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Politik

Aktuell | Kiew: Atomkraftwerk weiter gefährlich

6. August 2022

Nach dem Beschuss des Atomkraftwerk-Geländes Saporischschja schlagen die Wellen hoch. Britische Geheimdienste sehen eine neue Kriegsphase gekommen. Ein Überblick.

Ukraine-Krieg | Atomkraftwerk Saporischschja
Das Kernkraftwerk in der Region Saporischschja, das leistungsstärkste Europas, ist zwischen die Fronten geratenBild: ALEXANDER ERMOCHENKO/REUTERS

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Kiew: von beschossenem Atomkraftwerk geht weiter Gefahr aus
  • London sieht neue Phase des Kriegs gekommen
  • Selenskyj verlangt Strafmaßnahmen nach Atomkraftwerk-Beschuss
  • Ukraine-Chefin von Amnesty International tritt zurück
  • Mahnende Worte bei Hiroshima-Gedenken
  • Netzagentur-Chef appelliert dazu, Gas zu sparen

 

Nach dem Beschuss des von Russland besetzten ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja besteht weiter erhöhte Brand- und Strahlungsgefahr. "Das Atomkraftwerk Saporischschja arbeitet mit dem Risiko einer Verletzung der Normen für Strahlen- und Brandschutz", teilte die staatliche ukrainische Atombehörde Enerhoatom am Samstag auf ihrem Telegram-Kanal mit. Beide Kriegsparteien machen sich gegenseitig für den Angriff auf die Anlage verantwortlich.

Durch den Beschuss am Vortag seien eine Stickstoffanlage und ein Hilfskorpus des Kraftwerks beschädigt worden. "Es bleibt das Risiko, dass Wasserstoff austritt und sich radioaktive Teilchen verteilen, auch die Brandgefahr ist hoch", berichtete Enerhoatom. Das ukrainische Kraftwerkspersonal versuche, auch unter diesen Bedingungen die atomare Sicherheit der Anlage zu gewährleisten. Die Bedrohung aufgrund der Besetzung des Kraftwerks durch russische Truppen bleibe allerdings hoch.

Ein russischer Soldat am Donnerstag vor Europas größtem Atomkraftwerk in Enerhodar im Südosten der UkraineBild: ALEXANDER ERMOCHENKO/REUTERS

Am Freitag war die Anlage in der Stadt Enerhodar im Gebiet Saporischschja durch einen Beschuss in Brand geraten, konnte aber gelöscht werden. Ein Block des AKW musste abgestellt werden. Die Energieversorgung in der Stadt fiel teilweise aus. Während Moskau ukrainische Truppen dafür verantwortlich machte, sprach Kiew davon, dass die Russen das Gelände selbst beschossen hätten. Unabhängig sind die Angaben nicht zu überprüfen.

Derweil berichtete das kremlkritische Internetmedium "The Insider" über eine mögliche Verminung des Kraftwerks. Auf einem Video, das zu Wochenbeginn gedreht worden sein soll, sind russische Militärlaster zu sehen, die auf das Fabrikgelände fahren und dort Güter abladen. Einer der Lkw fährt dabei in den Maschinenraum der Anlage. Laut "The Insider" wurde entweder das Kraftwerk selbst oder das Gelände darum herum vermint. 

London sieht neue Phase des Kriegs gekommen

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine tritt nach britischen Informationen in eine neue Phase ein. Das britische Verteidigungsministerium rechnet damit, dass sich die schwersten Gefechte auf eine knapp 350 Kilometer lange Frontlinie verlagern, die sich südwestlich nahe Saporischschja bis nach Cherson erstreckt und damit parallel zum Fluss Dnipro verläuft. Das teilte das Ministerium am Samstagmorgen in seinem regelmäßigen Geheimdienst-Update zum Ukraine-Krieg mit. Die Stadt Cherson ist in einer frühen Kriegsphase ohne lange Gefechte unter russische Kontrolle gefallen. Von hier aus führt eine strategisch wichtige Zugstrecke auf die besetzte Schwarzmeer-Halbinsel Krim.

In Saporischschja sind zahlreiche Binnenflüchtlinge untergekommen - sie könnten nun erneut vor Kämpfen fliehen müssenBild: Ukrinform/dpa/picture alliance

In Erwartung der ukrainischen Gegenoffensive oder vorbereitend für einen möglichen Angriff versammelten sich die russischen Streitkräfte mit ziemlicher Sicherheit im Süden der Ukraine, schrieben die Briten. Lange russische Militärkonvois bewegten sich weiterhin weg von der ukrainischen Donbass-Region in Richtung Südwesten. Militärische Ausrüstung soll auch aus den russisch besetzten Gebieten Melitopol, Berdiansk und Mariupol sowie über das russische Festland über die Kertsch-Brücke auf die Krim gebracht worden sein.

Selenskyj verlangt Strafmaßnahmen

Nach dem Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Sanktionen gegen Russlands Nuklearindustrie gefordert. "Wer nukleare Bedrohungen für andere Völker schafft, ist definitiv nicht in der Lage, Nukleartechnologie sicher einzusetzen", sagte Selenskyj in seiner Videoansprache in der Nacht zum Samstag. Konkret forderte er etwa Strafmaßnahmen gegen den russischen Staatskonzern Rosatom.

Die Regierungen in Kiew und Moskau hatten sich am Freitag gegenseitig den Beschuss von Europas größtem Atomkraftwerk in der von Russland besetzten Stadt Enerhodar vorgeworfen. Die Ukraine warf Russlands Truppen vor, das AKW-Gelände selbst angegriffen zu haben. Selensykyj sprach von einem "Akt des Terrorismus".

Russland schaffe "nukleare Bedrohungen für andere Völker", sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (Archivbild)Bild: Efrem Lukatsky/dpa/AP/picture alliance

Das Verteidigungsministerium in Moskau hingegen machte ukrainische Soldaten für den Beschuss verantwortlich und teilte mit, ein Kraftwerksblock habe teilweise abgeschaltet werden müssen. Zudem sei in Enerhodar die Strom- und Wasserversorgung in einigen Bezirken ausgefallen.

Erst vor wenigen Tagen hatte sich die Internationale Atomenergieorganisation IAEA besorgt gezeigt angesichts der Lage um das Kraftwerk im Südosten der Ukraine. Es gebe dort eine Kombination aus Verstößen gegen alle möglichen nuklearen Sicherheitsmaßnahmen, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi der Deutschen Welle. An einer Inspektion werde seine Organisation seit Beginn des Krieges gehindert.

Ukraine-Chefin von Amnesty tritt nach umstrittenem Bericht zurück

Nach der Veröffentlichung eines kritischen Berichts über die ukrainische Armee ist die Leiterin des Ukraine-Büros der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zurückgetreten. Oksana Pokaltschuk beschuldigte Amnesty, russische Propaganda übernommen zu haben.

Die Organisation hatte mit dem am Donnerstag vorgelegten Bericht Empörung in Kiew ausgelöst. Präsident Selenskyj warf ihr vor, sie habe damit "Opfer und Angreifer gewissermaßen auf eine Stufe gestellt". In dem Bericht wirft Amnesty der ukrainischen Armee vor, Zivilisten gefährdet zu haben, indem sie etwa Stützpunkte in Wohngebieten, Schulen und Krankenhäusern errichtet habe.

Nicht länger Chefin von Amnesty International in der Ukraine: Oksana Pokaltschuk Bild: Mario Romano/IPP/picture alliance

Pokaltschuk sagte, sie habe versucht, die Leitungsspitze von Amnesty zu warnen, dass der Bericht einseitig sei und die ukrainische Position nicht ausreichend berücksichtige. Sie sei jedoch ignoriert worden. Amnestys Generalsekretärin Agnès Callamard erklärte am Freitag, die Organisation stehe "voll und ganz" zu ihrem Bericht.

Mahnende Worte bei Hiroshima-Gedenken

Angesichts der weltweiten Sorgen, Russland könnte bei seinem Angriffskrieg in der Ukraine womöglich Atomwaffen einsetzen, hat der Bürgermeister von Hiroshima zur nuklearen Abrüstung aufgerufen. Bei einer Gedenkzeremonie zum 77. Jahrestag des Abwurfs einer US-Atombombe auf die japanische Stadt warnte Bürgermeister Kazumi Matsui davor, dass die Abhängigkeit von nuklearer Abschreckung in der Welt an Bedeutung gewinne. "Wir müssen sofort alle nuklearen Knöpfe bedeutungslos machen", sagte Matsui.

"Menschheit spielt mit einer geladenen Waffe": UN-Generalsekretär António Guterres beim Gedenken in HiroshimaBild: Kenzaburo Fukuhara/Kyodo News/AP Photo/picture alliance

UN-Generalsekretär António Guterres warnte bei dem Gedenken im Friedenspark von Hiroshima davor, dass "Krisen mit ernsten nuklearen Untertönen" sich schnell ausbreiten - "vom Nahen Osten über die koreanische Halbinsel bis hin zur russischen Invasion in der Ukraine". Die Menschheit spiele mit einer geladenen Waffe, so Guterres. Er war das erste Mal seit zwölf Jahren, dass ein UN-Chef an Hiroshimas jährlichem Gedenken teilnahm. Russland und sein Verbündeter Belarus waren nicht dazu eingeladen.

Gas-Spar-Appell von Netzagentur-Chef

Die Deutschen müssen aus Sicht der Bundesnetzagentur nach neuerlichen Kürzungen der russischen Gaslieferungen deutlich mehr Energie sparen als bislang angenommen. "Wenn wir nicht kräftig sparen und kein zusätzliches Gas bekommen, haben wir ein Problem", sagte Behördenchef Klaus Müller der Zeitung "Welt am Sonntag". Eine Gasmangel werde sich nur verhindern lassen, wenn Verbraucher mindestens 20 Prozent einsparten. Zusätzlich müssten auch die Durchleitungen von Gas an Nachbarländer um 20 Prozent reduziert werden, außerdem benötige man zehn bis 15 Gigawattstunden Gas aus anderen Ländern.

Dürfen bald nur noch einzelne Räume beheizt werden? (Symbolbild)Bild: Thomas Trutschel/photothek/picture alliance

Private Haushalte seien im Fall einer Gasmangellage nicht vor verordneten Einschränkungen geschützt, sagte Müller. "Es ist sicherlich nicht von der Verordnung geschützt, wenn jemand meint, in dieser Notsituation seine Wohnung auf übermäßige Temperaturen heizen zu müssen." Grundsätzlich seien auch Verordnungen denkbar, die nur noch das Beheizen einzelner Räume erlauben. "Ich will über nichts spekulieren, weil wir diese Diskussionen noch führen", sagte Müller. "Ich will aber deutlich sagen: Um Arbeitsplätze zu sichern, halte ich Sparmaßnahmen für private Haushalte, solange sie nicht den geschützten, lebensnotwendigen Bereich berühren, für legitim."

AR/sti (dpa, afp, rtr)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.