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Politik

Aktuell: Kiew ruft Zivilisten im Süden zur Flucht auf

11. Juli 2022

Die Ukraine will verlorene Gebiete von Russland zurückerobern und ruft deshalb die Bevölkerung auf, die Gefahrenzone zu verlassen. Wladimir Putin will nun allen Ukrainern russische Pässe geben. Unser Überblick.

Ukraine Krieg | Krankenhaus in Saporischschja
Verletzter Soldat im Krankenhaus von Saporischschja (Archivbild)Bild: Emre Caylak/AFP

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Ukraine hofft auf militärische Erfolge im Süden
  • Putin will allen Ukrainern russische Pässe geben
  • Selenskyj droht russischen Soldaten
  • Reichster Ukrainer zieht sich aus Medien-Geschäft zurück
  • Botschafter Melnyk geht mit Wehmut

 

Die ukrainische Führung hat Zivilisten im besetzten Süden des Landes wegen geplanter Armee-Offensiven zur Flucht aufgerufen. Einwohner der Gebiete Cherson und Saporischschja sollten dringend ihre Häuser verlassen - notfalls auch in Richtung der bereits 2014 von Russland annektieren Schwarzmeer-Halbinsel Krim, sagte Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk. Das sei notwendig, damit die Menschen im Zuge bevorstehender Rückeroberungsversuche nicht gefährdet würden.

Verteidigungsminister Olexij Resnikow sagte in einem Interview der britischen Zeitung "The Sunday Times", Präsident Wolodymyr Selenskyj habe dem Militär befohlen, mithilfe westlicher Waffen besetztes Gebiet im Süden zurückzugewinnen. Insbesondere die Küstengebiete seien für die ukrainische Wirtschaft von großer Bedeutung. Selenskyj hatte in der Vergangenheit bereits mehrfach betont, dass sein Land sich von Russland kontrollierte Regionen zurückholen wolle.

Putin will allen Ukrainern russische Pässe geben

Russland erleichtert allen Ukrainern den Zugang zur russischen Staatsbürgerschaft. "Alle Bürger der Ukraine haben das Recht, die Staatsbürgerschaft der russischen Föderation nach einem vereinfachten Verfahren zu beantragen", heißt es in einem Dekret von Präsident Wladimir Putin.

Wladimir Putin erleichtert den Zugang zu russischer Staatsbürgerschaft für alle UkrainerBild: Alexei Nikolsky/AP Photo/picture alliance

Ende Mai hatte Putin schon die Einbürgerung per Schnellverfahren für die zwei großteils von Russland besetzten südukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja beschlossen. Dort arbeiten die russischen Besatzungsbehörden nach eigenen Angaben bereits an einem Referendum über einen Anschluss an Russland. Für Bewohner der von pro-russischen Separatisten besetzten selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ist bereits seit 2019 eine beschleunigte Einbürgerung möglich. Dies wird nun auf die gesamte Ukraine ausgeweitet.

Russland wird seit Jahren vorgeworfen, in Nachbarstaaten russische Pässe auszugeben, um den eigenen Einfluss zu stärken. Unter anderem gilt diese Praxis in den von pro-russischen Separatisten kontrollierten georgischen Gebieten Südossetien und Abchasien sowie in der moldawischen Region Transnistrien.

Die Regierung in Kiew hat den neusten Schritt von Moskau verurteilt. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sprach von einem "weiteren Eingriff in die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine, der mit den Normen und Grundsätzen des Völkerrechts unvereinbar ist". Das Dekret sei ein Beweis für "Putins aggressive Gelüste".

Selenskyj droht "russischen Mördern"

Nach dem verheerenden Raketenangriff mit vielen Toten im Gebiet Donezk hat der ukrainische Präsident russischen Soldaten mit Konsequenzen gedroht. "Die Bestrafung ist für jeden russischen Mörder unvermeidlich", sagte Selenskyj in seiner Videoansprache in der Nacht zum Montag. Der Angriff auf den Ort Tschassiw Jar habe einmal mehr gezeigt, dass Russlands Truppen vorsätzlich auch in Wohngebieten töteten.

