieren ihn inzwischen. Ob die Bevölkerung noch hinter ihrem Präsidenten steht, ist ungewiss.

Protestierende gegen Präsident Kais Said in Tunesien
Die kritischen Stimmen gegen den Präsidenten mehren sichBild: ZOUBEIR SOUISSI/REUTERS

Die Stimmung in Tunis kippt. Nachdem Präsident Kais Saied anfangs für seinen harten Kurs gelobt worden war, kritisieren immer mehr ehemalige Verbündete den Präsidenten seit einigen Tagen offen. 

Saied hatte am 25. Juli dieses Jahres das tunesische Parlament suspendiert, den amtierenden Premierminister Hichem Mechichi entlassen und sich selbst Notstandsbefugnisse erteilt, zunächst allerdings nur für 30 Tage. Per Dekret wollte er die wirtschaftlichen Turbulenzen, die COVID-19 Pandemie und den politischen Stillstand im Land auf schnellstem Wege in den Griff bekommen.

Im gleichen Zug hatte Saied ebenfalls zugesagt, den demokratischen Kurs beizubehalten, den das Land vor zehn Jahren eingeschlagen hat.

Doch offensichtlich tritt gerade genau das Gegenteil ein. Seit Juli hat der Präsident immer mehr Macht an sich gezogen. 

In der vergangenen Woche kündigte Saied seine nächsten Schritte auf Twitter an: Er werde Entscheidungen künftig einseitig per Dekret treffen und im Alleingang ein neues Kabinett auswählen.

Seinen Worten hat der Präsident am Mittwoch Taten folgen lassen: Er hat die Geologie-Professorin und leitende Mitarbeiterin im Bildungsministerium, Nejla Bouden, zur Ministerpräsidentin  ernannt. Zum ersten Mal in der Geschichte Tunesiens steht damit eine Frau an der Spitze der Regierung. Die 63-Jährige wurde von Saied beauftragt, "so schnell wie möglich" eine Regierung zu bilden.

Ihr politischer Spielraum dürfte jedoch begrenzt sein: Der Präsident hat nämlich ebenfalls angekündigt, einen von ihm selbst ernannten Ausschuss mit der Überarbeitung der 2014 hart erkämpften tunesischen Verfassung beauftragen. Er erklärte alle Teile der derzeitigen Verfassung, die seinen Befugnissen zuwiderlaufen, ab sofort für ungültig.

Geteilte Meinung

Dabei haben Kritiker seit Saieds Machtübernahme davor gewarnt, dass er ein potentieller Diktator sei und verfassungswidrig handle. Seine begeisterten Anhänger hielten jedoch dagegen und argumentierten, dass ein solcher Kurs notwendig sei, um den politischen Stillstand in Tunesien zu überwinden.

Zu Saieds Unterstützern gehörte im vergangenen Juli auch die größte und mächtigste Gewerkschaft des Landes, die Tunesische Allgemeine Arbeiterunion (UGTT). UGTT-Sprecher sahen mit Zuversicht auf Saieds politischen Kurs und befürworteten einen solch drastischen politischen Wandel.

Präsident Kais Saied (Mitte) verliert immer mehr politische UnterstützerBild: Yassine Gaidi/AA/picture alliance

Die UGTT hatte 2015 mit drei weiteren tunesischen Gruppen den Friedensnobelpreis erhalten, weil sie zwischen islamistischen und säkularen Politikern vermittelte und das erreichte, was das Nobelkomitee "einen alternativen friedlichen Prozess ... am Rande des Bürgerkriegs" nannte. Die Gewerkschaft hat rund eine Million Mitglieder und einen nicht unerheblichen politischen Einfluss.

Legitimität verloren

Doch seit letzter Woche sieht man die Dinge bei der UGTT anders. "Wir sind der Ansicht, dass der Präsident seine Legitimität verloren hat, weil er gegen die Verfassung verstößt", heißt es in einer Erklärung.

"Unsere Mitglieder haben stets politische Reformen gefordert", erklärte Samir Cheffi, stellvertretender Generalsekretär der Gewerkschaft, gegenüber der DW. Dies sei der Grund, warum die Gewerkschaft bislang Verständnis für die Maßnahmen des Präsidenten hatte. "Und auch, weil die Ereignisse im Juli widergespiegelt haben, was die Tunesier wollten, denn die Verzweiflung im Volk war überwältigend", so Cheffi.

Gleichzeitig erforderten Reformen einen partizipativen Weg. "Wir glauben, dass man alle tunesischen Kräfte in den Aufbau eines besseren Tunesiens einbinden muss, sofern sie nicht in Korruption oder Unterdrückung verwickelt sind. Das ist es, was wir unter einem partizipativen Ansatz verstehen", sagte er.

Und genau hier sieht Cheffi das Problem: Die angekündigte Schritte von Saied seien eben nicht partizipativ. Zudem ist die UGTT der Ansicht, dass in Tunesien "die Errungenschaften auf dem Gebiet der Menschenrechte, der Freiheiten und der Demokratie für immer unantastbar sind".

Putsch und gefährliche Schritte

Die UGTT steht mit ihrer neuen Haltung nicht allein da. Vier gemäßigte Parteien kritisieren den Präsidenten ebenfalls harsch: Attayar, Al Jouhmouri, Akef und Ettakatol. In einer gemeinsamen Erklärung forderten sie ein Ende des Putsches und bezeichneten Saieds jüngste Schritte als "gefährlich". Bemerkenswert ist, dass die Attayar-Partei vormals als Saied-nah galt.

Diese vier in der politischen Mitte angesiedelten Parteien haben sich außerdem der Saied-kritischen gemäßigten islamistischen Partei Ennahda angeschlossen, die die meisten Sitze im tunesischen Parlament hatte, bevor es von Saied aufgelöst wurde. Ennahda kann als größte politische Kraft Tunesiens beschrieben werden, und wird durchaus für den politischen Stillstand verantwortlich gemacht.

Allerdings sind im Zuge der aktuellen Krise über 130 Mitglieder aus der Ennahda-Partei ausgetreten. Sie beschuldigen die Parteiführung, nicht entschieden genug gegen Saied vorgegangen zu sein.

Auch Haykal Mekki, Vorsitzender der Echaab Partei, die Saied bislang unterstützt hat, hat vor kurzem Vorbehalte in einem Radiointerview geäußert. Der Ausnahmezustand könne noch sechs Monate andauern, so Mekki, aber seine Partei gebe Saied "keinen Blankoscheck".

Kritische Stimmen vereinen sich

"Bislang kamen die einzigen kritischen Stimmen von den Islamisten", sagte Riccardo Fabiani, Projektleiter für Nordafrika bei der Denkfabrik Crisis Group, der DW. "Die Tatsache, dass die UGTT den Präsidenten nun öffentlich kritisiert, ist eine bemerkenswerte Entwicklung."

Andererseits, so Fabiani weiter, habe es bislang noch keine größere Mobilisierung gegen Saied gegeben: "Wir konnten nicht beobachten, dass sich Akteure zusammenschließen und sagen, wir müssen jetzt etwas tun, wir müssen ihn stoppen."

Es sei zudem schwer einzuschätzen, ob der wachsende Chor kritischer Stimmen auch wirklich die Mehrheitsmeinung der Tunesier repräsentiert, so Fabiani. Und selbst wenn dies der Fall sein sollte, sei es ebenso schwer zu sagen, welche Maßnahmen die Gegner des Präsidenten ergreifen würden. "Würden sie zum Beispiel die Armee bitten, einzugreifen?", fragt Fabiani, und fügt hinzu: "Wir wissen nicht, was die Armee von all dem hält."

Demonstranten pro und contra den Präsidenten trafen auch an diesem Wochenende wieder aufeinanderBild: Yassine Mahjoub/Maxppp/dpa/picture alliance

Die Meinung des Volkes ist noch unklar

Vorerst müssen die Beobachter abwarten. "Die große Frage ist, wie die Mehrheit der Tunesier denkt", sagt Fabiani. "Die Antwort darauf lässt sich vielleicht erahnen, wenn man sich ansieht, wie die Menschen auf die jüngsten Demonstrationen reagieren", sagt er und bezieht sich dabei auf kleinere Proteste, die auch am vergangenen Wochenende wieder stattgefunden haben. In mehreren tunesischen Städten, darunter auch in der Hauptstadt Tunis, waren einige Demonstranten gegen Saieds jüngste Aktionen auf die Straße gegangen, andere wollten sie feiern. "Meine Kollegen in Tunesien sagen, dass die meisten der jüngsten Proteste mit vergleichsweise großer Gleichgültigkeit aufgenommen wurden", so Fabiani abschließend.

Auch die französischsprachige Lokalzeitung La Presse berichtete, dass die Avenue Habib Bourguiba, die Hauptstraße in Tunis, am Sonntag von Demonstranten in zwei Teile geteilt worden war. Auf der einen Seite standen diejenigen, die den Präsidenten eines Staatsstreichs beschuldigten, auf der anderen die Demonstranten, die den Mann feierten, der ihrer Meinung nach das Land von "Gaunern" befreit.

"Aber wer spricht wirklich für das tunesische Volk?", kommentierte Karim Ben Saied von La Presse und schlussfolgerte: Niemand weiß es wirklich und die einzige Möglichkeit, dies herauszufinden, wäre, so bald wie möglich Wahlen abzuhalten.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert. 

 

 

Tarak Guizani Freier Korrespondent Tunesien
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