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PolitikNahost

Tunesien: Präsident will seine Macht ausbauen

21. Juli 2022

In Tunesien sind die Bürger aufgerufen, einer Verfassung zuzustimmen, die dem Präsidenten mehr Befugnisse zubilligt. Kritiker befürchten das Ende der Gewaltenteilung im bisherigen Vorzeigeland des "Arabischen Frühlings".

Porträtbild des tunesischen Präsidenten Kais Saied
Der tunesische Präsident Kais SaiedBild: Muhammad Hamed/REUTERS

Anfang kommender Woche ist es soweit: Dann lässt der tunesische Präsident Kais Saied die Tunesier über die neue Verfassung abstimmen, die er in den vergangenen Monaten hat ausarbeiten lassen. Der entsprechende Entwurf, den er vor einigen Tagen im Amtsblatt des Landes präsentierte, gibt Auskunft über deren Tendenz. Insgesamt stärkt sie sehr deutlich die Macht des Präsidenten und schwächt die Gewaltenteilung in einem Ausmaß, das Kritikern Sorgen macht.

Damit setzt Saied offenkundig den Kurs fort, den er seit Sommer vergangenen Jahres eingeschlagen hat. Im Juli 2021 rief er den Notstand aus und entließ Regierungschef Hichem Mechichi. Im Februar 2022 löste er dann den Obersten Justizrat auf, Ende März das zuvor bereits suspendierte Parlament, und Anfang Juni entließ er 57 Richter und Staatsanwälte

Legitimieren soll sich der Entwurf für die neue Verfassung unter anderem durch den Umstand, dass die Bevölkerung zwischen Januar und März dieses Jahres online Vorschläge für den Verfassungstext einreichen konnte. Allerdings nahmen nur ca. 530.000 Tunesier daran teil - bei insgesamt 9 Millionen Wahlberechtigten.

Demonstration von Richtern und Oppositionsanhängern gegen die Auflösung des Obersten Justizrats, Februar 2022Bild: Jdidi Wassim/ZUMAPRESS/picture alliance

Kritik und Zustimmung

Trotz vielerlei Sorge vor einer zunehmenden Alleinherrschaft des Präsidenten im bisherigen Vorzeigeland des "Arabischen Frühlings": Der Entwurf komme bei einem Teil der Bevölkerung durchaus gut an, sagt Heike Löschmann, Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis. Bemerkenswert seien allerdings die enormen Unterschiede zwischen Stadt und Land, ebenso zwischen einzelnen Regionen. "Landesweit betrachten die Menschen die Institutionen als korrupt, aber insbesondere im ländlichen Raum hoffen sie, dass der Präsident dagegen vorgeht. Saieds öffentliche Reden, in denen er für die Verfassung wirbt, kommen auch deshalb so gut an, weil sie die Missstände des Landes teils treffend umreißen", so die Expertin. Skeptisch seien hingegen eher die Bewohner der Großstädte, allen voran die von Tunis: "Sie sind weniger mit der Rhetorik des starken Mannes zu gewinnen und befürchten eine Aushöhlung des Rechtsstaats." Bei ihnen herrsche auch Sorge vor einem Verlust demokratischer Freiheiten.

Ablehnend äußert sich etwa die Menschen- und Frauenrechtsaktivistin Bochra Belhaj Hmida. "Natürlich bedeutet diese Verfassung eine Bedrohung für die Demokratie", sagt sie im DW-Gespräch. "Wir sehen die gesamten Errungenschaften der Revolution in Frage gestellt - etwa die Rede- und Vereinsfreiheit." Auf dem Spiel stehe auch der Kampf für eine unabhängige Justiz und für die Menschenrechte.

"Vollständige Kontrolle über Staatsapparat"

Tatsächlich birgt der Entwurf - Ende Mai hatte der Jurist Saied ihn von einer juristischen Expertengruppe entgegengenommen, dann aber eigenmächtig noch einmal überarbeitet - nun Elemente, die Demokratie und Rechtstaatlichkeit unter Umständen außer Kraft setzen könnten.

