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Politik

Aktuell: Russische Angriffe stürzen Millionen in Not

25. November 2022

Die Vereinten Nationen ziehen eine erste Bilanz nach den Attacken auf die kritische Infrastruktur der Ukraine. In der Hauptstadt Kiew sind weiter zwei Drittel der Haushalte ohne Elektrizität. Ein Überblick.

Ukraine Kiew | Zerstörung der Strominfrastruktur
Stromausfall: Ein junges Paar ist am Donnerstag im dunklen Zentrum von Kiew unterwegsBild: Evgeniy Maloletka/AP/picture alliance

Das Wichtigste in Kürze:

  • In weiten Teilen der Ukraine ist Strom weiter Mangelware
  • Baerbock beruft Treffen zu Soforthilfe ein
  • Sieben Tote bei erneutem Beschuss von Cherson
  • NATO lieferte Kiew Störsender
  • Vier Atommeiler wieder am Netz

 

Bei russischen Attacken auf die kritische Infrastruktur der Ukraine sind nach Angaben der Vereinten Nationen seit Oktober mindestens 77 Zivilisten getötet worden. "Millionen von Menschen werden durch diese Angriffe in extreme Not und entsetzliche Lebensbedingungen gestürzt", sagte UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk. Russland bestreitet, mit seinen Angriffen gezielt Zivilisten ins Visier zu nehmen.

Teile der ukrainischen Hauptstadt und andere Regionen des Landes sind weiterhin ohne Zugang zu Elektrizität. Die Hälfte der Menschen in Kiew sei von Stromausfällen betroffen, erklärte Bürgermeister Vitali Klitschko. Nur ein Drittel der Wohnungen könne dort beheizt werden. Die Energieunternehmen planten, im Laufe dieses Freitags alle Haushalte im Wechsel mit Strom zu versorgen.

Der Chef des staatlichen Stromversorgers Ukrenergo, Wolodymyr Kudryzkyj, erklärte auf Facebook, er gehe davon aus, dass das ukrainische Energiesystem nach dem Angriff "die schwierigste Phase hinter sich" habe. Die Stromversorgung sei teilweise wiederhergestellt. Das Energiesystem sei zudem wieder mit dem Energiesystem der Europäischen Union verbunden worden. Zwischenzeitlich war auch die Wasserversorgung ausgefallen.

Bewohner der ukrainischen Hauptstadt füllen nach einem Ausfall der Wasserversorgung am Mittwoch Flaschen aufBild: Evgeniy Maloletka/AP/picture alliance

Baerbock beruft Treffen zu Soforthilfe ein

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat für die kommende Woche zu Beratungen über internationale Nothilfen zur Sicherung der ukrainischen Energieversorgung geladen. Die Sitzung werde am Rande des NATO-Außenministertreffens in Bukarest im erweiterten G7-Rahmen stattfinden, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Auch Japan sei zugeschaltet.

Eine Regierungssprecherin kündigte an, die Bundesregierung werde ihre Hilfen angesichts der gezielten russischen Angriffe auf ukrainische Infrastruktur verstärken. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums hat das Technische Hilfswerk bereits 431 Stromgeneratoren für die Ukraine angeschafft, die zum großen Teil schon geliefert worden seien.

Minister wirbt für mehr Wiederaufbauhilfe

Der ukrainische Finanzminister Serhij Martschenko hatte zuvor um mehr finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau seines Landes geworben. Der derzeitige Haushalt müsse nach Möglichkeit aufgestockt werden.

"Die Unterstützung durch unsere internationalen Partner ist für uns von entscheidender Bedeutung", ergänzte der Minister mit Verweis auf die von der EU bereits zugesagten 18 Milliarden Euro. Im August schätzte die Weltbank die Kosten für die Instandsetzung der ukrainischen Infrastruktur auf 105 Milliarden Dollar.

