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Politik

Aktuell: NATO verdoppelt Präsenz in Nord- und Ostsee

11. Oktober 2022

Das Militärbündnis reagiert damit auf die Lecks an den Nord-Stream-Leitungen, die auf dem Meeresgrund liegen. Die Ukraine soll Flugabwehrsysteme aus den USA erhalten. Der Überblick.

Brüssel PK Jens Stoltenberg NATO
Will kritische Infrastruktur besser schützen: Jens Stoltenberg, Generalsekretär des NordatlantikpaktsBild: Olivier Matthys/AP/picture alliance

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • NATO verstärkt Schutz kritischer Infrastruktur
  • G7 untermauern Solidarität mit Ukraine
  • USA wollen Luftabwehrsysteme liefern
  • Ukraine meldet neue Raketen- und Drohnenangriffe
  • Russland setzt Meta-Konzern auf Liste "terroristischer und extremistischer" Gruppen

 

Als Reaktion auf die mutmaßliche Sabotage an den Erdgasleitungen Nord Stream 1 und 2 in dänischen und schwedischen Gewässern hat die NATO ihre Meeresüberwachung intensiviert. Zum Schutz kritischer Infrastruktur habe das Militärbündnis seine Präsenz in der Nord- und Ostsee "auf mehr als 30 Schiffe verdoppelt", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel. Diese würden von Seeaufklärungsflugzeugen und "Unterwasserkapazitäten" unterstützt. Die Sicherheitsmaßnahmen rund um sensible Einrichtungen seien erhöht und der Austausch von Geheimdienstinformationen verstärkt worden.

Stoltenberg drohte für den Fall eines gezielten Angriffs auf die kritische Infrastruktur der Alliierten - neben Pipelines auch Unterwasserkabel und das Stromnetz - mit einer "geschlossenen und entschlossenen Antwort". Die Art der Reaktion werde von der Art des Angriffs abhängen, so der Norweger. Selbst die Ausrufung des NATO-Bündnisfalls sei bei einer weitreichenden Attacke nicht ausgeschlossen.

Explosionen mit großer Wucht

An den von Russland nach Deutschland führenden Pipelines Nord Stream 1 und 2 waren vor der dänischen Insel Bornholm vier Lecks entdeckt worden. Die nicht in Betrieb befindlichen Leitungen waren aus technischen Gründen mit Gas gefüllt, das zeitweise in großen Mengen in die Ostsee strömte. Einem offiziellen dänisch-schwedischen Bericht zufolge gehen die Schäden auf Explosionen mit enormer Sprengkraft zurück. Unter anderem die EU und die NATO hatten unmittelbar darauf von Sabotage als Ursache für die Explosionen gesprochen. 

G7: Werden Putin zur Rechenschaft ziehen

Die sieben führenden Industriestaaten des Westens haben die jüngsten russischen Raketenangriffe auf die Ukraine scharf verurteilt. Nach einer Videokonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erinnerten die Staats- und Regierungschefs daran, dass "wahllose Angriffe auf unschuldige Zivilisten ein Kriegsverbrechen" darstellten. Man werde Kremlchef Wladimir Putin und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.

Bundeskanzler Olaf Scholz (2. v. l.) nimmt an der Videokonferenz der G7-Staaten teilBild: Steffen Kugler/Bundesregierung/dpa/picture alliance

Die G7 verurteilten zugleich die "illegal versuchte Annexion" von vier ukrainischen Regionen durch Russland und bekräftigten, sie würden diese niemals anerkennen. Auch "vorsätzliche russische Eskalationsschritte", einschließlich der Teilmobilisierung von Reservisten und "unverantwortlicher nuklearer Rhetorik, die den Weltfrieden und die globale Sicherheit aufs Spiel setzt", lehne man entschieden ab.

Jeder Einsatz chemischer, biologischer oder nuklearer Waffen durch Russland hätte schwerwiegende Folgen, warnten die Staats- und Regierungschefs. Dem ukrainischen Präsidenten sicherten sie weitere finanzielle, humanitäre und militärische Hilfe zu. Der "Gruppe der Sieben" gehören neben den USA auch Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan und Kanada an.

USA wollen Ukraine Luftabwehrsysteme liefern

US-Präsident Joe Biden hatte dem ukrainischen Präsidenten  bereits zuvor weitere Militärhilfe "einschließlich fortschrittlicher Luftabwehrsysteme" versprochen. Biden habe Selenskyj bei einem Telefonat zugesichert, "die Ukraine weiterhin mit allem zu versorgen, was sie für ihre Verteidigung benötigt", teilte das Weiße Haus in Washington mit.

US-Präsident Biden will der Ukraine moderne Luftabwehrsysteme liefern (Archivbild)Bild: picture alliance / Consolidated News Photos

Der US-Präsident habe Selenskyj außerdem sein Beileid nach den massiven russischen Luftangriffen auf Kiew und andere ukrainische Städte ausgesprochen. Die USA haben seit dem russischen Einmarsch der Ukraine bisher Hilfe in Höhe von mehr als 16,8 Milliarden Dollar zukommen lassen. 

Selenskyj stimmt sich international ab 

Selenskyj bezeichnete im Kurzbotschaftendienst Twitter das Gespräch mit Biden als "produktiv". Er fügte hinzu: "Die Luftabwehr ist derzeit die oberste Priorität unserer Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich". In seiner abendlichen Videoansprache betonte Selenskyj, er habe nicht nur mit dem US-Präsidenten gesprochen, sondern er habe nach den russischen Raketenangriffen auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Polens Staatschef Andrzej Duda und UN-Generalsekretär Antonio Guterres beraten. Weitere Gespräche gab es mit den Regierungschefs Justin Trudeau (Kanada), Mark Rutte (Niederlande) und Liz Truss (Großbritannien).

Bei der groß angelegten russischen Angriffsserie auf ukrainische Städte, darunter erstmals seit Juni auch wieder die Hauptstadt Kiew, waren am Montag nach jüngsten ukrainischen Polizeiangaben mindestens 19 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt worden. Insgesamt habe Russland mehr als 80 Raketen abgefeuert.

Die Regierung in Moskau führte als Grund die Explosion einer LKW-Bombe auf der strategisch wichtigen Krim-Brücke am Wochenende an, die nach Ansicht der russischen Regierung vom ukrainischen Geheimdienst platziert worden war. Für den Fall weiterer "Terroranschläge" drohte der russische Präsident Wladimir Putin mit einer noch härteren Antwort.

Von diesem Haus in Saporischschja blieb nach einem russischen Raketenangriff am Montag nicht viel übrig Bild: Jose Colon/AA/picture alliance

Neue Luftangriffe auf die Ukraine

Mehrere ukrainische Regionen sind an diesem Dienstag abermals mit russischen Raketen und Kampfdrohnen beschossen worden. Die Behörden in Saporischschja im Süden meldeten Angriffe mit russischen Raketen. In der Umgebung der Hauptstadt Kiew und im Gebiet Chmelnyzkyj habe es Explosionen gegeben, die Luftabwehr sei eingesetzt worden, teilten offizielle Stellen mit. Die Behörden riefen die Menschen auf, in Kellern und Bunkern Schutz suchen. Auch in Kiew selbst gab es Luftalarm.

Das Gebiet Dnipropetrowsk wurde demnach ebenso beschossen wie erneut die Region Lwiw (ehemals Lemberg) in der Westukraine. Dort gab es laut Behörden Angriffe auf Energieanlagen. Auch die gleichnamige Regionalhauptstadt sei angegriffen worden. In einem Drittel der Stadt gebe es keinen Strom mehr, teilte Bürgermeister Andrii Sadowji auf Telegram mit. 

Kremlnahe russische Militärblogger bestätigten den massiven Beschuss der Ukraine mit Raketen. Der ukrainische Generalstab erklärte auf Twitter, man habe am 11. Oktober insgesamt 20 russische Raketen sowie 13 Flugkörper mit Streumunition abgefangen.

Mehr als 100 Gräber in Lyman gefunden

Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft in Kiew wurden in zwei von der ukrainischen Armee zurückeroberten Städten in der östlichen Region Donezk die Leichname zahlreicher Zivilisten gefunden. In Swjatohirsk seien 34 Leichen und in Lyman 44 exhumiert worden. Einige wiesen Spuren eines "gewaltsamen Todes" auf. Insgesamt habe man auf einem Friedhof in Lyman mehr als 100 Gräber entdeckt.

Die ukrainische Armee hat im Rahmen einer Gegenoffensive von Russland besetzte Gebiete zurückerobert. An mehreren Orten wurden nach ukrainischen Angaben im Anschluss Massengräber und Leichen mit Folterspuren gefunden. Der Kreml bestreitet, dass russische Truppen für die Gräueltaten verantwortlich sind.

Türkei fordert sofortige Waffenruhe

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hat Russland und die Ukraine zu einer Feuerpause aufgerufen. "Eine Waffenruhe muss so schnell wie möglich erreicht werden. Je schneller, desto besser", sagte Cavusoglu in einem Fernsehinterview. Beide Parteien hätten sich seit den Gesprächen zwischen russischen und ukrainischen Unterhändlern im März in Istanbul (über ukrainische Getreideexporte) von der Diplomatie entfernt. 

Cavusoglu forderte auch einen "gerechten Frieden für die Ukraine". "Wo findet der Krieg statt? Er findet auf ukrainischem Boden statt", sagte der Minister. "Es sollte ein Prozess starten, der die Grenzen und territoriale Integrität der Ukraine sicherstellt", fuhr er fort. 

Nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP trifft der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an diesem Mittwoch den russischen Staatschef Putin am Rande eines Regionalgipfels in der kasachischen Hauptstadt Astana. Erdogan versucht seit einiger Zeit, Putin und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu Gesprächen über einen Waffenstillstand zusammenzubringen. 

Die OSZE nennt es "Terror"

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sieht die jüngsten russischen Angriffe in der Ukraine als "Terror" gegen die Zivilbevölkerung. "Diese abscheulichen militärischen Aktionen bedeuten die völlige Missachtung des Völkerrechts und des Kriegsvölkerrechts", heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme von OSZE-Führungspersönlichkeiten.

Polens Außenminister und OSZE-Vorsitzender Zbigniew Rau verurteilt die russischen Angriffe als "Terror" (Archivbild)Bild: Cem Ozdel/AA/picture alliance

"Das einzige Motiv für diese brutalen und grausamen Taten ist das Verbreiten von Terror, um taktisches und strategisches Versagen zu kompensieren", sagte die OSZE-Spitze, darunter Polens Außenminister und OSZE-Vorsitzender Zbigniew Rau sowie die deutsche OSZE-Generalsekretärin Helga Maria Schmid.

Russland ist einer der 57 Mitgliedstaaten der OSZE. Die in Wien ansässige Organisation überwachte jahrelang den brüchigen Waffenstillstand zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten in der Ostukraine. Nach Beginn der russischen Invasion zogen die OSZE-Beobachter ab.

Geheimdienste: Russland geht Munition aus

Den russischen Truppen geht nach Einschätzung britischer Geheimdienste im Ukraine-Krieg zunehmend die Munition aus. "Wir wissen, und das wissen auch russische Kommandeure im Krieg, dass ihnen die Ausrüstung und Munition ausgehen", sagte der Direktor des britischen Geheimdienstes GCHQ, Jeremy Fleming, laut dem Sender BBC. Der russische Präsident mache strategische Fehler.

Russland setzt Meta-Konzern auf Liste "terroristischer und extremistischer" Gruppen

Russland hat den US-Technologieriesen Meta, der unter anderem die Netzwerke Facebook, Instagram und WhatsApp betreibt, auf seine Liste "terroristischer und extremistischer Gruppen" gesetzt. Der von Mark Zuckerberg geführte Konzern steht in einer Datenbank der russischen Finanzaufsicht Rosfinmonitoring nun auf einer Stufe mit ausländischen Terrorgruppen wie den Taliban sowie russischen Oppositionsgruppierungen.

Schon im März wurden Facebook und Instagram in Russland mit der Begründung zensiert, sie führten "extremistische Aktivitäten" durch. Russische Behörden warfen Meta damals vor, die Plattformen tolerierten "Russophobie" im Zuge des als "Spezialoperation" bezeichneten Krieges. Seitdem sind beide Plattformen nurmehr über technische Hilfsmittel wie VPN-Dienste zu erreichen.

Vollversammlung ist gegen geheime Abstimmung

In New York scheiterte Russland mit dem Versuch, eine Abstimmung in der UN-Vollversammlung über seine Referenden in der Ukraine geheim abhalten zu lassen. Das Gremium votiert mit 107 Stimmen dafür, die für Mittwoch erwartete Abstimmung öffentlich zu vollziehen. Dagegen stimmten 13 Staaten, 39 enthielten sich der Stimme; die übrigen Länder votierten nicht.

Der Sitzungssaal der UN-Vollversammlung in New York (Archivbild)Bild: Spencer Platt/Getty Images

Die Resolution soll Russlands "illegale sogenannte Referenden" verurteilen wie auch die "versuchte illegale Annexion" der vier zugehörigen ukrainischen Regionen. Russland hatte argumentiert, wegen westlichen Drucks sei eine geheime Abstimmung notwendig, da es sonst "sehr schwierig werden könnte, wenn die Positionen öffentlich dargelegt werden". 

Polen appelliert an seine Bürger

Polen rät angesichts zunehmender Spannungen im Zuge des Ukraine-Kriegs seinen Bürgern, das Nachbarland Belarus zu verlassen. "Wir empfehlen polnischen Bürgern in Belarus, aus dem Land mit Privatfahrzeugen oder öffentlichen Verkehrsmitteln auszureisen", teilt die Regierung in Warschau auf ihrer Internetseite mit.

Außerdem rät die Regierung von Reisen nach Belarus ab, das mit Russland verbündet ist. Belarus will nach eigenen Angaben mit Russland eine gemeinsame militärische Eingreiftruppe einsetzen, um auf eine Verschärfung der Spannungen an den westlichen Grenzen des Landes zu reagieren. 

UN-Flüchtlingskommissar rechnet mit Fluchtbewegungen

Nach den russischen Raketenangriffen auf Kiew und andere ukrainische Städte geht UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi von einem Anstieg der Flüchtlingszahlen aus. "Die Bombardierung von Zivilisten" und "nicht-militärischer Infrastruktur" bedeute, "dass der Krieg härter und schwieriger für Zivilisten wird", sagte Grandi in Genf. "Ich fürchte, dass die Ereignisse der vergangenen Stunden mehr Flucht nach sich ziehen." Nach seiner Einschätzung wird vor allem die Zahl der Binnenflüchtlinge zunehmen.

Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar wurden europaweit bereits mehr als 7,6 Millionen ukrainische Flüchtlinge registriert. Einige von ihnen kehrten in ihr Heimatland zurück, mehr als 4,2 Millionen Ukrainern wurde ein temporärer Schutzstatus in EU-Ländern zugestanden. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gibt es zudem fast sieben Millionen Binnenvertriebene in der Ukraine. 

Migrationsbeauftragte fürchtet harten Kriegswinter

Die Migrationsbeauftragte der deutschen Regierung, Reem Alabali-Radovan, hat Vorbereitungen auf mögliche neue Fluchtbewegungen aus der Ukraine gefordert. Zurzeit seien die Zahlen der neu ankommenden Geflüchteten aus der Ukraine mit rund 150 pro Tag zwar weiter rückläufig, "aber ein harter Kriegswinter kann das ändern", sagte Alabali-Radovan dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Deutschlands Migrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan (Archivbild)Bild: Malte Ossowski/Sven Simon/picture alliance

Eine veränderte Fluchtbewegung träfe zunächst den direkten Nachbarn Polen und auch Tschechien, sagte sie. "Wir müssen daher in engem Austausch mit unseren Nachbarländern bleiben und bereit sein zur weiteren Aufnahme von Menschen, die vor Krieg und großer Not aus der Ukraine fliehen." Vor dem deutschen Flüchtlingsgipfel an diesem Dienstag nannte die SPD-Politikerin die Aufnahme und Unterbringung Geflüchteter "eine große gemeinsame Kraftanstrengung" von Bund, Ländern und Kommunen. "Aufnahme und Verteilung laufen im Großen und Ganzen gut", fügte sie hinzu, "aber nicht immer und nicht überall".

Die Bundesregierung stellt den Ländern weitere 56 Immobilien zur Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung. Das kündigte Bundesinnenministerin Nancy Faeser nach einem Gespräch mit Vertretern von Ländern und Kommunen in Berlin an. Bislang seien vom Bund bereits mehr als 64.000 Objekte bereitgestellt worden.

jj/ehl/haz/AR/se/sti (dpa, rtr, afp, ap)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

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