"Sie können nicht sagen, sie hätten es nicht gewusst": Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (Archivbild)Bild: Ukrainian Presidential Press Service/REUTERS

"Nach solchen Angriffen werden sie nicht sagen können, dass sie etwas nicht gewusst oder nicht verstanden haben", sagte der ukrainische Staatschef. Gemeinsam mit internationalen Beobachtern sammele die Ukraine seit Kriegsbeginn Beweise, um die Verbrechen der Russen aufzuklären, betonte er. In Tschassiw Jar wurden nach einem Raketenbeschuss am Samstagabend bislang 15 Menschen tot aus den Trümmern eines fünfgeschossigen Hauses gezogen. Sechs weitere Menschen konnten die Retter lebend bergen. Noch immer aber würden zahlreiche Menschen vermisst, hieß es von ukrainischer Seite - darunter ein Kind.

Unterdessen gehen die Kämpfe im Osten und Süden des Landes weiter. Russland hat eigenen Angaben zufolge in der zentralöstlichen Großstadt Dnipro mehrere Munitionsdepots mit Raketen getroffen. Die Depots dienten zur Lagerung von Raketenwerfern und Artilleriewaffen, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Zudem sollen Aufmarschplätze der ukrainischen Streitkräfte nahe Charkiw im Nordosten der Ukraine getroffen worden sein.

Özdemir für neue Routen zum Agrar-Transport

Angesichts der Schwierigkeiten, durch die russische Blockade ukrainisches Getreide aus dem Land zu bringen, warnt der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir: "Wir müssen uns nicht nur mit temporären, sondern mit permanenten Alternativrouten für ukrainisches Getreide beschäftigen." Denn "solange Putin an der Macht ist, wird es immer eine Erpressbarkeit geben", sagte Özdemir im DW-Interview. Der russische Präsident könne jederzeit wieder Getreide-Exporte blockieren. Daher sei es wichtig, dauerhafte Lösungen zu finden. Dabei müsse die EU-Kommission in Führung gehen. 

Warentransfer nach Kaliningrad weiter beschränkt

Litauen hat die Exportbarrieren zur russischen Exklave Kaliningrad nochmals erhöht. Zu den sanktionierten Waren gehörten nun auch Beton, Holz, Alkohol und Industriechemikalien auf Alkoholbasis, sagte ein Sprecher des litauischen Zolls. Man folge den EU-Sanktionen. Wie sich dies auf den Transit zwischen Russland und Kaliningrad auswirken wird, ist noch unklar. Litauen setzte die bisherigen EU-Strafmaßnahmen auch auf der Transitverbindung zwischen Russland und Kaliningrad um, was zu heftigen Protesten Moskaus führte.

Reichster Ukrainer zieht sich aus Medien-Geschäft zurück

Der vor dem russischen Einmarsch reichste Ukrainer Rinat Achmetow hat wegen der drohenden Aufnahme in ein Register für Oligarchen sein Mediengeschäft aufgegeben. Seine Mediengruppe werde alle TV- und Print-Lizenzen dem Staat überschreiben sowie die Internetmedien einstellen, erklärte Achmetow in einer Mitteilung. Zur Mediengruppe gehören elf Fernsehsender, die Nachrichtenseite Segodnya.ua und der Online-TV-Service OLL.TV. Mehr als 4000 Menschen arbeiten für die Gruppe. Die Gesamtinvestitionen bezifferte Achmetow auf umgerechnet mehr als 1,5 Milliarden Euro.

Rinat Achmetow hat seinen Rückzug aus dem Mediengeschäft verkündetBild: Daniel Naupold/dpa/picture alliance

Achmetows Ankündigung wurde im Präsidentenbüro in Kiew als Schritt zu transparenten Verhältnissen und dem Verzicht auf Hinterzimmerabsprachen gelobt. "Heute haben wir ein würdiges Beispiel von der SCM-Gruppe - das Gesetz gilt für alle gleich", erklärte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak.

Die Regierung hatte im vorigen Jahr ein Gesetz beschlossen, das den politischen Einfluss von superreichen Ukrainern beschränken soll. Großunternehmer mit Medieneinfluss sollen dazu in ein sogenanntes Oligarchenregister aufgenommen werden. Diese Oligarchen dürfen danach keine Parteien, politische Werbung oder Demonstrationen finanzieren und sind von Privatisierungen ausgeschlossen. Achmetow wollte dies offenbar verhindern und sprach von einer "unfreiwillige Entscheidung". 

Kampf gegen die Verletzung internationalen Rechts

Deutschland und Japan haben vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Bedeutung des Einsatzes für eine regelbasierte internationale Zusammenarbeit unterstrichen. Zu Beginn ihres Antrittsbesuchs beim japanischen Amtskollegen Yoshimasa Hayashi in Tokio dankte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock für die Unterstützung im Kampf gegen die Verletzung internationalen Rechts durch Moskau.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mit ihrem japanischen Amtskollegen Yoshimasa Hayashi in TokioBild: Kimimasa Mayama/AP Photo/picture alliance

Mit Blick auf eine mögliche Verknappung russischer Gaslieferungen nach Deutschland sagte die Grünen-Politikerin, die Bundesregierung werde alles dafür tun, um eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. "Wenn wir weniger Energie haben, (...) dann werden wir dafür sorgen, dass es gerecht zugehen wird." Unionsforderungen nach einer längeren Laufzeit der restlichen drei deutschen Atomkraftwerke wies Baerbock erneut zurück. 

Auch Hayashi betonte, wie wichtig es sei, die Multilateralität zu stärken. Japan übernimmt im kommenden Jahr den Vorsitz der G7-Gruppe, also der führenden Industriestaaten der westlichen Welt. 

Abschied mit Wehmut

Der Abschied aus Deutschland fällt dem abberufenen ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk nach eigenem Bekunden nicht leicht. "Deutschland bleibt in unseren Herzen", sagte Melnyk der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", "der Abschied fällt uns schwer". "Ich war zweimal in Deutschland auf Posten, ich habe eine sehr enge Beziehung zu diesem Land, die streckenweise auch eine Art Hassliebe war."

Andrij Melnyk sieht sich nach eigenen Worten in einer Art Hassliebe mit Deutschland verbunden (Archivbild)Bild: Susanne Hübner/Imago

Seine Amtszeit werde formell "vermutlich in wenigen Wochen zu Ende gehen", zitierte die Zeitung ihn. Dann würden er und seine Familie in die Ukraine ausreisen. In seiner Zeit als Botschafter, also etwa seit Beginn des von Russland gesteuerten Krieges in der Ostukraine, habe er "andere Jobangebote abgelehnt", um seine Mission in Deutschland weiterführen zu könne.

Ein großer Kraftakt

Mehr als 146.000 aus der Ukraine geflüchtete Kinder und Jugendliche sind inzwischen an deutschen Schulen aufgenommen worden. Angesichts des anhaltenden russischen Angriffskriegs brauchten sie "volle Unterstützung", sagte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) der "Rheinischen Post".

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (Archivbild)Bild: Chris Emil Janssen/IMAGO

Die Integration in das Bildungssystem sei ein enormer Kraftakt, so die Ministerin. Sie dankte Ländern, Schulen und Lehrkräften. Im kommenden Schuljahr werde die Schulpflicht nach anfangs "sehr pragmatischem Umgang überall greifen müssen". Natürlich hoffe man weiter auf eine möglichst schnelle Rückkehr der Kinder und Jugendlichen in ihre Heimat; "wir müssen uns aber auch auf eine längerfristige Perspektive hier einstellen", sagte Stark-Watzinger. Angebote auf Ukrainisch seien dann "eine gute Ergänzung".

cwo/as/jj/haz/ack (dpa, rtr, afp)

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