1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Konflikte

Aktuell: Russland kämpft um völlige Kontrolle

1. Juni 2022

Nur noch 20 Prozent der Stadt Sjewjerodonezk sollen unter ukrainischer Kontrolle sein. Der Regionalgouverneur rechnet bald mit der Einnahme durch Russland. Bundeskanzler Scholz will weitere Waffen liefern. Ein Überblick.

Ukraine, Sjewjerodonezk | Kriegsschäden an einem Wohnhaus
Zerstörung in Sjewjerodonezk - Das Foto wird von der russischen Agentur TASS zur Verfügung gestelltBild: Alexander Reka/TASS/dpa/picture alliance

     

Das Wichtigste in Kürze:

  • Gouverneur rechnet mit baldiger Einnahme von Sjewjerodonezk
  • Scholz sagt Ukraine Flugabwehrsystem zu 
  • Selenskyj befürwortet "neue Einschränkungen gegen Russland"
  • Russland warnt wegen US-Waffenlieferung vor Eskalation
  • UN hoffen auf Wiederaufnahme von Getreidelieferungen

Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Gajdaj, schrieb am Mittwoch bei Telegram, dass russische Truppen 70 Prozent der Industriestadt Sjewjerodonezk kontrollierten. Der Bürgermeister der Stadt, Olexandr Strjuk, sprach gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters von 60 Prozent. Ukrainische Streitkräfte halten demnach nur noch 20 Prozent. Die restlichen 20 Prozent seien zu Niemandsland geworden, sagt Strjuk. 12.000 bis 13.000 Menschen hielten sich noch in Sjewjerodonezk auf. Gegenwärtig sei es nicht möglich, sie in Sicherheit zu bringen oder ihnen Lebensmittel zu liefern.

"Wenn die Russen in zwei bis drei Tagen Sjewjerodonezk unter ihre Kontrolle bringen, werden sie dort Artillerie und Mörser aufstellen und Lyssytschansk stärker bombardieren", schrieb Gouverneur Gajdaj weiter.

Die durch einen Fluss getrennten Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk sind die letzten in der Region Luhansk, die zumindest teilweise noch von der Ukraine kontrolliert werden. Lyssytschansk ist nach Einschätzung Gajdajs schwerer einzunehmen, da die Stadt auf einer Anhöhe liegt.

Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums befinden sich auf russischer Seite unter den russischen Streitkräften auch Kämpfer aus Tschetschenien.

Giftige Dämpfe nach russischem Angriff auf Chemieanlage

Bei den Angriffen auf Sjewjerodonezk wurde offenbar auch ein Salpetersäuretank getroffen. Der Regionalgouverneur Gajdaj rief die Bevölkerung auf, "in Sodalösung getränkte Gesichtsmasken bereitzuhalten", um sich gegen giftige Dämpfe zu wappnen. "Angesichts der Tatsache, dass es in Sjewjerodonezk eine groß angelegte Chemieproduktion gibt, sind die Schläge der russischen Armee in dieser Stadt mit wahllosen Luftangriffen einfach verrückt", sagte Präsident Selenskyj in seiner Videobotschaft.

Deutsche Lieferung von Flugabwehrsystem 

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat für die kommenden Wochen die Lieferung weiterer Waffensysteme an die Ukraine angekündigt. Die Bundesregierung habe entschieden, dass die Ukraine das Luftverteidigungssystem Iris-T erhalten solle, sagte Scholz in der Generaldebatte zum Haushalt 2022 im Bundestag. Dies sei das modernste Flugabwehrsystem, über das Deutschland verfüge. "Damit versetzen wir die Ukraine in die Lage, eine ganze Großstadt vor russischen Luftangriffen zu schützen."

Bundeskanzler Scholz kontert im Bundestag den Kritikern seiner Ukraine-Politik Bild: Michael Kappeler/picture alliance/dpa

Darüber hinaus werde Deutschland der Ukraine "ein hochmodernes Ortungsradar liefern", sagte Scholz. Er wies dabei Vorwürfe der Opposition zurück, Deutschland sei bei der Lieferung schwerer Waffen zu zögerlich. Außerdem sei Abgabe von Gepard-Flugabwehrpanzern und der Panzerhaubitze 2000 geplant. Bereits geliefert seien mehr als 15 Millionen Schuss Munition, hunderttausende Handgranaten und 5000 Panzerabwehrminen. Hinzu kämen umfangreiches Sprengmaterial, Maschinengewehre und dutzende Lastwagenladungen etwa mit Material zur Drohnenabwehr.

