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Politik

Aktuell: Scholz telefoniert mit Putin und fordert Rückzug

13. September 2022

Erstmals seit Monaten hat Kanzler Scholz wieder mit Russlands Präsident Putin telefoniert. Dabei verlangte er eine diplomatische Lösung. Derweil bekommt das Atomkraftwerk Saporischschja wieder Strom. Der Überblick.

Kombobild I  Olaf Scholz und  Wladimir Putin
Kanzler Olaf Scholz und Präsident Wladimir PutinBild: Johanna Geron/Sergei Guneyev/AFP

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Scholz dringt in Telefonat mit Putin auf Rückzug aus Ukraine

  • Wieder Strom für Kühlung des Atomkraftwerks Saporischschja

  • Offensive in Region Charkiw macht weitere Fortschritte 

  • UN sehen weiter Probleme beim russischen Teil des Getreideabkommens

  • Russland: Lokalpolitiker fordern Putins Rücktritt

 

Bundeskanzler Olaf Scholz hat in einem Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen vollständigen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine gefordert. In dem 90-minütigen Gespräch habe der Kanzler darauf gedrungen, "dass es so schnell wie möglich zu einer diplomatischen Lösung komme", teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit mit. Diese müsse auf einem Waffenstillstand, einem vollständigen Rückzug der russischen Truppen und der Achtung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine basieren.

Scholz hatte nach Angaben eines Regierungssprechers zuletzt Ende Mai mit Putin telefoniert. Damals sprachen Scholz und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron gemeinsam mit dem russischen Präsidenten. Seit dem Telefonat im Mai hat es im Kriegsgebiet weitere dramatische Entwicklungen gegeben. So ging es im jüngsten Telefonat nach Angaben der Regierung nun auch um die Lage am Atomkraftwerk Saporischschja. Scholz habe die Notwendigkeit betont, die Sicherheit des russisch besetzten Kraftwerks zu gewährleisten. Zudem habe er gefordert, jegliche Eskalation zu vermeiden und die im Bericht der Internationalen Atomenergieagentur empfohlenen Maßnahmen umgehend umzusetzen. Scholz und Putin hätten vereinbart, in Kontakt zu bleiben, so der Regierungssprecher.

Wieder Strom für Kühlung des Atomkraftwerks Saporischschja

Das von Russlands Truppen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine ist wieder an zwei Stromleitungen angeschlossen. So könne eine Leitung das Kühlsystem der abgeschalteten Reaktoren versorgen, die zweite sei in Reserve, teilte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien am Montagabend mit. Der sechste und letzte Reaktor sei heruntergefahren worden und benötige nun weniger Strom zur Kühlung.

Trotzdem bleibe die Lage in und um das größte Kernkraftwerk Europas mitten im Kampfgebiet prekär, so IAEA-Chef Rafael Grossi. Die vier Hauptleitungen seien zerstört, das Kraftwerk liefere keinen Strom. "Eine nukleare Schutz- und Sicherheitszone ist dringend erforderlich", ließ Grossi verlauten. Er habe darüber die ersten Konsultationen mit allen Beteiligten geführt. Das AKW und sein Umfeld werden seit Wochen immer wieder beschossen, wofür Russen und Ukrainer sich gegenseitig verantwortlich machen. Die IAEA hat die Schäden am Kraftwerk inspiziert und will möglichst eine Sicherheitszone um die Anlage einrichten.

Offensive in Region Charkiw schreitet voran

Die ukrainischen Streitkräfte kommen bei ihrer Offensive in der Region Charkiw im Nordosten des Lands nach Angaben der Regierung weiter gut voran. Dies liege daran, dass die Truppe höchst motiviert und die Operation gut geplant sei, sagt die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar der Nachrichtenagentur Reuters. Es sei allerdings noch zu früh zu sagen, dass die Ukraine die volle Kontrolle über die Region übernommen habe. "Die Kämpfe dauern an", sagt Maljar. "Das Ziel ist, die Region Charkiw zu befreien und darüber hinaus alle Gebiete, die von der Russischen Föderation besetzt sind."

Ukraine: Mindestens 300 Ortschaften befreit

Später teilte Maljar mit, dass die ukrainische Armee bei ihrer Gegenoffensive in einer Woche im östlichen Gebiet Charkiw mindestens 300 Ortschaften mit knapp 150 000 Einwohnern befreit habe. Zugleich sei eine Fläche von 3800 Quadratkilometern zurückerobert worden. Dies seien nur die bestätigten Zahlen, sagte sie Balaklija, einer der zurückeroberten Städte. Vermutlich sei das befreite Territorium im Gebiet Charkiw fast doppelt so groß. Am Mittwoch werde es weitere Daten geben. Die Angaben aus dem Kriegsgebiet lassen sich nicht vollständig unabhängig überprüfen.

Blinken-Lob für ukrainisches Militär

Der Außenminister der USA, Antony Blinken, bescheinigt den ukrainischen Streitkräften bei ihrer Gegenoffensive "bedeutende Fortschritte". "Ihr Vorgehen war sehr systematisch geplant und wurde natürlich von den Vereinigten Staaten und vielen anderen Ländern unterstützt, um sicherzustellen, dass die Ukraine über die Ausrüstung verfügt, die sie zur Durchführung dieser Gegenoffensive benötigt", sagte Blinken auf einer Pressekonferenz in Mexiko.

US-Außenminister Blinken: "Vorgehen sehr systematisch geplant"Bild: Raquel Cunha/REUTERS

Die ukrainische Offensive gegen die russischen Streitkräfte befinde sich noch im Anfangsstadium, es seien aber bereits bedeutende Fortschritte erzielt worden. Angesichts der Verluste, die Russland erlitten habe, kann und sollte Russland dem Ganzen ein Ende setzen.

Viele der russischen Soldaten, die sich auf dem Rückzug aus dem Großraum Charkiw befinden, haben nach Einschätzung der US-Armee die Ukraine verlassen. Große Teile dieser Truppen hätten die Grenze überquert und seien nach Russland zurückgekehrt, sagt ein hochrangiger US-Militärvertreter. Die Ukraine habe umfangreiche Geländegewinne in der Nähe von Charkiw erzielt. Zahlen nannte der US-Vertreter nicht.

Russland meldet massive Angriffe auf ukrainische Streitkräfte

Die russische Armee hat eigenen Angaben zufolge die ukrainischen Streitkräfte an allen Frontlinien bombardiert. "Die Luft- und Raketen-Streitkräfte sowie die russische Artillerie führen in allen Einsatzgebieten massive Angriffe gegen Einheiten der ukrainischen Streitkräfte aus", teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Explizit genannt wurden Attacken vor allem im Osten, Süden und bei Charkiw im Nordosten des Landes, wo die Ukraine eine Gegenoffensive gestartet hat.

Zugleich beschuldigte der Kreml die Ukraine, Einwohnern der zurückeroberten Gebiete zu misshandeln. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow warf dem ukrainischen Militär vor, in den vergangenen Tagen in den übernommenen Gebieten Bewohner gefoltert zu misshandelt zu haben. Konkret nannte er die Region Charkiw.

UN sehen weiter Probleme beim russischen Teil des Getreideabkommens

Die Vereinten Nationen haben teilweise Probleme bei der Umsetzung des Getreidevertrags eingeräumt, der Ende Juli zwischen Russland und der Ukraine geschlossen worden war. Während die Ausfuhr von Nahrungsmitteln aus der Ukraine über einen Korridor im Schwarzen Meer deutlich an Fahrt aufgenommen habe, stocke vor allem der Export russischen Düngers. "In vielen Bereichen haben wir wichtige Fortschritte erzielt. Aber es gibt noch Probleme in diesen drei Bereichen: Versicherung, Finanzierung und dann in der Verschiffung", sagte die UN-Beauftragte Rebeca Grynspan bei einer virtuellen Pressekonferenz in New York.

Die UN-Beauftragtee Rebeca GrynspanBild: www.segib.org

Dies liege vor allem daran, dass in der privaten Wirtschaft die Sorge herrsche, dass eine Ausfuhr europäische Sanktionen gegen Russland verletzen könne - dies habe zu Zurückhaltung geführt. Der Dünger müsse aber dringend in zum Beispiel afrikanische Länder transportiert werden können, um künftige Ernten dort nicht zu gefährden. Russland und die Ukraine hatten am 22. Juli mit den Vereinten Nationen und der Türkei eine Lösung für die Ausfuhr von Millionen Tonnen Getreide aus dem Kriegsland Ukraine gefunden. Zeitgleich wurde eine Vereinbarung mit Russland über die Erleichterung der Ausfuhren von Getreide und Dünger unterzeichnet. Die Abkommen sind formal eigenständig, werden aber als komplementär gesehen. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte kürzlich gedroht, die Vereinbarung wegen der eingeschränkten russischen Ausfuhren platzen zu lassen.

