1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Tunesischer Präsident Saied löst Obersten Justizrat auf

6. Februar 2022

Das Richtergremium sollte die Unabhängigkeit der Justiz sichern. Nun muss es der autoritären Politik von Staatschef Kais Saied weichen. Der Kahlschlag der demokratischen Entwicklung in Tunesien dürfte anhalten.

Tunesiens Präsident Kais Saied
Verkehrt Präsident Kais Saied die Errungenschaften der Revolution von 2011 in Tunesien vollends in ihr Gegenteil? Bild: Fethi Belaid/AFP/Getty Images

Der tunesische Präsident Kais Saied hat den Obersten Justizrat (CSM) in seinem Land aufgelöst. "Der CSM gehört ab jetzt der Vergangenheit an", sagte Saied in einem in der Nacht verbreiteten Video. Darin wirft der Staatschef dem Gremium, das für die Ernennung der Richter zuständig ist, Parteilichkeit, Korruption und die Verschleppung bestimmter Verfahren vor. 

Konkret nennt Saied die Ermittlungen zur Ermordung linker Aktivisten im Jahr 2013. "Bestimmte Richter" im Justizrat hätten die entsprechenden Verfahren manipuliert. An diesem Sonntag sind in der Hauptstadt Tunis Gedenkveranstaltungen für die ermordeten Aktivisten Chokri Belaid und Mohamed Brahmi angesetzt. "Dies ist nicht der erste Prozess, bei dem sie seit Jahren versuchen, die Wahrheit zu verbergen", sagte Saied in dem Video weiter. Im CSM würden Posten verkauft und nach Parteizugehörigkeit vergeben. "Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Geld einige Richter erhalten haben, Milliarden und Milliarden." Die Richter gehörten selbst auf die Anklagebank.

Der erst 2016 gegründete Oberste Justizrat sollte die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Beobachtern zufolge zielt die Auflösung des Gremiums insbesondere auf die moderat islamistische Ennahdha-Partei ab, die in den vergangenen Jahren großen Einfluss auf die tunesische Politik gehabt hatte. 

Regierung und Parlament schon entmachtet

Mit der Auflösung setzt Saied ein weiteres Staatsorgan außer Kraft. Im Juli 2021 hatte der Präsident bereits die Regierung und das Parlament in Tunesien entmachtet, seitdem regiert der 63-Jährige per Dekret. Dieses Vorgehen rechtfertigte Saied mit der Notwendigkeit, einen politischen und wirtschaftlichen Stillstand in dem nordafrikanischen Land überwinden und die Coronavirus-Pandemie in den Griff bekommen zu wollen. Seine Gegner werfen ihm dagegen einen Putsch vor, weil er die Macht immer stärker an sich reißt und den Dialog mit allen politischen Parteien ablehnt. Sie fürchten um die demokratischen Errungenschaften, die sie mit der Revolution von 2011, dem sogenannten Arabischen Frühling, erlangten.

Ministerpräsidentin Najla Bouden Romdhane betrachten Kritiker nur als eine Marionette des StaatschefsBild: Tunisian Presidency/REUTERS

Die seit Oktober amtierende Premierministerin Najla Bouden Romdhane ist zwar die erste Frau an der Spitze einer Regierung in der arabischen Welt. Doch inzwischen sehen sich Kritiker in ihren Befürchtungen bestätigt, dass Saied sie vor allem als ein Aushängeschild nutzt und ihre Nominierung über den Symbolwert hinaus wenig Bedeutung hat. Mit größeren politischen Aktivitäten jedenfalls ist Bouden Romdhane bislang nicht in Erscheinung getreten.

Protest gegen "die entstehende Diktatur"

Im vergangenen Monat strebte die Ennahdha als größte tunesische Oppositionspartei eine Machtprobe mit dem Präsidenten an, indem sie trotz eines Versammlungsverbots zu Kundgebungen aufrief. Die Partei erklärte, sie wolle gegen "die entstehende Diktatur" demonstrieren. Bei den Protesten ging die Polizei gewaltsam mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen Teilnehmer vor, ein Mann kam dabei ums Leben.

Mitte Januar gerieten Saied-kritische Demonstranten und die Polizei in der Hauptstadt Tunis heftig aneinander Bild: Yassine Gaidi/AA/picture alliance

Bereits im November vergangenen Jahres hatten Tausende Menschen gegen den Präsidenten demonstriert. Sie forderten die Wiederaufnahme des parlamentarischen Betriebs und die Wiederherstellung der Demokratie. Saied will im Juli über eine Verfassungsreform abstimmen lassen und im Dezember Parlamentswahlen anberaumen.

Tunesien sieht sich mit einer schweren Wirtschaftskrise konfrontiert. Nur mit Mühe kann das Land noch die Beamtengehälter zahlen. Immer wieder kommt es zu Lieferengpässen bei lebensnotwendigen Medikamenten, weil die Ausstände der Zentralapotheke so hoch sind, dass internationale Pharmafirmen nur noch gegen Vorkasse liefern. Das nordafrikanische Land mit seinen zwölf Millionen Einwohnern braucht dringend internationale Finanzhilfen. Doch die erhoffte Unterstützung, vor allem aus den Golfstaaten, ist bisher ausgeblieben. Nun verhandelt die Regierung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF).

sti/kle (rtr, afp, epd)