Aktuell: NATO sagt Ukraine weitere Hilfe zu
29. Juni 2022Das Wichtigste in Kürze:
- NATO-Gipfel verspricht Kiew Hilfe so lange wie nötig
- Strategisches Konzept der Allianz zur Abschreckung Moskaus
- Selenskyj warnt vor russischen Attacken auf andere Staaten
- Tote bei Angriffen im Süden und Osten des Landes
- Gefangenenaustausch zwischen Russland und Ukraine
Die NATO hat der Ukraine weitere Unterstützung bei der Verteidigung gegen die russische Invasion zugesagt. Die 30 Mitgliedstaaten hätten ein umfassendes Paket vereinbart, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg beim Gipfel des Bündnisses in Madrid. Dazu gehörten sichere Kommunikationsmittel, Treibstoff, medizinische Versorgung, Schutzwesten und Ausrüstung zur Bekämpfung von Minen sowie chemischen und biologischen Bedrohungen. Auch Hunderte tragbare Drohnenabwehrsysteme seien Teil des Pakets.
"Längerfristig werden wir die Ukraine bei der Umstellung von Ausrüstung aus der Sowjet-Ara auf moderne NATO-Ausrüstung unterstützen", sagte Stoltenberg. "Die Ukraine kann so lange auf uns zählen, wie es nötig ist. Die Verbündeten werden weiterhin umfangreiche militärische und finanzielle Hilfe leisten."
Stoltenberg erhob zugleich schwere Vorwürfe gegen den russischen Präsidenten
Wladimir Putin. "Der Krieg von Präsident Putin gegen die Ukraine hat den Frieden in Europa erschüttert und die größte Sicherheitskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst", sagte er. "Die NATO hat mit Stärke und Einigkeit reagiert."
Sechs Panzerhaubitzen aus Deutschland und Niederlanden
Deutschland und die Niederlande werden der Ukraine zusammen sechs weitere Panzerhaubitzen 2000 liefern. Das teilten Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht und ihre niederländische Kollegin Kasja Ollongren anlässlich des NATO-Gipfels in Madrid mit. "Diese drei, die wir jetzt aus Deutschland abgeben - damit gehe ich schon an die absolute Grenze dessen, was verantwortbar ist. Es ist aber verantwortbar, weil die Ukraine jetzt unterstützt werden muss", sagte Lambrecht. Ollongren erklärte mit Hinweis auf die andauernden russischen Angriffe: "Die Ukraine muss wirklich wissen, dass wir ihnen helfen können."
Bisher hat Deutschland sieben der Panzerhaubitzen geliefert, die Niederlande fünf. Insgesamt wird die Ukraine nun 18 Stück dieses Waffensystems erhalten - eine ausreichend große Zahl für ein komplettes Artilleriebataillon. Die Panzerhaubitze 2000 ist das modernste Artilleriegeschütz der Bundeswehr. Sie sieht aus wie ein riesiger Kampfpanzer und kann Ziele in 40 Kilometern Entfernung treffen.
300.000 schnell einsatzfähigen Kräfte zur Erhöhung der Kampfkraft
Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg will die NATO zudem ihre Kampfkraft massiv erhöhen. Auf dem Gipfel wurde ein neues strategisches Konzept beschlossen, das Russlands Präsidenten Wladimir Putin letztlich von möglichen militärischen Aggressionen gegen weitere Länder abschrecken soll. Das Konzept der NATO ist ein Grundlagendokument für politische und militärische Planungen der nächsten Jahre. Darin wird Russland als "größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum" bezeichnet. Um schnell handlungsfähig zu sein, entschied die NATO, die bislang rund 40.000 Soldaten umfassende Eingreiftruppe NRF durch ein neues Streitkräfte-Modell mit mehr als 300.000 schnell einsatzfähigen Kräften zu ersetzen.
An der geplanten Aufstockung der schnellen Eingreiftruppe will sich Deutschland mit 15.000 Soldaten beteiligen, wie Lambrecht weiter bekanntgab. Hinzu sollen nach ihren Angaben "circa 65 Flugzeuge und 20 Schiffe" kommen. "Die NATO muss stark sein, und das muss sich auch ausdrücken in den Zahlen der Soldatinnen und Soldaten", betonte die deutsche Verteidigungsministerin. Deutschland sei bereit, dazu einen Beitrag zu leisten.
Selenskyj: Das wahre Ziel Russlands ist die NATO
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte die NATO vor möglichen russischen Angriffen auch auf andere Länder gewarnt. "Die Frage ist: Wer ist der nächste für Russland? Moldau? Das Baltikum? Oder Polen? Die Antwort: sie alle", sagte Selenskyj in einer per Video übertragenen Rede an den Gipfel in Madrid. Das wahre Ziel Russlands sei die NATO. Dazu setze Moskau als Instrument auch Hunger zur Verursachung von Migrationswellen ein. Auch Energieressourcen nutze der Kreml, um Europa dazu zu zwingen, "auf Ihre Freiheit, Ihre Demokratie und Ihre Werte" zu verzichten.
Die Ziele der Ukraine hingegen stimmten "absolut" mit denen der NATO überein, betonte er. "Wir sind an Sicherheit und Stabilität auf dem europäischen Kontinent und der Welt interessiert." Der Ukraine dabei zu helfen, den Krieg auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, sei im Interesse der Allianz, meinte Selenskyj. Kiew brauche von den NATO-Staaten dafür moderne Luftabwehr und weitere Artilleriesysteme. Zugleich sei die finanzielle Unterstützung der Ukraine wichtig. «Wir haben ein Multimilliardendefizit und kein Erdöl und kein Erdgas, mit dem wir das ausgleichen können", sagte Selenskyj. Umgerechnet 4,7 Milliarden Euro monatlich brauche sein Land zur Deckung des Verteidigungsbedarfs.
Norwegen liefert drei Mehrfachraketenwerfer an die Ukraine
Norwegen hat der ukrainischen Armee die Lieferung von drei Mehrfachraketenwerfern zugesagt. "Wir müssen die Ukraine weiterhin unterstützen, damit sie ihren Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit fortsetzen kann", erklärte Verteidigungsminister Björn Arild Gram. Die Lieferung der Geschütze erfolge in Kooperation mit Großbritannien. Norwegen werde der Ukraine außerdem 5000 weitere Granaten zur Verfügung stellen, fügte Gram hinzu. Zuvor hatten bereits die USA der Ukraine vier Mehrfachraketenwerfer geliefert. Deutschland und Großbritannien sagten Kiew jeweils drei Mehrfachraketenwerfer zu.
Behörden melden Tote bei Angriffen auf Mykolajiw und Dnipro
Bei Angriffen auf die Städte Mykolajiw und Dnipro im Süden und Osten des Landes sind den Angaben zufolge mindestens fünf Menschen getötet worden. Das teilte der Militärgouverneur des Gebiets Mykolajiw, Witali Kim, mit. Eine Rakete habe am Mittwochmorgen ein Hochhaus getroffen. Dabei seien mindestens drei Menschen ums Leben gekommen, fünf weitere wurden verletzt. Nach einem Raketenangriff auf die ostukrainische Großstadt Dnipro wurden die Leichen einer Frau und eines Mannes gefunden. Der Gouverneur des Gebiets Dnipropetrowsk, Walentyn Resnitschenko, sagte, sechs Raketen seien auf die Stadt abgefeuert worden. Sie hätten ein friedliches Unternehmen getroffen, das nichts mit dem Militär zu tun habe. In Medienberichten war von einer Autowerkstatt die Rede.
Heftige Kämpfe um wichtige Versorgungsstraße
In der Ostukraine kämpfen ukrainische und russische Truppen weiter erbittert um die Kontrolle der Trasse von Lyssytschansk nach Bachmut. Sie ist eine der wenigen verbliebenen Nachschubrouten für Lyssytschansk. Die Großstadt ist die letzte im Gebiet Luhansk, die noch von ukrainischen Truppen gehalten wird. Russische Einheiten stehen bereits am Südrand von Lyssytschansk. Vertreter der prorussischen Separatisten berichteten bereits von Kämpfen im Stadtgebiet. Auch in den Gebieten Donezk und Charkiw würden Positionen der ukrainischen Armee mit Artillerie angegriffen, heißt es. Geländegewinne soll die russische Seite jedoch nicht gemacht haben.
Größter Gefangenenaustausch zwischen Moskau und Kiew
Bei dem bislang größten Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine sind nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums 144 ukrainische Soldaten befreit worden. Darunter seien 95 Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol, erklärte das ukrainische Verteidigungsministerium. Angaben zur Zahl der russischen oder prorussischen Kräfte wurden zunächst nicht gemacht.
Tausende ukrainische Kämpfer hatten das Asow-Stahlwerk wochenlang gegen die russische Armee verteidigt und sich in unterirdischen Tunneln der riesigen Anlage verschanzt. Die letzten Kämpfer ergaben sich Mitte Mai. Nach Angaben der pro-russischen Separatisten wurden sie als "Kriegsgefangene" in die selbsternannte Volksrepublik Donezk gebracht. Ein Separatistenvertreter hatte gesagt, mindestens einem Teil von ihnen drohe die Todesstrafe.
Ukraine klagt gegen Russland in Straßburg
Die Ukraine hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) offiziell Klage gegen Russland eingereicht. Gerichtspräsident Robert Spano habe den Fall der Vierten Sektion des Gerichts zugewiesen und Russland in Kenntnis gesetzt, teilte der EGMR in Straßburg mit. Die Klage richtet sich gegen massive und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, die von der Russischen Föderation im Zuge ihrer Militäroperationen auf ukrainischem Gebiet seit dem 24. Februar begangen worden sein sollen.
Die Ukraine wirft Russland unter anderem Verstöße gegen das Recht auf Leben (Artikel 2), das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung (Artikel 3), das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Artikel 4), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8), Religionsfreiheit (Artikel 9), Freiheit der Meinungsäußerung (Artikel 10), Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 11), das Recht auf wirksame Beschwerde (Artikel 13) und gegen das Diskriminierungsverbot (Artikel 14) vor. Russland hatte kürzlich mitgeteilt, es werde sich nicht mehr an Urteile des EGMR halten.
Litauen verlängert Ausnahmezustand wegen Ukraine-Kriegs
In Litauen hat das Parlament den wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine landesweit verhängten Ausnahmezustand bis zum 15. September verlängert. Die Sonderregelung ermöglicht es den Behörden des EU- und NATO-Mitglieds, Fahrzeuge und Menschen im Grenzgebiet zu stoppen und zu durchsuchen. Auch der Schutz strategischer Objekte und Infrastruktur wird in diesem Zeitraum verstärkt, die Ausstrahlung von russischen oder belarussischen Radio- und Fernsehprogrammen ist untersagt. Öffentliche Veranstaltungen zur Unterstützung der russischen Invasion bleiben weiter verboten. Litauen grenzt an die russische Exklave Kaliningrad sowie an Belarus - einen engen Verbündeten Russlands. Viele Menschen in dem Baltenstaat sorgen sich wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch um ihre Sicherheit und die des ganzen Landes.
Indonesiens Präsident Widodo in Kiew eingetroffen
Der indonesische Präsident Joko Widodo ist in seiner weitgehend selbst ernannten Rolle als Friedensvermittler zwischen Russland und der Ukraine in Kiew eingetroffen. Am Bahnhof der ukrainischen Hauptstadt wurden er und seinem Gefolge unter anderem vom stellvertretenden Außenminister Dmytro Senik empfangen. Das teilte das Präsidentenbüro in Jakarta mit. Später traf Widodo auch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj zusammen. Er werde an Selenskyj appellieren, Friedensgesprächen zuzustimmen, hatte Widodo zuvor betont.
Am Donnerstag will er dann nach Russland zu einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin reisen und diesen auffordern, den Krieg zu beenden, um eine weltweite Nahrungsmittelkrise abzuwenden. Indonesien wird im November Gastgeber des G20-Gipfels auf der Insel Bali sein. Widodo hatte dazu auch Putin eingeladen, der Kreml bestätigte mittlerweile seine Teilnahme – unklar ist, ob in Präsenz oder per Videoschalte.
Noch gut sechs Millionen Binnenvertriebene
Mehr als 5,5 Millionen Menschen aus der Ukraine, die vor dem Krieg flohen, sind nach UN-Angaben inzwischen wieder in ihr Zuhause zurückgekehrt. Dies sei etwa die Hälfte derer, die seit dem russischen Überfall am 24. Februar innerhalb des Landes geflüchtet seien, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Genf mit. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen bleibe mit schätzungsweise 6,275 Millionen aber hoch. Den bislang höchsten Stand gab es Anfang Mai mit über acht Millionen.
sti/bru/wa/fw/kle/sth (dpa, afp, kna, rtr)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.