Ukraine Aktuell: Kiew bekommt von NATO hunderte Raketen
15. Juni 2023Das Wichtigste in Kürze:
- Vier NATO-Staaten liefern Flugabwehrraketen
- Allianz wertet Gesprächsformat mit der Ukraine auf
- Selenskyj-Appell an Schweizer Parlament
- Russland kündigt Wahlen in besetzten Gebieten an
- IAEA-Chef Grossi erneut am AKW Saporischschja
Die Ukraine bekommt von vier NATO-Staaten Hunderte zusätzliche Flugabwehrraketen für ihre Gegenoffensive gegen Russland und den Schutz von Infrastruktur. Damit sollten die dringendsten Bedürfnisse im Bereich der Luftverteidigung angegangen werden, teilten die USA, Großbritannien, Dänemark und die Niederlanden nach einem Treffen der internationalen Kontaktgruppe zur Koordinierung von Militärhilfe in Brüssel mit.
Die Lieferung der Raketen kurzer und mittlerer Reichweite habe bereits begonnen und solle innerhalb einiger Wochen abgeschlossen sein. Der Schritt sei notwendig, um die kritische Infrastruktur der Ukraine zu schützen und den Erfolg der Gegenoffensive zu gewährleisten.
Neues NATO-Gesprächsformat mit Ukraine
Die NATO-Staaten haben sich auf ein neues Format für die Zusammenarbeit mit der Ukraine verständigt. Das Konzept sei in einem schriftlichen Verfahren angenommen worden, bestätigten mehrere Diplomaten der Deutschen Presse-Agentur am Rande eines NATO-Verteidigungsministertreffens in Brüssel. Nun müssten noch die Ukraine selbst zustimmen und Details festgelegt werden. Angestrebt wird ein erstes Treffen am Rande des NATO-Gipfels der Staats- und Regierungschefs im nächsten Monat in Litauen.
Konkret sieht das Konzept vor, die bestehende NATO-Ukraine-Kommission zu einem NATO-Ukraine-Rat aufzuwerten. Dies soll es ermöglichen, mit dem von Russland angegriffenen Land auf Augenhöhe Schlüsselfragen der Sicherheit zu diskutieren und auch gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Die Kommission war vor allem eingerichtet worden, um Reformen zu diskutieren, die für einen Beitritt zur westlichen Militärallianz notwendig sind. Die Ukraine drängt auf eine baldige Aufnahme.
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius bezeichnete die Pläne als weiteren "Schritt der Annäherung". "Wir sehen die Ukraine bei uns in der NATO in der Zukunft", sagte Pistorius in Brüssel. Zugleich verwies er darauf, dass es keine Aufnahme der Ukraine ins Bündnis geben könne, solange auf dem Territorium des Landes ein Krieg stattfindet.
Selenskyj bittet Schweiz um Waffentransfer
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat an die Schweiz appelliert, die "lebenswichtige" Weitergabe von Waffen zuzulassen. In einer Video-Ansprache vor dem Schweizer Parlament in Bern sagte Selenskyj, er sei sich der Diskussion über die Ausfuhr von Waffen, die in der Schweiz hergestellt wurden, aus Drittländern in die Ukraine bewusst. Sein Land brauche aber Waffen, "um den Frieden wiederherstellen zu können".
Erst Anfang des Monats hatte das Schweizer Parlament gegen ein Gesetz gestimmt, das Drittstaaten die Weitergabe von Rüstungsgütern aus Schweizer Produktion an die Ukraine erlaubt hätte. Trotz Drucks aus Kiew und seiner Unterstützerstaaten weigert sich die Schweiz, Ländern, die Waffen aus schweizerischer Herstellung besitzen, die Ausfuhr in die Ukraine zu erlauben. So wurden Anträge Deutschlands, Spaniens und Dänemarks mit Verweis auf das Schweizer Kriegsmaterialgesetz abgelehnt, welches Waffenlieferungen in Kriegsgebiete verbietet. Die Schweiz hat sich zwar den EU-Sanktionen gegen Moskau angeschlossen, hält aber weiter an seiner militärischen Neutralität fest.
Wie hoch sind die Verluste?