UN: Videos von toten russischen Soldaten "höchstwahrscheinlich" echt

Wie der UN-Kommissar weiter mitteilte, halten die Vereinten Nationen kürzlich aufgetauchte Filmsequenzen, die tote russische Soldaten zeigen sollen, für höchstwahrscheinlich authentisch. Das habe eine Analyse von Experten der UN-Menschenrechtsmission am Ort ergeben, erklärte Türk. Die ukrainischen Behörden hätten eine Untersuchung eingeleitet. Auf den Videos ist zu sehen, wie sich mehrere Männer - augenscheinlich russische Soldaten, die von Ukrainern bewacht werden - auf den Boden legen. Dann sind Schüsse zu hören. Eine weitere Sequenz zeigt knapp ein Dutzend Leichen.

Russland wirft den ukrainischen Streitkräften vor, die Soldaten, die sich ergeben hätten, hinterrücks erschossen zu haben. Die ukrainische Armee sprach hingegen von einem Akt der Selbstverteidigung. Einer der russischen Soldaten habe - statt sich wie die anderen vor ihm zu ergeben - das Feuer eröffnet. Der Vorfall soll sich Mitte November zugetragen haben. Makijiwka liegt im Gebiet Luhansk im Osten des Landes. Gefangene sind laut der Genfer Konvention vor Gewalt, aber auch vor Einschüchterungen, Beleidigungen und öffentlicher Neugier zu schützen.

Viele Tote bei Angriffen auf Cherson

Durch russischen Beschuss der südukrainischen Stadt Cherson sind nach Behördenangaben mindestens fünfzehn Menschen getötet und viele weitere verletzt worden. Die erst kürzlich durch ukrainische Truppen wieder befreite Stadt sei mit Artillerie und Mehrfachraketenwerfern beschossen worden, teilte Gebietsgouverneur Jaroslaw Januschewytsch mit.

Zwei Personen in Cherson machen sich ein Bild von den SchädenBild: Bernat Armangue/AP/picture alliance

Ein Hochhaus habe durch den Beschuss Feuer gefangen. Ein Geschoss sei auf einem Kinderspielplatz eingeschlagen. "Der heutige Tag ist eine weitere schreckliche Seite in der Geschichte unserer Heldenstadt", schrieb der Gouverneur auf Telegram.

Unter dem Druck ukrainischer Angriffe hatten russische Truppen Cherson und ihren Brückenkopf auf dem nordwestlichen Ufer des Dnipro Mitte November geräumt. Die Russen halten aber Stellungen auf der anderen Flussseite und setzen von dort ihre Artillerie ein.

Selenskyj: "Wir müssen so weitermachen"

Ein Dreivierteljahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Widerstandsgeist seines Landes beschworen. "Wir haben neun Monate lang einen umfassenden Krieg überstanden, und Russland hat keinen Weg gefunden, uns zu brechen. Und es wird keinen finden", sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. "Wir müssen so weitermachen wie jetzt gerade, in Einigkeit und gegenseitiger Hilfe."

Staatschef Selenskyj bei einer Videokonferenz (Archivbild)Bild: Albert Zawada/dpa/PAP/picture alliance

Selenskyj hält weiterhin an einer Befreiung der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim als Kriegsziel fest. Das sagte er der britischen Zeitung "Financial Times". "Wenn uns jemand einen Weg aufzeigt, wie die Besetzung der Krim mit nicht-militärischen Mitteln beendet werden kann, dann werde ich sehr dankbar dafür sein", wurde er zitiert. Wenn ein Vorschlag aber bedeute, dass die Krim besetzt und Teil Russlands bleibe, "sollte niemand darauf seine Zeit verschwenden".

Der Kreml warf dem ukrainischen Präsidenten umgehend vor, keine friedliche Beilegung des Konflikts um die 2014 annektierte Halbinsel Krim zu wollen. Selenskyj wolle die Krim mit militärischer Gewalt wieder zur Ukraine zurückholen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Das aber käme einer "Enteignung russischen Territoriums" gleich, betonte er mit Blick auf das völkerrechtswidrig von Moskau einverleibte Gebiet. "Das kommt gar nicht in Frage", so Peskow. Für die Führung in Moskau hat die Krim eine hohe strategische und symbolische Bedeutung.

Kanzler Scholz sagt der Ukraine nochmals weitere Hilfe zu

Neun Monate nach dem russischen Angriff hat Bundeskanzler Olaf Scholz versichert, Deutschland werde der Ukraine auch künftig beistehen. "Die Ukraine kann sich darauf verlassen, dass wir sie weiterhin umfangreich finanziell, humanitär und auch mit Waffen unterstützen werden, und zwar so lange, wie es nötig sein wird", sagte der SPD-Politiker in einem Interview des Magazins "Focus". Deutschland zähle zu den Ländern, die der Ukraine am stärksten hülfen. Das gelte auch für Waffenlieferungen. Die bereitgestellten Panzerhaubitzen und Flakpanzer Gepard seien sehr wirkungsvoll. Der Kanzler verwies zudem auf Mehrfachraketenwerfer und das Flugabwehrsystem Iris-T.

Scholz wollte sich nicht dazu äußern, wie lange der Krieg noch dauern wird, betonte aber: "Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen." Und es dürfe keinen Einsatz von Nuklearwaffen geben, das habe die internationale Staatengemeinschaft unmissverständlich deutlich gemacht.

"Ukraine kann sich auf Deutschland verlassen": Bundeskanzler Olaf Scholz (Archivbild)Bild: Jens Krick/Flashpic/picture alliance

Die aktuelle Kriegsstrategie der Führung in Moskau geht nach Einschätzung von Scholz nicht auf. Der Versuch des russischen Militärs, mit schweren Raketenangriffen den ukrainischen Widerstandsgeist zu brechen, gelinge trotz der furchtbaren Zerstörungen erkennbar nicht. "Auch die Hoffnung Russlands, eine neue Fluchtbewegung aus der Ukraine könnte die Unterstützung der europäischen Länder gefährden, erweist sich als Irrtum", sagte der Kanzler weiter. Es sei aber unklar, welche Schlüsse Russland aus seinem Scheitern ziehe.

Nordatlantikpakt liefert Störsender

Die NATO hat den Streitkräften der Ukraine Störsender zur Drohnenabwehr geliefert. Die sogenannten Jammer seien Teil eines umfassenden Unterstützungspakets, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel. Es umfasse auch Treibstoff, medizinisches Material und Winterausrüstung.

Die Jammer sollen der Ukraine insbesondere dabei helfen, Angriffe mit Kamikaze-Drohen abzuwehren. Die elektromagnetischen Sender stören das Navigations- oder Kommunikationssystem der Drohnen. Die russische Armee greift nach Angaben aus Kiew seit Oktober verstärkt mit Kamikaze-Drohnen an. Den ukrainischen Luftstreitkräften zufolge werden dabei vor allem Fluggeräte iranischer Bauart genutzt.

Atomkraftwerke wieder am Netz

Die vier ukrainischen Atomkraftwerke (AKW) sind nach Angaben der Internationalen Atomenergieagentur IAEA wieder am Netz. Die Kraftwerke in Riwne, Piwdennoukrainsk und Chmelnyzkyj seien an die externe Stromversorgung angeschlossen, teilt die Agentur mit. Nach den heftigen Raketenangriffen durch Russland waren sie in dieser Woche vom Netz genommen worden. Das AKW Saporischschja wurde bereits am Donnerstag wieder angeschlossen. Es befindet sich auf ukrainischem Boden, wird aber von Russland kontrolliert. Es wurde mehrfach beschossen. Für die Angriffe machen sich Russland und die Ukraine gegenseitig verantwortlich. Um eine atomare Katastrophe zu vermeiden, bemüht sich die IAEA um die Einrichtung einer Sicherheitszone um das größte AKW Europas.

Litauen fordert "Anpassung der Sanktionen"

Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda hat die EU-Kommission dazu aufgefordert, ihren Sanktionskurs anzupassen und mehr Druck auf Russland auszuüben. Die Sanktionspolitik wirke sich manchmal stärker auf die Volkswirtschaften der EU-Staaten aus denn auf Russland, sagte er nach einem Treffen mit seinem rumänischen Amtskollegen Klaus Iohannis in Vilnius.

Litauens Staatschef Nauseda (links) im Juli mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj in KiewBild: Efrem Lukatsky/AP Photo/picture alliance

Nauseda verwies als Beispiel auf die Finanzergebnisse von Gazprom, die "alles andere als schlecht" seien. Der russische Energieriese habe zwar viel weniger Gas verkauft, aber von dem starken Anstieg der Gaspreise profitieren können, sagte der Staatschef des baltischen EU- und NATO-Landes. Die EU-Kommission sollte daher die Auswirkungen der Sanktionspolitik bewerten und ihren Kurs in die erforderliche Richtung korrigieren.

Litauen habe seit jeher die härtesten Sanktionen befürwortet, sagte Nauseda und forderte die EU dazu auf, so bald wie möglich ein neuntes Sanktionspaket zu verabschieden. "Es sollte der entscheidende Schritt nach vorne sein", betonte der litauische Staatspräsident. Enthalten sollte es etwa weitere Beschränkungen für die Militärindustrie, russische Banken und die Atombehörde Rosatom. 

Ungarn verzögert NATO-Erweiterung

Ungarn will den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands erst im kommenden Jahr ratifizieren. Die zwei Staaten hatten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mit ihrer jahrzehntelangen Tradition der militärischen Bündnisneutralität gebrochen und im Mai einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft gestellt. 

Taktisches Zögern: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban (Archivbild)Bild: Bart Maat/ANP/picture alliance

"Wie wir Schweden und Finnland bereits mitgeteilt haben, unterstützt Ungarn die NATO-Mitgliedschaft dieser beiden Länder", sagte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban vor Journalisten. Die Ratifizierung werde auf dem Programm der ersten Parlamentssitzung im nächsten Jahr stehen, erklärte er. Diese soll im Februar beginnen.

Der Aufnahme der beiden nordischen Länder in die NATO müssen sämtliche Mitglieder des Militärbündnisses zustimmen. Außer Ungarn und der Türkei haben dies bereits alle getan.

Putin empfängt Soldatenmütter

Kremlchef Wladimir Putin hat Mütter getöteter sowie derzeit kämpfender Soldaten getroffen. Staatliche russische Medien veröffentlichten ein kurzes Video, das zeigt, wie Putin mehr als ein Dutzend ausgewählter Frauen in seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo im Moskauer Gebiet empfängt und ihnen Kaffeetassen reicht. "Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir diesen Schmerz mit Ihnen teilen, und dass wir natürlich alles dafür tun werden, damit Sie sich nicht vergessen fühlen", sagte Putin, an die Familien der Getöteten gerichtet. Laut offiziellen Angaben waren insgesamt 17 Frauen aus verschiedenen russischen Regionen und aus völkerrechtswidrig von Moskau annektierten Gebieten der Ostukraine angereist.

Demonstrative Sorge: Kremlchef Putin in seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo mit SoldatenmütternBild: Alexander Shcherbak/SPUTNIK/AFP/Getty Images

Angesichts militärischer Niederlagen sind auf Putins Befehl seit Ende September rund 300.000 Reservisten für die Kämpfe in der Ukraine eingezogen worden. Die Teilmobilmachung erwies sich als äußerst unpopuläre Maßnahme und löste in Russland eine regelrechte Massenflucht sowie die größten Anti-Kriegs-Proteste seit Monaten aus. Organisiert wurden die Demonstrationen oft von Frauen.

jj/uh/kle/sti/gri/wa (afp, rtr, dpa)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

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