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Konflikte

Aktuell: Cherson wieder unter ukrainischer Kontrolle

11. November 2022

Nach monatelanger Besatzung hat die russische Armee die strategisch wichtige Stadt verlassen. Die Bevölkerung in Cherson begrüßt jubelnd die einrückenden ukrainischen Soldaten. Aktuelle Nachrichten im Überblick.

Ukraine Cherson | Jubel bei Bewohnern nach Befreiung
Bewohner von Cherson ziehen singend an Autos mit ukrainischen Soldaten vorbeiBild: REUTERS

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Ukrainische Armee zieht nach russischem Rückzug in Cherson ein
  • Moskau: Alle Einheiten nun auf linkem Dnipro-Ufer
  • Selenskyj: Dutzende Orte wurden zurückerobert
  • USA stellen weitere Militärhilfe für Ukraine bereit
  • UN sprechen mit Russland über Verlängerung des Getreideabkommens

 

Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der südukrainischen Großstadt Cherson haben die verbliebenen Einwohner mit ukrainischen Flaggen und Hupkonzerten gefeiert. Bilder zeigten, wie die blau-gelbe Fahne der Ukraine wieder auf dem Gebäude der örtlichen Gebietsverwaltung gehisst wurde. Vorrückende ukrainische Soldaten wurden von den Menschen enthusiastisch mit Umarmungen und Beifall begrüßt. 

"Cherson kehrt unter die Kontrolle der Ukraine zurück", erklärte das Verteidigungsministerium in Kiew und rief verbliebene russische Soldaten dazu auf, "sich augenblicklich zu ergeben". Die Rückzugsrouten der "russischen Invasoren" seien unter Feuer der ukrainischen Armee, hieß es weiter. "Jeder russische Soldat, der Widerstand leistet wird eliminiert." Wer sich ergebe, werde jedoch am Leben gelassen, erklärte das Ministerium.

Demonstrative Freude auch in den befreiten Ortschaften nahe der Großstadt ChersonBild: VALENTYN OGIRENKO/REUTERS

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba nannte den russischen Rückzug einen "weiteren wichtigen Sieg" für die Ukraine. Die jüngsten Entwicklungen bewiesen: "Was auch immer Russland sagt oder tut - die Ukraine wird gewinnen", schrieb Kuleba in Online-Diensten.

Russen zerstören Heizanlagen, Funkmasten und Brücken

Bei ihrem Abzug aus Cherson haben russische Truppen laut Medienberichten die Stadt verwüstet. Neben dem Fernsehzentrum seien unter anderem Fernheizungsanlagen und Funkmasten gesprengt worden, berichtete die "Ukrajinska Prawda". Zudem sei der Strom komplett ausgefallen, ebenso wie das Internet. Bereits in den vergangenen Tagen waren mehrere Brücken über den Fluss Dnipro gesprengt worden.

Darunter ist auch eine strategisch wichtige Brücke in der Nähe der Stadt Cherson. Sie sei die einzige nahegelegene Straßenverbindung aus Cherson über den Dnipro zum russisch kontrollierten Ostufer des Flusses gewesen, meldet die ukrainische Rundfunkanstalt Suspilne unter Berufung auf Anwohner. Die nächste Flussquerung für Fahrzeuge sei mehr als 70 Kilometer von Cherson entfernt. Der Sender veröffentlichte ein Foto, auf dem zu sehen ist, dass ein ganzer Abschnitt der Brücke fehlt. 

Zerstört, die Antonowski-Brücke über den Fluss DniproBild: SNA/IMAGO

Russland meldet vollständigen Abzug aus Cherson

Die russische Armee hat nach eigenen Angaben ihren Rückzug aus dem Norden der ukrainischen Region Cherson abgeschlossen. Um 05.00 Uhr (04.00 Uhr MEZ) sei "der Transfer russischer Soldaten ans linke beziehungsweise östliche Ufer des Flusses Dnipro beendet" gewesen, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau in einer in Online-Diensten veröffentlichten Erklärung mit. "Kein einziges Teil militärischer Ausrüstung und Waffen" seien auf der anderen Flussseite zurückgelassen worden, hieß es darin.

Ein zerstörter russischer Panzer nahe der Ortschaft Ivanivka in der Region ChersonBild: Celestino Arce/NurPhoto/picture alliance

Moskau sieht gleichwohl das ukrainische Gebiet Cherson auch nach dem Abzug seiner Truppen weiter als russisches Staatsgebiet an. Das Gebiet Cherson bleibe Teil der Russischen Föderation, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. "Dieser Status ist per Gesetz bestimmt und gefestigt. Hier gibt es keine Änderungen und kann es keine geben", sagte Peskow.

Dmitri Peskow, der Sprecher von Kremlherrscher Wladimir PutinBild: Sefa Karacan/AA/picture alliance

Russland hatte am Mittwoch den Truppenabzug aus der Gebietshauptstadt Cherson angekündigt, weil die Versorgung der eigenen Soldaten - etwa durch nicht mehr nutzbare Brücken - unmöglich war. Seither melden die ukrainischen Streitkräfte ein schrittweises Vorrücken in der Region. Mehrere Ortschaften wurden demnach wieder befreit. Nach dem Scheitern des Vormarschs auf Kiew und dem Rückzug bei Charkiw gilt dies als weitere militärische Niederlage Russlands.

Cherson war das erste größere urbane Zentrum, das die russischen Streitkräfte seit Beginn des von Moskau "militärische Spezial-Operation" genannten Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar einnehmen konnten. Es war zugleich die einzige russisch kontrollierte Regionalhauptstadt in der Ukraine.

Selenskyj: Dutzende Orte wurden zurückerobert

Ukrainische Truppen haben nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj schon etliche Ortschaften in der Region Cherson befreit. "Die Zahl der ukrainischen Flaggen, die im Rahmen der laufenden Verteidigungsoperation an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren, beträgt bereits Dutzende", berichtete der Staatschef in einer neuen Videobotschaft am Donnerstagabend.

Zugleich warnte Selenskyj vor Gefahren in befreiten Gebieten: "Die erste und grundlegende Aufgabe ist die Minenräumung", sagte er. Die Besatzer ließen Tausende Blindgänger und Munition zurück. "Ich habe oft Schätzungen gehört, dass die Räumung der Ukraine von russischen Minen Jahrzehnte dauern wird." Nach seinen Erkenntnissen seien noch rund 170.000 Quadratkilometer des Landes minenverseucht.

Selenskyj wies darauf hin, dass die aktuellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte "durch Monate brutalen Kampfes" erreicht worden seien. "Es ist nicht der Feind, der geht - es sind die Ukrainer, die die Besatzer verjagen", sagte Selenskyj. "Und wir müssen den ganzen Weg gehen - auf dem Schlachtfeld und in der Diplomatie - damit überall in unserem Land, entlang unserer gesamten international anerkannten Grenze, unsere Flaggen - ukrainische Flaggen - zu sehen sind. Und keine feindlichen Trikoloren mehr."

Tote bei russischem Angriff auf Mykolajiw

Bei einem russischen Angriff auf ein Wohnhaus in der südukrainischen Stadt Mykolajiw sind ukrainischen Angaben zufolge in der Nacht zum Freitag mindestens sechs Menschen getötet worden. Die vorläufige Opferzahl nannte Gouverneur Vitali Kim im Onlinedienst Telegram. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einer "zynischen Antwort auf unsere Erfolge an der Front". Laut Selenskyj wurde das Wohnhaus komplett "vom fünften bis zum ersten Stock zerstört". Die nahe der Front gelegene Stadt Mykolajiw ist seit Monaten Ziel russischer Angriffe. 

Oleksij Resnikow, Verteidigungsminister der UkraineBild: Boris Roessler/dpa/picture alliance

Resnikow: Gefechte dürften im Winter abflauen

Die Ukraine sagt ein Abflauen der Kämpfe im Winter voraus. "Der Winter wird jede Aktivität auf dem Schlachtfeld für alle Beteiligten verlangsamen", prognostizierte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow. "Das ist für alle Seiten von Vorteil. Man wird sich ausruhen können."

Sein Land werde gestärkt aus dieser Pause hervorgehen angesichts von Tausenden von Soldaten, die gegenwärtig in Großbritannien ausgebildet würden. "Wir werden diese Zeit mit einem bestmöglichen Ergebnis für unsere Streitkräfte nutzen", so Resnikow.      

USA stellen weitere Militärhilfe für Ukraine bereit

Die USA stellen der Ukraine im Zuge neuer Militärhilfen erstmals das mobile Luftabwehrsystem Avenger zur Verfügung - zunächst vier Stück davon. Das Pentagon kündigte auch die Lieferung der dazugehörigen Raketen vom Typ Stinger an. Außerdem würden Raketen für die Luftabwehrsysteme vom Typ Hawk, die Spanien der Ukraine zugesagt hat, sowie Munition für Raketenwerfer vom Typ Himars, Artilleriemunition, Granatwerfer und mehr als 20 Millionen Schuss Munition für kleinere Waffen bereitgestellt, hieß es aus Washington.

Das Avenger-Luftabwehrsystem (bei einer Militärübung im US-Bundesstaat Arizona)Bild: piemags/IMAGO

Angesichts von Russlands "brutalen Luftangriffen auf zivile und kritische Infrastruktur in der Ukraine" seien zusätzliche Luftabwehrfähigkeiten von größter Bedeutung, betonte eine Pentagon-Sprecherin. Mit dem neuen Hilfspaket, das einen Wert von 400 Millionen Dollar hat, steigen die US-Militärhilfen für die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar auf insgesamt mehr als 18,6 Milliarden Dollar.

Washington: Setzen Ukraine nicht unter Druck

Die US-Regierung übt nach eigener Darstellung keinen Druck auf die Ukraine mit Blick auf mögliche Verhandlungen mit Russland aus. "Wir beharren nicht auf bestimmten Dingen, sondern wir beraten als Partner", so der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan. Den russischen Abzug aus der südukrainischen Großstadt Cherson nannte er einen "wichtigen Meilenstein" für die Ukrainer.

US-Sicherheitsberater Sullivan (r.) bei einem Treffen mit Präsident Selenskyj vor einer Woche in KiewBild: Ukrainian Presidential Press Office/AP Photo/picture alliance

Man müsse nun aber schauen, wie sich die Lage dort tatsächlich entwickle. "Das ist natürlich nicht das Ende des Krieges, denn Russland hält weiterhin Teile des ukrainischen Territoriums besetzt", betonte Sullivan.

UN sprechen mit Russland über Verlängerung des Getreideabkommens

Rund eine Woche vor dem Auslaufen des Abkommens zwischen Russland und der Ukraine zu Getreideexporten sind führende UN-Repräsentanten mit russischen Vertretern zu Gesprächen über dessen Fortsetzung zusammengekommen. Wie eine UN-Sprecherin bestätigte, trafen sich der Chef des UN-Büros für humanitäre Hilfe (Ocha), Martin Griffiths, und die Leiterin der Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD), Rebeca Grynspan, mit einer hochrangigen Delegation aus Moskau unter der Leitung des stellvertretenden russischen Außenministers Sergej Werschinin im UN-Büro in Genf.

Das von den Vereinten Nationen und der Türkei vermittelte Abkommen wurde am 22. Juli in Istanbul unterzeichnet, um die sichere Ausfuhr von ukrainischem Getreide durch einen Schutzkorridor im Schwarzen Meer und den Export von russischen Lebensmitteln und Düngemitteln trotz des Krieges zu ermöglichen. Das Abkommen läuft am 19. November aus, die Vereinten Nationen hoffen auf eine Verlängerung um ein Jahr. Es ist jedoch noch unklar, ob Russland seine Beteiligung verlängern wird.

Der ukrainische Frachter Rubymar transportiert Getreide im Schwarzen MeerBild: Mehmet Emin Calsikan/REUTERS

Moskau beklagte wiederholt, es könne sein Getreide und seine Düngemittel wegen der vom Westen verhängten Sanktionen nicht verkaufen. Die Vereinten Nationen erhoffen sich bei den Verhandlungen auch "Fortschritte bei der Erleichterung des ungehinderten Exports von Nahrungsmitteln und Düngemitteln aus der Russischen Föderation auf die Weltmärkte".

Erneuter Gefangenenaustausch zwischen Moskau und Kiew

Russland und die Ukraine haben in dem seit über acht Monaten dauernden russischen Angriffskrieg erneut Gefangene ausgetauscht. Es sei gelungen, "45 Kämpfer der Streitkräfte zu befreien", teilte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, im Nachrichtendienst Telegram mit. Es handele sich dabei um Soldaten und Feldwebel. Wie viele Soldaten an die russische Seite überstellt wurden, wurde zunächst nicht mitgeteilt. Am Donnerstag hatte der Interimschef des von Russland beanspruchten ostukrainischen Luhansker Gebiets, Leonid Passetschnik, von mehr 35 Soldaten gesprochen, die ausgetauscht worden seien.

Ukraine baut Mauer an Grenze zu Belarus

Die Ukraine errichtet nach eigenen Angaben eine Betonwand und Sperranlagen entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Grenze zum russischen Verbündeten Belarus. In der Region Wolyn sei ein drei Kilometer langer, mit Stacheldraht bewehrter Wall errichtet worden, gibt Präsidialberater Kyrylo Tymoschenko bekannt. Auch in den Regionen Riwne und Tschytomyr werde gearbeitet. Einzelheiten nannte er nicht. "Das ist nicht alles, aber wir werden keine Einzelheiten veröffentlichen."

IAEA-Chef: Zähe Gespräche über AKW-Sicherheit

Die Verhandlungen mit Russland über die Einrichtung einer Schutzzone um das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja gestalten sich schwierig. Sie verliefen äußerst zäh und dauerten "schrecklich lange", sagte der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi. Dennoch könne er es sich nicht erlauben, "die Geduld zu verlieren", sondern werde seine Bemühungen fortsetzen.

Grossi verhandelt seit Wochen mit Vertretern Russlands und der Ukraine über die Einrichtung einer Schutzzone um das AKW, mit der die Gefahr eines Atomunglücks gebannt werden soll. Kompliziert würden die Gespräche unter anderem dadurch, dass seine Verhandlungspartner nicht nur Diplomaten, sondern auch Militärs seien, erläuterte der IAEA-Chef.

Satellitenaufnahme des AKW Saporischschja (vom August)Bild: Planet Labs Pbc/Planet Labs PBC/AP/dpa/picture alliance

Seit Monaten beschuldigen sich die Regierungen in Moskau und Kiew gegenseitig für Angriffe um und auf das Atomkraftwerk verantwortlich zu sein. Das größte AKW Europas liegt in der von Russland für annektiert erklärten Region Saporischschja nicht weit von der Front entfernt. Im Oktober hatte der russische Präsident Wladimir Putin das Atomkraftwerk per Dekret unter russische Verwaltung gestellt.

kle/qu/sti/se/wa/AR (dpa, afp, rtr)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

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