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Politik

Tunesiens enttäuschte Hoffnungen

Moncef Slimi kk
17. Dezember 2020

Vor zehn Jahren verbrannte sich ein junger Tunesier aus Protest gegen Polizeiwillkür. Doch der "Arabische Frühling", der daraufhin losbrach, hat nicht nur in Tunesien weit weniger zum Besseren gewendet als erhofft.

Symbolbild Arabischer Frühling Tunesien
Bild: picture-alliance/AP Photo/Salah Habibi

Zehn Jahre ist es her, dass sich in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi aus Protest gegen eine willkürliche Drangsalierung durch Polizisten selbst verbrannte. Zehn Jahre, die aus Sicht der tunesischen Bürger längst nicht so gelaufen sind, wie sie es sich gewünscht hätten. Entsprechend ist der Jahrestag durch eine eigenartige Atmosphäre von Enttäuschung und Protest geprägt, die nicht allein durch die schlechte soziale und wirtschaftliche Lage erklärt werden kann.

Bouazizis Selbstverbrennung hatte Folgen, die niemand absehen konnte. Über die Proteste, die nach dem grausamen Akt losbrachen, stürzte der diktatorisch regierende Präsident Zine el-Abidine Ben Ali. Mit seiner Familie setzte er sich nach Saudi-Arabien ab, wo er 2019 starb. Nach ihm stürzten die Gewaltherrscher in anderen arabischen Ländern - so in Syrien, im Jemen, in Ägypten und in Libyen. Doch was folgte, waren oft nicht Freiheit und Demokratie, sondern noch stärkere Unterdrückung und offene Gewalt bis hin zum Bürgerkrieg.

Auch in Tunesien erfüllten sich die mit dem Aufstand verbundenen Hoffnungen nicht. So steht in der Habib-Bourguiba-Straße im Zentrum von Sidi Bouzid zwar ein Denkmal für Mohammed Bouazizi. Doch allzu oft eilen die Tunesier achtlos daran vorbei - sie haben andere Sorgen.

Erinnerung: Denkmal für den jungen Gemüsehändler Mohammed Bouzizi in Sidi BouzidBild: Reese Erlich

Gebrochenes Geselschaftsgefüge

Das gesellschaftliche Gefüge Tunesiens sei heute vielfach gebrochen, sagt der - mit Mohammed Bouazizi nicht verwandte - Blogger und Historiker Amine Bouazizi. Die Anhänger des alten Regimes und die der Revolution stünden einander nicht in einer scharfen Front gegenüber, vielmehr überlappten sich diese Gruppen. Es gebe zahlreiche Grauzonen und Übergänge.

Die komplexe Situation spiegelt sich auch in Sidi Bouzaid. Viele Bürger der Stadt empfinden eine starke Verbitterung - nicht allein wegen des nach zehn Jahren weiter anhaltenden sozialen und wirtschaftlichen Drucks, sondern auch, weil sie den Eindruck haben, dass alle Opfer - auch die an Menschenleben - vergeblich waren. Es scheint ihnen, als machte der Fortschritt seit über einem halben Jahrhundert um ihre Stadt wie um das gesamte Land einen großen Bogen. Der Kampf um die Unabhängigkeit (1956) und die anschließende Diktatur scheinen keinerlei Früchte gebracht zu haben. Diese Empfindungen teilen sie mit vielen Bürgern auch der anderen Landesteile.

Proteste und Sit-ins

So kommt es an vielen Orten immer wieder zu Protesten und Sit-ins, in denen sich Gegner der postrevolutionären Regierungen aus allen nur denkbaren politischen Richtungen zusammenfinden - unter ihnen auch Anhänger des alten Regimes. Tausende junger Menschen fliehen aus dem verarmten Landesinneren - dort liegt die Arbeitslosigkeit teils deutlich über dem nationalen Schnitt von rund 16 Prozent - in die Vororte der Hauptstadt Tunis und in die großen Küstenstädte wie Sfax oder Sousse. Dort warten sie auf eine Gelegenheit, an Bord eines Bootes das Meer zwischen Tunesien und Sizilien zu überqueren. Rund 12.000 Tunesier haben laut tunesischen Nichtregierungsorganisationen in den letzten elf Monaten die Überfahrt gewagt. Zugleich beklagt das Land hunderte Vermisste - Menschen also, die den Versuch der Überfahrt aller Wahrscheinlichkeit nach mit ihrem Leben bezahlt haben.

Auch die Familie von Mohammed Bouazizi - seine Mutter und einige seiner Brüder - hat sich bereits vor Jahren entschlossen, nach Kanada auszuwandern. So wollte sie den Schikanen entgehen, denen sie sich nach dem Selbstmord ihres berühmten Sohnes ausgesetzt sah.

Offener Unmut: Protestierende Arbeitslose in Tunis im Jahr 2017Bild: picture-alliance/Anadolu Agency/Y. Gaidi

Eine zögerliche Regierung

Wenige Tage vor dem Jahrestag am 17. Dezember traf sich Hicham el-Mechichi, der Chef der aus vielen Fraktionen zusammengesetzten Regierungskoalition, mit Vertretern der Zivilgesellschaft. Die Medien des Landes zweifelten allerdings daran, ob die Regierung tatsächlich willens und in der Lage sei, die großen Herausforderungen der kommenden Jahre anzupacken. Derzeit sieht sie sich einer erheblichen Protestbewegung gegenüber. Einige der Kundgebungen arteten in Gewalt aus. So kam es zu Straßenblockaden, auch kam die Produktion in einigen nationalen Schlüsselindustrien in Teilen zum Erliegen - so etwa die Erdöl- und Gasanlagen in der Region Kamour im äußersten Süden des Landes. Auch die Phosphatminen im westlichen Bundesstaat Gafsa, direkt an der Grenze zu Algerien, mussten ihren Betrieb zeitweise einstellen.

Diese und weitere Proteste in strategischen Wirtschaftssektoren setzten der durch die Corona-Pandemie ohnehin bereits geschwächten Wirtschaft des Landes zusätzlich zu.

Berechnungen der tunesischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds zufolge wird Tunesien dieses Jahr einen Wachstumsrückgang von sieben Prozent zu verzeichnen haben - der schlechteste Wert seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956. Dies zwingt die Regierung dazu, sich auf die Unterstützung der europäischen Partner zu verlassen und zusätzliche Kredite aufzunehmen.

Gefordert an vielen Fronten: der tunesische Premier Hicham el-MechichiBild: picture-alliance/AP/F. Belaid

Sorge um politische Kultur

Zwar betont die politische Elite weiterhin, an der Demokratie festhalten zu wollen. Doch deutet manches darauf hin, dass die Autorität des Staates zumindest in jenen Orten und Regionen schwindet, in denen die Proteste und Formen des zivilen Ungehorsams besonders entschieden ausfielen.

Angesichts der zunehmenden Spannungen im Land wächst die Sorge um die nationale Sicherheit und Stabilität. Läuft es schlecht, fürchten nicht wenige Tunesier, könnte sich dies auch auf die immer noch im Entstehen begriffene Demokratie, die Meinungsfreiheit und die Tätigkeit von Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen auswirken - also genau jene Entwicklungen, die als die größten Errungenschaften des Revolutionsjahres 2011 gelten.