So offenbarten diejenigen Artikel, die die Vorrechte des Präsidenten definieren, eine "vollständige Kontrolle über den Staatsapparat", urteilen die Politologen Julius Dihstelhoff und Mounir Mrad vom Think Tank "Merian Centre for Advances Studies in the Maghreb (MECAM) in einer Analyse für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Diese Tendenz zeigt sich an mehreren Einzelaspekten. So etwa hat der Präsident an seiner Seite zwar einen Regierungschef. Dieser wird allerdings vom Präsidenten ernannt und ist nicht auf das Vertrauen des Parlaments angewiesen. Außerdem sollen regionale Kommissionen und nicht mehr die vom Präsidenten unter Dauerkritik genommenen politischen Parteien künftig die Parlamentsabgeordneten stellen. Auch die Justiz verliert klar an Unabhängigkeit: Der  Präsident ernennt die neun Mitglieder des Verfassungsgerichts und kontrolliert die Richter.

Armut in Tunesien: Viele Bürger hoffen auf Lösung ihrer Probleme, notfalls auch per DekretBild: Chedly Ben Ibrahim/NurPhoto/picture alliance

Allmacht durch die Hintertür

Umstritten ist auch Artikel 55 der neuen Verfassung. Dort heißt es, die in der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten dürfen nur durch ein Gesetz oder eine "von einer demokratischen Ordnung auferlegten Notwendigkeit" eingeschränkt werden.

Diese Formulierung sei problematisch, bemängelt Tunesien-Expertin Heike Löschmann. "Denn der Präsident kann jederzeit neue Gesetze dekretieren und die gesetzlichen Rahmenbedingungen damit ändern. Fachleute und informierte Bürger fürchten nun, dass die Gesetzgebung auf diese Weise zu weiten Teilen dem politischen Willen des Präsidenten unterworfen ist."

Die Verfassung setze die Gewaltenteilung außer Kraft - urteilt die Aktivistin Bochra Belhaj Hmida und formuliert ihre Kritik noch schärfer: "Alle Befugnisse liegen in der Hand des Präsidenten; er kontrolliert alles. Es handelt sich um ein durch die Verfassung legitimiertes 'präsidentialistisches' Regime."

Wiedererstarken der Religion?

Der Entwurf wartet mit weiteren strittigen Formulierungen auf - etwa der, dass Tunesien "Teil der islamischen Gemeinschaft" sei und der Staat "auf ein Erreichen der Ziele des Islam" hinarbeiten müsse. Eingeschränkt wird dies nur durch die Formulierung, diese Bemühungen müssten innerhalb demokratischer Vorgaben erfolgen.

Möglicherweise schielt der Präsident hier bewusst auf Zustimmung und Sympathien innerhalb der Anhängerschaft der als gemäßigt islamistisch geltenden Ennahda-Partei, deren Einfluss er bisher konsequent bekämpft hat. "Saied hat die ganze Zeit den Eindruck erweckt, er sei anti-islamistisch", sagt Heike Löschmann von der Böll-Stiftung in Tunis dazu. "Das haben auch viele säkular eingestellte Bürger geglaubt. Nun aber wird der Staat zum Wächter über die Umsetzung der islamischen Prinzipien. Das ist ein gefährliches identitätspolitisches Projekt."

In der Summe würde sich durch die neue Verfassung ein ganz neues Herrschaftsmodell durchsetzen, schreiben Dihstelhoff und Mrad in ihrer Analyse - eines, "welches den Rahmen für die Rückkehr eines autoritären Präsidialsystems setzt. Es erinnert an die Diktaturen aus der tunesischen Vergangenheit."

Kundgebung gegen die Politik von Kais Saied in Tunis, Mai 2022Bild: Zoubeir Souissi/REUTERS

Sorgen in Deutschland und der EU

In der Europäischen Union und in Deutschland dominiere auch deshalb ein "Sorgendiskurs" um Tunesien, sagt Heike Löschmann. Deutschland und die EU hätten ein Interesse daran, Tunesien zwischen Algerien und Libyen stabil zu halten, nicht zuletzt mit Blick auf die Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer. Zudem galt Tunesien bisher als einziges Land, in dem der "Arabische Frühling" nicht gescheitert ist und in dem sich Demokratie und Pluralismus etabliert haben.

Doch wie lange noch? Das Problem der europäischen Politiker umreißt Expertin Löschmann so: "Sie können oft nicht konsequent handeln, denn sie haben ja ihrerseits Interessen in Tunesien." Das wisse natürlich auch der Präsident ganz genau. Und Kais Saied, so Löschmann, verbiete sich "ohnehin jegliche Einmischung von außen, ebenso wie das übrige politische Establishment in Tunesien".

Mitarbeit: Tarak Guizani, Tunis.

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika