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Politik

Aktuell: Putin greift Westen verbal scharf an

17. Juni 2022

Als "richtungsweisend" war die Rede des russischen Präsidenten in St. Petersburg angekündigt worden. Mit Blick auf einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine machte Putin eine überraschende Aussage. Ein Überblick.

Russland St. Petersburg | Wladimir Putin | International Economic Forum SPIEF
Russlands Präsident Wladimir Putin in St. PetersburgBild: Sergei Bobylev/TASS/dpa/picture alliance

 

Das Wichtigste in Kürze: 

  • Putin greift Westen verbal massiv an
  • EU-Kommission spricht sich für Ukraine als EU-Beitrittskandidat aus
  • Frankreich erhält kein russisches Gas mehr über Pipelines
  • Britischer Premier Johnson besucht erneut Kiew
  • Kein Eurovision Song Contest in der Ukraine 

 

Russlands Präsident Wladimir Putin hat den Westen verbal scharf attackiert. Die USA agierten, als seien sie von Gott mit heiligen Interessen auf die Erde geschickt worden, sagte Putin auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg. "Unsere westlichen Kollegen denken immer noch in Kategorien des vergangenen Jahrhunderts, sie behandeln andere Länder wie Kolonien." Er betonte, nichts in der internationalen Politik werde so sein, wie es einmal gewesen sei.

Für sein Land beanspruchte Putin eine führende Rolle bei der Gestaltung der globalen Machtverhältnisse. Russland sei Teil einer neuen Weltordnung. Es sei offensichtlich, dass die Regeln dieser Ordnung von starken und souveränen Staaten festgelegt würden. "Wir sind ein starkes Volk und können mit jeder Herausforderung fertig werden. Wie unsere Vorfahren werden wir jedes Problem lösen, davon zeugt die gesamte tausendjährige Geschichte unseres Landes", so Putin.

"Erzwungen und notwendig"

Der Kremlchef rechtfertigte den seit fast vier Monaten andauernden Krieg gegen die Ukraine erneut als alternativlos. Die Sanktionen des Westens bezeichnete er als "wahnsinnig" und "gedankenlos". "Vor dem Hintergrund zunehmender Risiken und Bedrohungen für uns war die Entscheidung Russlands, eine militärische Spezial-Operation durchzuführen, (...) erzwungen und notwendig", erklärte er. Der Westen habe die Ukraine zuvor "buchstäblich mit seinen Waffen und seinen Militärberatern aufgepumpt". Putin hatte der Ukraine bereits in der Vergangenheit - ohne Belege zu liefern - einen "Völkermord" an russischsprachigen Menschen in den vergangenen Jahren vorgeworfen.

Die Rede des Präsidenten ist traditionell der Höhepunkt des russischen WirtschaftsforumsBild: Sergei Bobylev/TASS/dpa/picture alliance

Mit Blick auf einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine gab sich der Präsident betont gelassen. "Wir haben nichts dagegen", sagte er. "Es ist die souveräne Entscheidung jedes Landes, Wirtschaftsbündnissen beizutreten oder nicht beizutreten." Die EU sei im Gegensatz zur NATO keine militärische Organisation. Ob die EU gut beraten wäre, die Ukraine aufzunehmen, stehe auf einem anderen Blatt. Das Land werde umfangreiche Wirtschaftshilfe benötigen, zu der möglicherweise einige EU-Mitglieder nicht bereit seien. Putins Sprecher Dmitri Peskow hatte zuvor erklärt, Russland beobachte die Beitrittspläne aufmerksam, und dabei auf Bestrebungen zur Stärkung der EU-Verteidigungspolitik verwiesen.

Der Auftritt des Präsidenten in St. Petersburg hatte sich um mehr als eine Stunde verzögert. Ein Kremlsprecher begründete dies mit einem Hackerangriff auf das Einlasssystem. Die Rede des Präsidenten vor internationalem Publikum ist jedes Jahr der Höhepunkt des Wirtschaftstreffens, das in diesem Jahr zum 25. Mal abgehalten wird.

EU-Kommission spricht sich für Ukraine als EU-Beitrittskandidat aus

Die EU-Kommission plädiert dafür, der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen. "Ja, die Ukraine verdient den Kandidatenstatus", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel. Die Menschen dort seien bereit, für den "europäischen Traum" zu sterben. Auch das Nachbarland Moldawien soll demnach Kandidat werden. Einstimmig entscheiden müssen dies die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsländer auf ihrem Gipfeltreffen Ende nächster Woche.

Für Georgien empfahl die Kommissionschefin vorerst nur eine "europäische Perspektive" ohne offiziellen Kandidatenstatus.

Boris Johnson besucht erneut Kiew

Der britische Premierminister Boris Johnson ist zu Gesprächen in Kiew eingetroffen. Er freue sich, mit Johnson "einen großen Freund unseres Landes" erneut begrüßen zu können, schrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Telegram. Johnson erklärte auf Twitter, es sei "gut, wieder in Kiew zu sein".

Der konservative Premier überbrachte das Angebot einer britisch-geführten Ausbildungsmission, die das Potenzial habe, "ausschlaggebend für den Kriegsverlauf" zu sein. Regierungsangaben zufolge sollen dabei bis zu 10.000 Soldaten innerhalb von nur 120 Tagen ausgebildet werden können. Großbritannien hat seit 2015 mehr als 22.000 Personen in der Ukraine für das Militär ausgebildet. Seit Beginn des Krieges findet das Training jedoch in Nachbarländern statt.

"Großer Freund unseres Landes": Wolodymyr Selenskyj (rechts) über Boris JohnsonBild: Ukrainian Presidential Press Office /AP/picture alliance

Das Vereinigte Königreich unterstützt die Ukraine seit Beginn des Krieges mit Waffenlieferungen. Unter anderem will London wie die USA und Deutschland Mehrfachraketenwerfer liefern. Erwogen wird laut Verteidigungsminister Ben Wallace zudem die Lieferung von Anti-Schiffs-Raketen. Johnson war bereits im April als erster führender Vertreter eines G7-Staats in die Ukraine gereist.

Frankreich erhält kein Gas mehr über Pipelines

Frankreich erhält kein russisches Gas mehr über Pipelines. Wie der französische Netzbetreiber GRTgaz mitteilte, ist dies bereits seit Mittwoch der Fall und der "Unterbrechung des Gasflusses zwischen Frankreich und Deutschland" geschuldet. Der russische Energiekonzern Gazprom drosselte auch die Lieferung von Erdgas an Italien. Das Unternehmen sagte dem Land für heute 50 Prozent der bestellten Liefermenge zu.

Ebenfalls stark gedrosselt wurden die Lieferungen an die Slowakei, wie deren Gasversorger SPP bestätigte. Seit diesem Freitag erhalte SPP aus Russland nur 50 Prozent des vertraglich vereinbarten Volumens, hieß es. Schon in den Tagen zuvor seien die Liefermengen schrittweise verringert worden. Die Versorgung sei aber vorerst nicht gefährdet, die inländischen Speicher seien zu 52 Prozent gefüllt. Die Slowakei deckte lange Zeit mehr als 80 Prozent ihres Gasbedarfs mit Einfuhren aus Russland. Zuletzt reduzierte das EU-Land schrittweise seine Abhängigkeit.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck Bild: Britta Pedersen/dap/picture alliance

Die Bundesnetzagentur, die die Gasflüsse nach Deutschland überwacht, bezeichnete die Situation als "angespannt". Die Versorgung sei "derzeit" aber gewährleistet. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sprach angesichts der russischen Drosselung der Erdgaslieferungen von einer ernsten Lage. Die Situation sei eine Kraftprobe zwischen den westlichen Alliierten und Präsident Putin, sagte Habeck der ARD. Zwar seien die Gasspeicher zu 56 Prozent gefüllt. "Das ist überdurchschnittlich gut." Der Minister gab jedoch zu bedenken: "Wir können nicht mit 56 Prozent in den Winter gehen." Er rief Firmen und Bürger nochmals dazu auf, Energie zu sparen.

Biden warnt Landsleute vor Ukraine-Reisen

Nach der möglichen Gefangennahme von mindestens zwei freiwilligen US-Kämpfern in der Ukraine hat Präsident Joe Biden eindringlich davor gewarnt, in das Kriegsland zu reisen. "Amerikaner sollten nicht in die Ukraine gehen", sagte Biden in Washington. Er sei über die vermissten US-Bürger "unterrichtet" worden, wisse aber nicht, wo sie sich befänden.

"Amerikaner sollten nicht in die Ukraine gehen": US-Präsident Joe Biden (Archivbild)Bild: Kevin Lamarque/REUTERS

Berichten zufolge waren in der vergangenen Woche zwei als freiwillige Kämpfer in die Ukraine gereiste Amerikaner in russische Gefangenschaft geraten. Nach Angaben ihrer Familien sowie von Parlamentariern waren die Veteranen zuletzt an Gefechten nördlich der Stadt Charkiw beteiligt. Inzwischen gilt auch ein dritter US-Bürger vermisst.

Merkel: Putin war zu Gipfel nicht mehr bereit

Altbundeskanzlerin Angela Merkel hat eingeräumt, dass ihr Einfluss auf Putin in ihrer letzten Regierungsphase schwand. "Es war ja klar, dass ich nicht mehr lange im Amt sein würde, und so muss ich einfach feststellen, dass verschiedene Versuche im vorigen Jahr nichts mehr bewirkt haben", sagte Merkel im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Putin sei nicht mehr zu einem Gipfeltreffen im sogenannten Normandie-Format mit Vertretern Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs bereit gewesen, sagte die CDU-Politikerin. "Andererseits gelang es mir auch nicht, neben dem Normandie-Format ein zusätzliches europäisch-russisches Gesprächsformat über eine europäische Sicherheitsordnung zu schaffen."

Schwindender Einfluss: Altbundeskanzlerin Angela Merkel (Archivbild)Bild: picture alliance/dpa

Darauf angesprochen, ob sie als Vermittlerin für eine Lösung im Ukraine-Krieg zur Verfügung stünde, sagte Merkel: "Diese Frage stellt sich derzeit nicht." Sie schloss in dem Gespräch nicht aus, dass Putin mit seinem Angriffskrieg möglicherweise bis zu ihrem Abschied aus dem Amt gewartet hat. "Mein Ausscheiden kann ein Beitrag gewesen sein wie zum Beispiel auch die Wahl in Frankreich, der Abzug der Truppen aus Afghanistan und das Stocken der Umsetzung des Minsker Abkommens" sagte Merkel.

Erbitterte Kämpfe in der Region Luhansk

In der ostukrainischen Region Luhansk wird weiter erbittert um die Großstadt Sjewjerodonezk gekämpft. Die russischen Truppen haben nach Einschätzung britischer Geheimdienst-Experten ihre Bemühungen fortgesetzt, den Ring um die Stadt von Süden zu schließen. "In den vergangenen 24 Stunden haben russische Kräfte wahrscheinlich weiterhin versucht, auf der Popasna-Achse die Oberhand zu bekommen, von der sie den Kessel von Sjewjerodonezk vom Süden her einkreisen wollen", hieß es in dem täglichen Update zum Ukraine-Krieg auf der Webseite des britischen Verteidigungsministeriums.

Ukrainische Zivilisten und Sicherheitskräfte suchen nach Überlebenden nach einem Angriff in LysychanskBild: Efrem Lukatsky/AP/picture alliance

Eine Rettung der 568 Zivilisten aus dem Chemiewerk in Sjewjerodonezk ist nach ukrainischen Angaben wegen anhaltenden Beschusses durch die russischen Truppen derzeit unmöglich. Es gebe schwere Kämpfe, teilte der Gouverneur der ostukrainischen Region Luhansk, Serhij Hajdaj, mit. Unter den Schutzsuchenden in den Bunkern der Anlage seien auch 38 Kinder.

Die Chemiefabrik liegt nach russischem Artillerie- und Raketenbeschuss offenbar fast vollständig in Trümmern. "Es gibt insgesamt auf dem Territorium des Chemiegiganten keine erhalten gebliebenen Verwaltungsgebäude mehr", schreibt Hajdaj auf seinem Telegram-Kanal.

Russisches Schiff bei Angriff schwer beschädigt

Im Schwarzen Meer hat das ukrainische Militär nach eigenen Angaben einen russischen Schlepper mit Raketen angegriffen und schwer beschädigt. Selbst das an Bord vorhandene Luftabwehrsystem habe den Angriff der ukrainischen Seestreitkräfte nicht abwehren können, teilte die ukrainische Marine in sozialen Netzwerken mit. Das 2017 in Dienst genommene Schiff habe Munition, Waffen und Soldaten zur seit Ende Februar von Russland besetzten Schlangeninsel bringen sollen. 

Der Militärgouverneur von Odessa, Maxym Martschenko, hatte anfänglich vom Einsatz westlicher "Harpoon"-Raketen geschrieben. Er änderte seinen Eintrag beim Kurzmitteilungsdienst Telegram später wieder. Schiffsabwehrraketen des Typs waren von Dänemark geliefert worden. Eine Bestätigung der russischen Flotte für den Angriff lag zunächst nicht vor.

Ukraine führt Visumspflicht für Russen ein

Die Ukraine führt angesichts des Krieges eine Visumspflicht für russische Staatsbürger ein. Die Regelung trete Anfang Juli in Kraft, erklärte Präsident Selenskyj auf Telegram. Die Ukraine müsse "den beispiellosen Bedrohungen ihrer nationalen Sicherheit, Souveränität und territorialen Integrität" entgegenwirken. Regierungschef Denys Schmyhal erklärte wenig später: "Wir brechen die Verbindungen zu Russland endgültig ab."

Die Befreiung von der Visumspflicht für russische Staatsbürger galt seit der Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion im Jahr 1991. Die Zahl der Russen, die in die Ukraine reisen, hat nach Angaben der ukrainischen Behörden seit der Annexion der Krim 2014 stetig abgenommen.

Kein ESC in der Ukraine

Auch für das kulturelle Leben hat der russische Angriffskrieg massive Folgen: Der nächste Eurovision Song Contest (ESC) findet deshalb nicht beim diesjährigen Sieger Ukraine statt. Das teilte die Europäische Rundfunkunion in Genf mit. Stattdessen wolle man Gespräche mit der BBC führen, ob der ESC 2023 in Großbritannien ausgerichtet werden könne.

Die Band Kalush Orchestra gewann für die Ukraine den 66. Eurovision Song Contest im MaiBild: Sander Koning/ANP/IMAGO

Der ukrainische Kulturminister Olexander Tkatschenko verlangte, die Entscheidung zurückzunehmen. Kiew sei ohne eine Diskussion vor die Tatsache der Verlegung gestellt worden, beklagte er auf Facebook. "Wir haben Antworten und Garantien zu den Sicherheitsvorkehrungen und dem möglichen Austragungsort für den Wettbewerb gegeben." Eine ESC-Austragung in der Ukraine wäre ein starkes Signal für die ganze Welt, schrieb Tkatschenko weiter.

Ein "historischer Tag"

Nach dem Besuch von vier europäischen Spitzenpolitikern in Kiew sprach der ukrainische Präsident von einem "historischen Tag" für sein Land. "Die Ukraine hat die Unterstützung von vier mächtigen europäischen Staaten gespürt", sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. Noch nie seit ihrer Unabhängigkeit sei die Ukraine so dicht an die Europäische Union herangerückt.

Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und Rumäniens Präsident Klaus Iohannis hatten am Donnerstag Kiew besucht. Sie unterstützten während der Gespräche mit Selenskyj das EU-Beitrittsgesuch der Ukraine. 

Gerichtshof appelliert an Russland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Russland aufgefordert, die Hinrichtung eines Marokkaners durch pro-russische Separatisten in der Ostukraine zu verhindern. Die Regierung in Moskau solle sicherstellen, dass die verhängte Todesstrafe "nicht vollzogen wird", heißt es in einer Eilentscheidung des in Straßburg ansässigen Gerichts. Es kam damit einer Petition nach, die ein Rechtsvertreter des Marokkaners eingereicht hatte.

Das höchste Gericht der selbsternannten "Volksrepublik Donezk" hatte den Marokkaner sowie zwei Briten vor einer Woche zum Tode verurteilt. Das Gericht warf den drei Männern vor, als Söldner für die Ukraine gekämpft zu haben. Die Verurteilten bestreiten dies.

Die USA riefen den Kreml dazu auf, ausländische Kämpfer in der ukrainischen Armee, die sich in der Gewalt der russischen Armee befinden, gemäß den Genfer Konventionen als Kriegsgefangene zu behandeln. 

se/AL/nob/gri/jj/AR (dpa, afp, rtr) 

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.