Das ukrainische Militär hat nach Regierungsangaben bei seiner Offensive den russischen Besatzungstruppen hohe Verluste zugefügt. "Die ukrainische Armee hat, trotz gegenteiliger russischer Falschnachrichten, während ihrer Offensive im Vergleich zu den Okkupanten nur einen Bruchteil von deren Verlusten erlitten", schrieb die ukrainische Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar.
Ihren Angaben nach liegt das Verhältnis im Raum Bachmut bei fast 1:9, im Süden der Ukraine bei mehr als 1:5. Unabhängig sind diese Angaben nicht zu überprüfen.
Beschuss von Krywyj Rih geht weiter
In der zentralukrainischen Großstadt Krywyj Rih sollen die russischen Streitkräfte am Donnerstagmorgen zwei Industrieanlagen mit Raketen angegriffen haben. Das berichtet der Bürgermeister der Stadt, Olexandr Wilkul, in der Nachrichten-App Telegram. Drei Raketen seien in zwei Unternehmen eingeschlagen, die nichts mit dem Militär zu tun hätten. Dabei sei ein 38-jähriger Mann verletzt worden. "Die Zerstörung ist erheblich", schreibt Wilkul. Krywyj Rih ist bereits am Dienstag Ziel eines russischen Raketenangriffs geworden. Bei Beschuss eines Wohnhauses starben Behördenangaben zufolge zwölf Menschen.
Auch die Hafenstadt Odessa im Süden der Ukraine wurde erneut angegriffen. Die Luftabwehr habe alle 18 russischen Drohnen abgeschossen, die sich der Region genähert hätten, teilten die örtlichen Behörden am frühen Donnerstag mit.
Russland wehrt Angriffe auf Krim-Halbinsel ab
Russische Streitkräfte haben nach eigenen Angaben neun Drohnen über der Halbinsel Krim abgewehrt. In der Nacht und am Donnerstagmorgen seien neun Drohnen geortet worden, erklärte der von Moskau eingesetzte Gouverneur Sergej Aksjonow auf Telegram. Sechs Flugobjekte seien von Luftabwehrkräften abgeschossen worden. Drei weitere habe man vor der Landung "deaktivieren" können, so Aksjonow. Opfer habe es keine gegeben.
Nach der Ankündigung einer Gegenoffensive durch Kiew ist es in den vergangenen Wochen vermehrt zu Drohnenangriffen auf russisches Territorium und die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim gekommen. Die Ukraine hatte erklärt, die Krim zurückerobern zu wollen.
Kiew sieht Desinformation und Demoralisierung
In den vergangenen Tagen hatte das russische Verteidigungsministerium mehrfach erklärt, die Offensive der Ukrainer vereitelt und den angreifenden Truppen große Verluste zugefügt zu haben. Kremlchef Wladimir Putin sprach - offenbar unter Bezug auf die Zahlen des Ministeriums - von "katastrophalen Verlusten" für Kiew. Maljar dementierte diese Angaben als Desinformationskampagne mit dem Ziel der Demoralisierung.
Die nach Medienberichten seit Anfang Juni laufende ukrainische Offensive kommt nur langsam voran. Zwar konnten die Kiewer Truppen im Süden der Ukraine einige Ortschaften erobern und die Russen bei Bachmut an den Flanken zurückdrängen. Ein Frontdurchbruch ist den Ukrainern dabei bislang jedoch nicht geglückt. Im Süden der Ukraine behindern dabei auch starke Regenfälle das Vorwärtskommen der Truppen.
Prozess gegen Ukrainer in Russland angeprangert
Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak hat einen Gerichtsprozess in Russland gegen 22 ukrainische Kriegsgefangene verurteilt. "Gelackte Staatsanwälte und gut gekleidete Geschworene 'urteilen' mit strahlendem Lächeln über Jungen und Mädchen, die wie Skelette nach Konzentrationslagern und Folter aussehen", schrieb Podoljak auf Twitter. Damit bezog er sich auf ein Verfahren, das seit Mittwoch in Rostow am Don im Süden Russlands läuft. Ein solcher Schauprozess sei "einfach nur ekelhaft". Dazu veröffentlichte Podoljak ein Foto der Angeklagten aus dem Gerichtssaal in einem Glaskasten.
Bei den 14 Männern und acht Frauen soll es sich um Soldaten und Köchinnen des Asow-Bataillons handeln, das monatelang die ukrainische Hafenstadt Mariupol verteidigt hatte. Zwei weitere Angeklagte kamen im Zuge eines Gefangenenaustauschs frei. Medienberichten zufolge droht den angeklagten Ukrainern bis zu lebenslange Haft. Das Asow-Regiment - das tatsächlich von Rechtsextremen gegründet wurde, aber keinesfalls repräsentativ für die ukrainische Armee steht - dient den russischen Angreifern als besonders beliebtes Feindbild.
Russland will Wahlen in besetzten Gebieten durchführen
Die russische Wahlkommission hat für die im vergangenen Jahr annektierten Regionen in der Ukraine Wahlen angekündigt. Am 10. September sollen Regionalparlamente und Gemeinderäte gewählt werden. Es dreht sich um vier Regionen im Osten und Süden der Ukraine: Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson.
Russland hatte die Gebiete im Zuge seiner Militäroffensive in der Ukraine besetzt und im September 2022 nach umstrittenen Referenden für annektiert erklärt. Allerdings kontrollieren die russischen Truppen bis heute nur einen Teil der jeweiligen Regionen. Die ukrainische Armee versucht derweil, diese Gebiete zu befreien.
IAEA-Chef Grossi in Saporischschja eingetroffen
Der Chef der Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, ist im von Russland besetzten Atomkraftwerk Saporischschja eingetroffen. Die dortige Lage bezeichnete er erneut als ernst. Zugleich würden aber "Maßnahmen zur Stabilisierung" ergriffen. Der IAEA-Chef wollte sich nach der Teilzerstörung des Kachowka-Staudamms ein Bild von der Sicherheitslage in dem Atomkraftwerk machen. Aus dem Stausee bezieht das Kraftwerk mit seinen sechs Reaktoren sein Kühlwasser. Der Damm war vor mehr als einer Woche zerstört worden. Daraufhin waren riesige Mengen Wasser aus dem Stausee ausgetreten.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges warnt Grossi immer wieder vor den Gefahren eines nuklearen Unfalls in der Anlage, dem größten AKW Europas. Die teilweise Zerstörung des Staudamms hat der IAEA zufolge die "ohnehin prekäre" Sicherheitslage noch verschärft. Grossi hatte seinen Besuch aus Sicherheitsgründen und wegen der schweren Kämpfe in der Südukraine um einen Tag verschoben.
Getreideabkommen steht wieder auf der Kippe
Russland wird laut Außenminister Sergej Lawrow das von der Türkei und den UN vermittelte Getreideabkommen mit der Ukraine nur bei einer Umsetzung der für Moskau wichtigen Punkte verlängern. "Wenn das Paket von Istanbul nicht bis zum 17. Juli, wie vom UN-Generalsekretär initiiert, umgesetzt wird, dann kann von einer weiteren Verlängerung keine Rede sein", sagte der russische Chefdiplomat auf einer Sitzung der Schwarzmeeranrainerstaaten. Das Getreideabkommen läuft am 18. Juli aus.
Das Abkommen wurde im vergangenen Sommer geschlossen und beendete eine mehrmonatige russische Seeblockade ukrainischer Schwarzmeerhäfen, die Moskau nach Beginn seines Angriffskriegs gegen den Nachbarstaat verhängt hatte. Russland forderte im Gegenzug die Lockerung der westlichen Sanktionen, die russische Agar- und Düngemittelexporte behinderten. Moskau beklagte seither mehrfach, dass diese Forderung nicht umgesetzt wurde.
Russland will Ammoniak exportieren
Lawrow kritisierte speziell, dass der Teil zur Wiederaufnahme des russischen Ammoniakexports nicht eingehalten wurde. Ammoniak ist ein giftiges Gas, das zu Düngemitteln verarbeitet wird. Russland ist einer der größten Ammoniak-Produzenten und -Exporteure. Eine schon zu Sowjetzeiten gebaute Leitung von Togliatti an der Wolga in die südukrainische Hafenstadt Odessa wurde nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine stillgelegt.
Russland hat in den vergangenen Monaten mehrfach darauf gedrungen, die Wiederinbetriebnahme der Leitung zum Teil des Abkommens zu machen. Zuletzt gab es Meldungen, dass die Pipeline im zwischen Russen und Ukrainern umkämpften Osten des Gebietes Charkiw beschädigt wurde.
sti/kle/djo/ehl/haz/bru (dpa, rtr, afp, ap)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.