Oppositionsführer Friedrich Merz hat Bundeskanzler Olaf Scholz zuvor mangelnde Unterstützung der Ukraine bei der Abwehr des russischen Angriffskriegs vorgehalten. Mehr als einen Monat nach einem entsprechenden Beschluss des Bundestags seien zugesagte schwere Waffen nicht geliefert worden, so der CDU-Chef in der Generaldebatte zum Haushalt 2022. Anlässlich der Aussprache über den Etat des Kanzleramts liefern sich Regierung und Opposition traditionell einen Schlagabtausch über aktuelle Themen. 

Selenskyj für weitere Sanktionen

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat der EU für das inzwischen sechste Sanktionspaket im Zuge des russischen Angriffskriegs gedankt und zugleich neue Strafmaßnahmen gefordert. Es sei ein siebtes Paket notwendig, sobald die Schritte in dem sechsten Paket umgesetzt seien, sagte er in seiner am Dienstagabend veröffentlichten Videoansprache. "Letzten Endes sollte es gar keine nennenswerten wirtschaftlichen Verbindungen mehr zwischen der freien Welt und dem Terrorstaat geben", betonte er.

Selenskyj wendet sich täglich per Videobotschaft an seine Landsleute und an die internationale StaatengemeinschaftBild: Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance

"Wir werden an neuen Einschränkungen gegen Russland für diesen Krieg arbeiten." Dank des geplanten Öl-Boykotts der EU verliere Russland "Dutzende Milliarden Euro", die nun nicht mehr für die Finanzierung des Terrors genutzt werden könnten. Der Verzicht auf russisches Öl helfe auch beim Übergang auf erneuerbare Energien in der Europäischen Union, meinte Selenskyj. Russland hingegen werde insgesamt wirtschaftlich verlieren und weiter isoliert. 

"Verteidiger zeigen äußersten Mut"

Angesprochen auf die aktuelle militärische Lage erklärte der ukrainische Präsident, die Streitkräfte seines Landes blieben an der Front im Moment "Herr der Lage" - ungeachtet der technischen und personellen Überlegenheit der russischen Armee. Er rief die Ukrainer auf, sich nicht nur anzuschauen, wo die Lage schwierig sei. Das Bild an der Front sei vielmehr komplex.

Selenskyj betonte, die ukrainischen Streitkräfte hätten einige Erfolge nahe der Stadt Cherson im Süden des Landes erzielt und sie würden in Teilen der Region Charkiw östlich von Kiew vorstoßen. "Unsere Verteidiger zeigen äußersten Mut."

Baerbock hält "Zeitspiel" für "brandgefährlich"

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat vor den Folgen gewarnt, falls die neue Strategie des russischen Präsidenten im Donbass aufgehen sollte. Der ARD sagte die Grünen-Politikerin, Wladimir Putin habe zu Beginn des Krieges angenommen, er könnte schnell und brutal einmarschieren und dann die Ukraine niedermachen. Doch das habe so nicht funktioniert. Stattdessen versuche er nun, den Donbass zu erobern.

Bundesaußenministerin Baerbock warnt vor einer neuen russischen Strategie in der UkraineBild: Marcus Brandt/dpa/picture alliance

Sollte ihm das gelingen, könnte er sich in der Region dauerhaft festsetzen und darauf spekulieren, dass die EU kriegsmüde werde. "Dieses Zeitspiel ist brandgefährlich", sagt Baerbock. Selbst wenn dann die Waffen schwiegen, würde dies nicht bedeuten, dass dann Frieden herrsche. "Der Kreml würde seine Truppen in dieser Situation neu sortieren." Es sei unabdingbar, die Ukraine weiter zu unterstützen, um dieses Szenario zu verhindern.

Russland warnt wegen weiterer US-Militärhilfe vor Eskalation

Russland hat mit harter Kritik auf die Ankündigung der USA reagiert, das Artilleriesystem HIMARS an die Ukraine zu liefern. Seine Regierung sehe dies als "extrem negativ" an, sagte Vize-Außenminister Rjabkow. Die Entscheidung der USA, ein fortschrittliches Raketensystem und Munition zu liefern, erhöhe das Risiko einer direkten Konfrontation. 

Die US-Regierung liefert der Ukraine im Rahmen eines neuen Sicherheitspakets moderne Mehrfachraketenwerfer. Aus dem Weißen Haus hieß es, die Ukraine habe zugesichert, mit dem in den USA hergestellten Artilleriesystem keine Ziele auf russischem Territorium anzugreifen. Das System sei Teil eines Pakets im Wert von 700 Millionen Dollar (652 Millionen Euro), das daneben unter anderem Geschosse, Radarsysteme, Panzerabwehrwaffen vom Typ Javelin, Hubschrauber, Fahrzeuge und Ersatzteile beinhalte. 

US-Präsident Biden: "Wir wollen keinen Krieg zwischen der NATO und Russland"Bild: Michael Reynolds/MediaPunch/IMAGO

US-Präsident Joe Biden schrieb in einem Gastbeitrag für die "New York Times", mit den modernen Raketensystemen solle das angegriffene Land in die Lage versetzt werden, "wichtige Ziele auf dem Schlachtfeld in der Ukraine" präziser zu treffen. Biden versicherte zugleich: "Wir wollen keinen Krieg zwischen der NATO und Russland." Die USA versuchten auch nicht, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu stürzen. Wenn Russland aber keinen hohen Preis für den Angriff auf die Ukraine bezahlen müsse, könne das zum Ende der regelbasierten internationalen Ordnung und zu katastrophalen Folgen weltweit führen. 

Lieferliste von Gazprom wird kürzer

Der russische Energiekonzern Gazprom bestätigte unterdessen den Stopp seiner Gas-Lieferungen an mehrere europäische Energieversorger ab Mittwoch. Das Unternehmen teilte mit, es habe die Lieferungen an den niederländischen Versorger Gasterra "vollständig beendet", später meldete Gazprom einen Lieferstopp an das dänische Unternehmen Orsted und den britisch-niederländischen Konzern Shell. Grund sei die Weigerung der Unternehmen, in Rubel zu zahlen.

Die Niederlande beziehen von Russland rund 15 Prozent ihres Erdgasbedarfs, rund sechs Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Dänemark deckt 18 Prozent seines Energiebedarfs mit Erdgas ab, drei Viertel davon gewinnt das Land aus eigenen Vorkommen. Russland hatte schon zuvor seine Gaslieferungen nach Finnland, Bulgarien und Polen unterbrochen - ebenfalls mit der Begründung, dass die Lieferungen nicht mehr in Rubel bezahlt würden.

Als Reaktion auf die Sanktionen durch die Europäische Union gegen Russland hatte der russische Präsident Wladimir Putin gefordert, dass "unfreundliche" Länder russisches Gas künftig in Rubel über Konten in Russland zahlen müssten. Vertraglich waren Zahlungen in Euro oder Dollar vereinbart.

Gazprom beliefert mehrere europäische Energieversorger nicht mehr mit GasBild: Natalia Kolesnikova/AFP/Getty Images

Die Europäische Kommission lehnt die vom Kreml verlangte Bezahlung russischen Gases in Rubel ab und betrachtet sie als Verletzung der EU-Sanktionen. Die Energieversorger sind unter der Aufsicht der EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, die mit Gazprom abgeschlossenen Verträge einzuhalten. 97 Prozent davon sehen die Bezahlung in Dollar oder Euro vor.

Kommen Getreide-Exporte wieder in Gang?

Die Vereinten Nationen bemühen sich angesichts weltweit angestiegener Lebensmittelpreise um die Wiederaufnahme der Getreide-Exporte aus Russland und der Ukraine. Die UN-Beamtin Rebecca Grynspan habe konstruktive Gespräche mit dem stellvertretenden russischen Ministerpräsidenten Andrej Belousow über Getreide- und Düngemittelausfuhren in Moskau geführt, hieß es in New York.

Vergangenen Monat war UN-Generalsekretär Antonio Guterres nach Moskau und Kiew gereist, um die Wiederaufnahme der ukrainischen Lebensmittelexporte und der russischen Lebensmittel- und Düngemittelausfuhren zu vermitteln. Russlands Krieg in der Ukraine hat eine weltweite Nahrungsmittelkrise ausgelöst, in deren Folge die Preise für Getreide, Speiseöl, Treibstoff und Düngemittel in die Höhe schossen.

Auf Russland und die Ukraine entfällt fast ein Drittel der weltweiten Weizenlieferungen. Russland ist zudem ein wichtiger Exporteur von Düngemitteln, die Ukraine von Mais und Sonnenblumenöl.

Millionen Kinder brauchen Hilfe

Die Vereinten Nationen wiesen auch mit Blick auf die Getreide-Engpässe auf das Leid der Kinder in der Ukraine hin. Drei Millionen Kinder in der Ukraine und mehr als 2,2 Millionen Kinder in den Ländern, die Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen haben, sind nach Angaben des Kinderhilfswerks UNICEF auf humanitäre Hilfe angewiesen. 

Szene aus einem Schulcamp im Westen der UkraineBild: Emmanuelle Chaze/DW

Viele Familie könnten ihre Grundbedürfnisse nicht mehr decken und ihre Kinder nicht ausreichend versorgen. Der Krieg in der Ukraine habe verheerende Auswirkungen auf das Leben der Kinder - in einer Geschwindigkeit und einem Ausmaß wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg, heißt es. 

bri/rb/haz/wa (dpa, rtr, afp)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen