1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Aktuell: "Russland stoppen, bevor es zu spät ist"

19. September 2022

Selenskyj appelliert nach einem Einschlag in der Nähe eines Atomkraftwerks einmal mehr an die Welt. Berichte über Kriegsverbrechen nennt der Kreml "Lügen". Berlin schickt weitere Artilleriegeschütze. Ein Überblick.

Zersprungene Fensterscheiben am AKW Südukraine
Zersprungene Fensterscheiben am AKW SüdukraineBild: South Ukraine Nuclear Power Plant Press Office/AP/picture alliance

Das Wichtigste in Kürze:

  • Kiew: Russen haben AKW in Mykolajiw beschossen
  • Bundeswehr gibt vier weitere Panzerhaubitzen 2000 an die Ukraine ab
  • Kreml nennt Berichte über Kriegsverbrechen in Isjum "Lügen"
  • Ukrainisches Militär berichtet von weiterem strategischen Erfolg
  • Populäre russische Sängerin übt massive Kremlkritik

 

In der Nähe des Atomkraftwerks (AKW) Südukraine ist nach Angaben des ukrainischen Präsidenten eine russische Rakete eingeschlagen. Wolodymyr Selenskyj warf Russland die Gefährdung der ganzen Welt vor. "Wir müssen es stoppen, solange es nicht zu spät ist", schrieb er in den sozialen Netzwerken. Auch der ukrainische Kraftwerksbetreiber Energoatom berichtete von einem Raketenangriff auf das Industriegelände beim AKW. Dabei seien drei Hochspannungsleitungen und eine Anlage des nahen Wasserkraftwerks beschädigt worden.

Vier Meter breit, zwei Meter tief: Dieses Bild soll den Krater zeigen, den der Einschlag einer Rakete nahe des AKW Südukraine verursacht hatBild: South Ukraine Nuclear Power Plant Press Office/AP/picture alliance

In dem Kraftwerksgebäude selbst seien mehr als 100 Fenster durch die Druckwelle zerstört worden. Der Konzern veröffentlichte Fotos von einem Krater mit vier Metern Durchmesser und zwei Metern Tiefe. Das AKW Südukraine liegt knapp 300 Kilometer südlich der Hauptstadt Kiew. Im Betrieb befinden sich drei Reaktoren mit einer Nettoleistung von 2850 Megawatt.

Berlin schickt weitere Artilleriegeschütze

Die Ukraine soll von der Bundeswehr vier weitere Panzerhaubitzen erhalten. Die Lieferung werde unverzüglich in die Wege geleitet, heißt es aus dem Verteidigungsministerium in Berlin.

Bei der Panzerhaubitze 2000 handelt es sich um schwere Artilleriegeschütze mit einer Reichweite von bis zu 40 Kilometern. Die Lieferung soll auch ein Munitionspaket beinhalten. Die Ukraine hatte bei der Bundesregierung den Wunsch nach weiteren Haubitzen geäußert.

Experten: Putin setzt zunehmend auf Improvisation

Russlands Präsident Wladimir Putin muss wegen hoher Kriegsverluste offenbar auf Alternativen zu seinen regulären Truppen setzen. Der Kreml konzentriere sich immer mehr darauf, schlecht vorbereitete Freiwillige in irregulären improvisierten Einheiten zu rekrutieren, statt sie als Reserve oder Ersatz für reguläre russische Truppen einzusetzen, schreiben Analysten des Institute for the Study of War (ISW) mit Sitz in Washington.

Einen Grund dafür sehen die US-Experten in Putins getrübtem Verhältnis zur eigenen Militärführung, insbesondere nach den jüngsten Gebietsverlusten. Die Bildung solcher improvisierten Einheiten werde zu weiteren Spannungen, Ungleichheit und einem Mangel an Geschlossenheit unter den Truppenteilen führen, heißt es in dem ISW-Bericht weiter.

London: Russische Luftwaffe unter Druck

Ein ukrainischer Soldat bei den Trümmern einer russischen Su-25 (Archivbild)Bild: Efrem Lukatsky/AP Photo/picture alliance

Nach britischer Einschätzung gerät die russische Luftwaffe in der Ukraine zunehmend unter Druck. In den vergangenen zehn Tage habe Russland offensichtlich vier Kampfjets verloren und damit insgesamt 55 Maschinen seit Beginn des Angriffs Ende Februar. Das teilte das Verteidigungsministerium in London unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit. Der Anstieg der Verluste sei womöglich teilweise darauf zurückzuführen, dass die russische Luftwaffe ein größeres Risiko eingehe, um ihre Bodentruppen unter dem Druck ukrainischer Vorstöße aus nächster Nähe zu unterstützen, hieß es weiter. 

Kreml nennt Berichte über Kriegsverbrechen "Lügen"

Der Kreml hat die ukrainischen Vorwürfe zu hunderten Gräbern in der Nähe der Stadt Isjum im Osten der Ukraine als "Lügen" zurückgewiesen. "Wir werden natürlich die Wahrheit in dieser Geschichte verteidigen", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Nach Angaben ukrainischer Behörden wurden nach der Rückeroberung des lang von russischen Truppen besetzten Gebietes von Isjum durch ukrainische Einheiten mehr als 440 Gräber und ein Massengrab entdeckt.

Ein ukrainischer Soldat inspiziert mit einem Metalldetektor ein Massengrab bei der zurückeroberten Stadt Isjum Bild: Evgeniy Maloletka/AP/dpa/picture alliance

Seit Beginn der russischen Intervention in der Ukraine hat Russland mehrfach dementiert, dort Gräueltaten verübt zu haben. "Das ist dasselbe Szenario wie in Butscha", sagte Peskow mit Blick auf eine andere ukrainische Stadt in der Nähe von Kiew, wo den russischen Einheiten nach deren Abzug ebenfalls Gräueltaten vorgeworfen worden waren.

Separatisten in der Ostukraine verurteilen OSZE-Mitarbeiter zu 13 Jahren Haft

In Luhansk hat ein Gericht zwei örtliche Mitarbeiter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu je 13 Jahren Haft verurteilt. Die Urteile seien wegen angeblicher Spionage für die Ukraine und die Vereinigten Staaten ergangen, meldet die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass. 

Die OSZE hatte bereits bei Bekanntwerden des Verfahrens die Vorwürfe zurückgewiesen und eine sofortige Freilassung ihrer Mitarbeiter verlangt. Insgesamt sollen in Luhansk und Donezk vier örtliche OSZE-Mitarbeiter festgenommen worden sein. Die Männer seien in der Ukraine nur ihren Dienstpflichten nachgekommen, die ihnen von den 57 Mitgliedsländern der OSZE aufgetragen worden waren, sagte OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid in Wien. Die Organisation hatte seit 2014 unter anderem die Abmachungen entlang der Frontlinie zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und der ukrainischen Armee überwacht.

Selenskyj kündigt Rückeroberung weiterer Gebiete an

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat neue Angriffe in den von russischen Truppen besetzten Gebieten in der Ukraine angekündigt. "Vielleicht erscheint es irgendjemandem unter Ihnen so, dass nach einer Reihe von Siegen Stille eingetreten ist, doch das ist keine Stille", sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache. Vielmehr sei es die Vorbereitung auf die nächste Offensive, deren Ziel unter anderem die Rückeroberung von Mariupol und Cherson sei.

Die scheinbare Stille ist laut Selenskyj nur die Ruhe vor dem nächsten SturmBild: Valentyn Ogirenko/REUTERS

Nach Angaben Selenskyjs wird sich die Ukraine nicht nur auf die Gebiete konzentrieren, die es vor dem russischen Überfall im Februar kontrolliert hat. Auch die Territorien der von Moskau unterstützten Separatisten im Osten des Landes und Städte auf der seit 2014 von Russland annektierten Krim würden zurückerobert, kündigte der 44-Jährige an. "Denn die gesamte Ukraine muss frei sein."

Russland hat nach seinem Einmarsch in der Ukraine am 24. Februar große Gebiete im Süden und Osten des Landes erobert. Derzeit hält Moskau immer noch rund 125.000 Quadratkilometer besetzt - das ist etwa ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebietes inklusive der Halbinsel Krim.

Ukrainisches Militär berichtet von weiterem strategischen Erfolg 

Nach der erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Armee im Gebiet Charkiw, scheint nun offenbar auch die anschließend von russischen Truppen errichtete neue Frontlinie am Ostufer des Flusses Oskil zu wackeln. Laut Angaben des ukrainischen Militärs ist es gelungen an dem Fluss Truppenteile überzusetzen und damit einen Brückenkopf gen Osten zu bilden. "Die ukrainischen Streitkräfte haben den Oskil überwunden. Seit gestern kontrolliert die Ukraine auch das linke Ufer", teilte die Pressestelle der ukrainischen Streitkräfte per Video auf ihrem Telegram-Kanal mit. Zuvor gab es Berichte, dass Kiew sich die Kontrolle über den Ostteil der Stadt Kupjansk gesichert habe.

Bei ihrer Gegenoffensive Anfang September waren die ukrainischen Kräfte im Gebiet Charkiw bis an den Oskil vorgestoßen. Dahinter bauten die russischen Truppen nach ihrem Rückzug eine neue Frontlinie auf und wehrten mehrere Versuche der Ukrainer ab, den Fluss zu überqueren. Die Bildung eines Brückenkopfs auf der Ostseite des Oskil wäre ein strategisch wichtiger Erfolg für die ukrainischen Truppen. Damit könnten sie ihren Angriff Richtung Gebiet Luhansk fortsetzen. Über den genauen Ort der Flussquerung machte das Militär keine Angaben.

Baerbock: "Wir können den Schritt nicht alleine gehen"

Deutschland kann nach Worten von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock nur im Schulterschluss mit internationalen Partnern Kampfpanzer in die Ukraine liefern. "Derzeit geht keiner der internationalen Partner den Schritt", sagte die Grünen-Politikerin in der ARD-Sendung "Anne Will". "Wir können den Schritt nicht alleine gehen."

Bei allen bisherigen Waffenlieferungen an die Ukraine habe sich Deutschland hier abgestimmt. "Ich glaube, das ist auch wahnsinnig richtig", sagte Baerbock. Durch die westlichen Lieferungen in den vergangenen Wochen habe es einen wirklichen Wandel im Krieg gegeben, so die Ministerin mit Blick auf jüngste Rückeroberungen ukrainischer Truppen von den russischen Besatzern.

Baerbock ist in der Kampfpanzer-Frage auf einer Linie mit Kanzler ScholzBild: Political-Moments/IMAGO

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat wiederholt darauf gepocht, dass die Bundesregierung nicht im Alleingang über Kampfpanzer-Lieferungen an die Ukraine entscheiden wird. "Wir werden bei allem, was wir tun, keine Alleingänge machen", bekräftigte er am Wochenende im Deutschlandfunk.

Wachsende Sorgen in der deutschen Industrie

Die deutsche Wirtschaft steuert nach Einschätzung der Bundesbank auf einen längeren Konjunktureinbruch zu - bis ins kommende Jahr hinein. "Es mehren sich die Anzeichen für eine Rezession der deutschen Wirtschaft im Sinne eines deutlichen, breit angelegten und länger anhaltenden Rückgangs der Wirtschaftsleistung", hieß es im Monatsbericht der Notenbank. Grund sei in erster Linie die gestörte Energieversorgung als Folge des Ukraine-Krieges. Der Industrieverband BDI sieht die Industrie auf dem Weg in eine schwere Rezession in den kommenden Monaten, "mit Ausstrahleffekten auf die gesamte Wirtschaft".

"Russische Erdölproduktion schwer zu ersetzen"

Der Ersatz russischer Erdöllieferungen dürfte für die westliche Welt ein schwieriges Unterfangen werden. Zu dieser Einschätzung kommt die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in ihrem Quartalsbericht. Eine Begrenzung russischer Ölexporte dürfte mit starken und lang anhaltenden Preisanstiegen einhergehen, erwartet die BIZ. Zudem könnten sich Auswirkungen auf andere Bereiche wie die Lebensmittelpreise ergeben.

Wegen des Ukraine-Kriegs wollen viele westliche Länder russisches Rohöl künftig meiden. Ein grundsätzliches Problem ist der große Marktanteil der russischen Ölproduktion. Allein zehn Prozent aller weltweiten Erdölexporte entfielen auf Russland, erläuterte die BIZ. Ein bedeutender Wegfall russischer Ölprodukte wäre daher ein großer negativer Schock für die Weltwirtschaft.

Verhandlungen aus ukrainischer Sicht aussichtslos

In Kiew hält man ein Treffen zwischen dem russischen Staatschef Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zum jetzigen Zeitpunkt für wenig erfolgversprechend. Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sagte ukrainischen Medien zufolge: "Der Verhandlungsprozess an sich und ein persönliches Treffen der Präsidenten ergeben derzeit keinen Sinn."

Verhandlungen zwischen Russland und Ukraine Ende März in IstanbulBild: Turkish Presidency/AP/dpa/picture alliance

Podoljak nannte drei Gründe, warum Gespräche in dieser Phase zwecklos seien. Erstens werde Russland dabei versuchen, Geländegewinne festzuhalten und zu legitimieren. Zweitens diene das Festhalten des Status quo Russland nur als Atempause, um dann die Angriffe fortsetzen zu können. Und drittens müsse Russland für die auf ukrainischem Terrain begangenen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

Verhandlungen seien erst möglich, wenn sich die russischen Truppen von ukrainischem Gebiet zurückgezogen hätten, erklärte Podoljak. Dann könne über die Höhe der Reparationszahlungen und die Herausgabe von Kriegsverbrechern verhandelt werden.

"EU muss Friedensmacht werden"

Das katholische Osteuropahilfswerk Renovabis sieht die Europäische Union (EU) und Deutschland in der Pflicht, sich stärker als Friedensmacht zu engagieren. Es gehe darum, neue Kriege im postsowjetischen Raum zu verhindern, appellierte Renovabis-Leiter Thomas Schwartz an die Verantwortlichen in Brüssel und Berlin.

Die jüngsten militärischen Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien sowie im Grenzgebiet zwischen Kirgistan und Tadschikistan sehe er mit Sorge. Im Schatten des russischen Kriegs gegen die Ukraine dürften die anderen Bedrohungen des Friedens in der Nachbarschaft nicht vergessen werden.

Ukraine zieht Blauhelme aus Kongo ab

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat offenbar ein weiteres unerwartetes Opfer gefordert. Betroffen ist die UN-Friedensmission MONUSCO, von der Kiew nun seine Blauhelme abzog, wie die Vereinten Nationen mitteilten. Beobachter sehen darin einen weiteren Dämpfer für den Friedenserhalt in der Demokratischen Republik Kongo.

Blauhelmsoldat in der Demokratischen Republik KongoBild: Moses Sawasawa/AP Photo/picture alliance

Die Soldaten hätten auf Aufforderung der ukrainischen Regierung das zentralafrikanische Land Richtung Kiew verlassen, schrieben Vertreter von MONUSCO am Wochenende auf Twitter. Laut deren Internetseite waren 250 ukrainische Soldaten im Kongo stationiert. Berichten zufolge verliert die UN-Mission mit dem Abzug der Ukrainer ein Drittel ihrer Hubschrauberflotte.

MONUSCO ist die größte Friedensmission der Vereinten Nationen. Ihre Soldaten kämpfen gegen 120 Rebellengruppen im Ostkongo an. Zuletzt demonstrierten Tausende Kongolesen gegen die Anwesenheit der Blauhelme. Sie werfen ihnen vor, die Zivilbevölkerung nicht ausreichend zu schützen. Kirchenführer plädieren seit Jahren erfolglos für eine Waffenruhe.

Russische Sängerin fordert Ende des Krieges

Die äußerst populäre russische Popsängerin Alla Pugatschowa hat ungewöhnlich deutliche Kritik am russischen Angriffskrieg in der Ukraine geübt. Nachdem ihr Ehemann Maxim Galkin von den Behörden als "ausländischer Agent" eingestuft wurde, forderte die 73-Jährige das Justizministerium auf, mit ihr genauso zu verfahren.

Alla Pugatschowa bei einem Auftritt mit Udo Lindenberg Ende der 80er-JahreBild: Thomas Frey/IMAGO

Wie Galkin wolle sie "ein Ende des Sterbens unserer Jungs für illusionäre Ziele, die unser Land zum Paria machen und das Leben seiner Bürger schwer belasten". Sie stehe solidarisch mit ihrem Ehemann, "der ein ehrlicher und gewissenhafter Mensch ist, ein wahrer und unbestechlicher russischer Patriot, der sich nur Wohlergehen, Frieden und Meinungsfreiheit in seinem Vaterland wünscht", schrieb Pugatschowa. 

Die Sängerin ist seit Sowjetzeiten ein Superstar in ihrer Heimat. Medienberichten zufolge verließ sie Russland nach Beginn der russischen Offensive in der Ukraine, ebenso wie ihr Mann, ein Fernsehmoderator. Zuletzt war Pugatschowa Anfang September beim Begräbnis des letzten Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow in Moskau gesehen worden.

gri/wa/nob/ww/rb/sti (AFP, AP, dpa, KNA, epd, Reuters)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen