Tunesiens Premierministerin: Fortschritt oder Alibi?
1. Oktober 2021Geologieprofessorin Nejla Bouden Romdhane ist nun Tunesiens Ministerpräsidentin. Bislang leitete sie ein Hochschulreformprojekt und war in führender Position im Bildungsministerium tätig. Nun ist die 63-Jährige in der arabischen Welt die erste Frau an der Spitze einer Regierung.
Seither fragen sich die einen hoffnungsvoll, ob Bouden zum Symbol für Fortschritt und starke tunesische Frauen werden könnte. Andere befürchten, dass der tunesische Präsident Kais Saied die begrenzte politische Erfahrung der neuen Premierministerin ausnutzen könnte.
Lina Khatib, Leiterin des Programms für den Nahen Osten und Nordafrika bei der Londoner Denkfabrik Chatham House, ist überzeugt, dass die Wahl einer Frau ein strategischer Schachzug des Präsidenten war. Es sei aber noch nicht klar, ob Saied damit die Öffentlichkeit beschwichtigen und seine Macht festigen will. Oder ob es darum geht, "einem kompetenten Gesicht außerhalb der politischen Parteien eine Plattform zu geben, um die Zersplitterung und Schwäche zu überwinden, die Tunesiens frühere Regierungen beeinträchtigt haben", sagte Khatib der DW.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen in Tunesien lassen Beobachtern wenig Hoffnung: Erst neulich hatte Präsident Saied angekündigt, ab jetzt per Notstandsdekret zu regieren, ein neues Kabinett auszuwählen und mit der Überarbeitung der 2014 mühsam errungenen tunesischen Verfassung durch einen von ihm selbst ernannten Ausschuss zu beginnen.
Durch das Notstandsdekret hat er die Befugnis, die neue Premierministerin direkt zu ernennen. Gleichzeitig ist Saieds Einfluss durch das Dekret so stark, dass er Boudens politischen Spielraum einschränken kann.
"Indem Saied eine eher unbekannte Geologin gewählt hat, die noch nie etwas mit Korruption zu tun hatte, weckt er Hoffnung im Kampf gegen Korruption", sagt Hoda Salah, Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Skepsis sei aber angebracht, da es Nejla Bouden eindeutig an Erfahrung im politischen Bereich fehle.
Gemischte Gefühle
"Die Entscheidung verdient Lob", schreibt Tunesiens ehemaliger Menschenrechtsminister Samir Dilou auf Facebook, um gleich rhetorisch zu fragen, ob Boudens Ernennung wirklich ein historischer Moment sei. "Leider nicht", so Dilous Antwort. Denn die Symbolik, einer Frau dieses "hohe" Amt zu geben, komme zeitgleich mit der Aufhebung der Verfassung durch Saied, der nun ein Präsident mit "pharaonischen Befugnissen" sei.
Frauenrechtlerin Fida Hammami, Koordinatorin für Nahost und Nordafrika bei der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, wird noch deutlicher: Die Botschaft sei doch, "eine Frau bekommt den Job nur, wenn er nicht mehr wichtig ist", twitterte Hammami.
Saied habe Bouden "als Alibi" ernannt, nachdem er am 25. Juli dasNotstandsdekret erlassen und ihren Amtsvorgänger Hichem Mechichi rausgeworfen hatte. Der Wechsel zu einer Frau an der Regierungsspitze sei "keine symbolische Geste, sondern eine Farce", so Hammami.
Zwischen Hoffen und Bangen
Seit ihrer Ernennunghat man von Nejla Bouden nicht viel gehört. Auf ihrem Twitteraccount stehen aktuell nur zwei Tweets, von denen einer lautet: "Ich fühle mich geehrt, die erste Frau im Amt des Premierministers in Tunesien zu sein. Ich werde daran arbeiten, eine kohärente Regierung zu bilden, um die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes zu bewältigen, die Korruption zu bekämpfen und die Forderungen der Tunesier nach ihren Grundrechten auf Infrastruktur, ein Gesundheitssystem und Bildung zu erfüllen."
In der Videobotschaft, die Präsident Saied zur Bekanntgabe der neuen Premierministerin veröffentlichte, äußerte sie sich nicht.
In Tunesiens Hauptstadt Tunis sind Frauen unterschiedlicher Meinung über ihre neue Premierministerin. "Ich bin sehr glücklich über diese Ernennung, allein schon aus feministischer Solidarität. Es ist positiv, dass eine Frau in diesem Amt ist, bislang war diese Position Männern vorbehalten", sagte Olfa Karamosli der DW. Sie ist eine in Tunis lebende Angestellte.
Die Rentnerin Kawthar Al Hammami ist dagegen der Meinung, dass es besser gewesen wäre, wenn der Präsident einen starken Mann mit Selbstvertrauen und Integrität ernannt hätte, der die Bedürfnisse des Volkes kennt und die Fähigkeit hat, die Regierung zu führen: "Denn Frauen sind immer in einer Position der Schwäche, und Bouden wird sich gegen manche Leute nicht durchsetzen können."
Fortschritte bei Frauenrechten nach "Arabischem Frühling"
Nejla Bouden ist die Zehnte im Premierministeramt seit dem Aufstand im Jahr 2011. Damals war der langjährige Präsident Zine El Abidine Ben Ali gestürzt worden - der Anfang des "Arabischen Frühlings".
Seitdem hat sich in Tunesien in Sachen Gleichberechtigung und Frauenrechte viel getan: Inzwischen haben Frauen volle rechtliche Gleichstellung, die Polygamie ist abgeschafft, Frauen haben das Recht, Nicht-Muslime zu heiraten und sind in der Wahl der Mode nicht mehr eingeschränkt. Präsident Saied ist allerdings nicht als ausgesprochener Verfechter von Frauenrechten bekannt. Kürzlich lehnte er einen Gesetzentwurf ab, der Frauen ein gleichberechtigtes Erbrecht einräumte.
"Saied ist ein sehr konservativer Politiker, der sich gegen die LGBT-Community, die Menschenrechte und Jugendrechte ausspricht", sagt Hoda Salah von der Uni Frankfurt. Trotz aller Skepsis ist es der Politikwissenschaftlerin aber wichtig zu betonen, dass es für die arabischen Frauen insgesamt eine großartige Entwicklung ist, dass eine Frau die neue tunesische Premierministerin ist.
Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert und stammt vom 1.Oktober 2021.