Suche nach Kollaborateuren Russlands

Die ukrainischen Truppen durchkämmen die zurückeroberten Gebiete im Osten nach Kollaborateuren der russischen Besatzungsmacht. Außerdem würden Minen geräumt, teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht am Montagabend mit. Das Militärgremium machte keine weiteren Angaben zum Vordringen der Ukrainer, die die russischen Truppen im Gebiet Charkiw weitgehend in die Flucht geschlagen haben.

Die Russen ließen dabei viele Waffen und schweres Material zurück. Der ukrainische Vorstoß gilt als Etappensieg bei der Rückeroberung besetzter Gebiete, der über die Ukraine hinaus Hoffnungen auf eine militärische Wende nährt.

Bei ihrem Rückzug haben russische Soldaten auch Panzer zurückgelassen, wie hier in der Region CharkiwBild: Press service of the Commander-in-Chief of the Armed Forces of Ukraine via REUTERS

Fotos zeigen ukrainische Soldaten am Montag in Sjwatohirsk im Gebiet Donezk. Eine Bestätigung für die Einnahme der Stadt mit einem wichtigen orthodoxen Kloster gab es nicht. Der Generalstab berichtete von Kämpfen am Montag fast entlang der gesamten Frontlinie im Osten. Mehrere Angriffe der russischen Armee seien abgewehrt worden. Die eigene Luftwaffe und Artillerie habe mehrere russische Kommandopunkte und Depots zerstört. Die Militärangaben waren bislang nicht unabhängig überprüfbar.

Aus der Feindbeobachtung über die Front hinweg meldete der Kiewer Generalstab, dass Russland keine neu zusammengestellten Truppen mehr in die Ukraine entsende. Als Grund wurde genannt, dass viele Freiwillige unter dem Eindruck hoher Totenzahlen einen Einsatz in der Ukraine verweigerten. Wenig verwunderlich, dass es dafür keine Bestätigung aus Russland gibt.

Selenskyj drängt auf weitere Waffenlieferungen

Nach russischen Raketentreffern auf die Stromversorgung in der Ukraine fordert Präsident Wolodymyr Selenskyj eine schnellere Lieferung von Luftabwehrwaffen. Die Hilfe internationaler Partner für die Ukraine müsse aufgestockt werden, sagte er am Montag in seiner allabendlichen Videoansprache. "Gemeinsam können wir den russischen Terror überwinden."

Ukrainischer Präsident Selenskyj: "6000 Quadratkilometer zurückerobert"Bild: Ukrainisches Präsidialamt

Russische Raketentreffer auf ein Kraftwerk bei Charkiw hatten am Sonntagabend große Teile des Stromnetzes in der Ostukraine zeitweise lahmgelegt. Selenskyj deutete den Beschuss als Rache für den Vormarsch der ukrainischen Armee im Gebiet Charkiw. Die Armee habe seit Anfang September bereits mehr als 6000 Quadratkilometer im Osten und Süden von den russischen Besatzern zurückerobert, so der Präsident.

Deutschland hat der Ukraine das hochmoderne Luftabwehrsystem Iris-T zugesagt. Die Ukraine hofft auf eine schnelle Lieferung. Nach Kiewer Berichten soll die erste Einheit Ende des Jahres geschickt werden.

Folterverdacht in Salisnytschne

Die ukrainischen Behörden haben in einer zurückeroberten Ortschaft im Osten der Ukraine nach eigenen Angaben vier Leichen mit "Spuren von Folter" entdeckt. Erste Ermittlungen wiesen darauf hin, dass die in Salisnytschne in der Region Charkiw gefundenen Menschen "von russischen Soldaten während der Besetzung des Ortes" getötet worden seien, teilte die regionale Staatsanwaltschaft mit.

Die Leichen würden nun durch Rechtsmediziner untersucht. Es werde wegen Mordes und "Verstößen gegen das Kriegsrecht" ermittelt.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International appellierte am Montag an die ukrainischen Behörden, dem Sammeln von Beweisen für Kriegsverbrechen in den von Russland zurückeroberten Gebieten "Priorität einzuräumen". Da diese Aufgabe aber "enorm aufwendig" sei, müsse die internationale Gemeinschaft Kiew hierbei unterstützen, fordert Amnesty.

Russland wird bereits die Ermordung von Zivilisten in der Region rund um die Hauptstadt Kiew vorgeworfen, aus der sich russische Truppen Ende März zurückgezogen hatten. Insbesondere in der Stadt Butscha waren zahlreiche Leichen von Zivilisten entdeckt worden. Moskau hat jegliche Kriegsverbrechen stets bestritten und von "Fälschungen" gesprochen.

Präsident Putin bei einer Videokonferenz in MoskauBild: Gavriil Grigorov/Sputnik/Kremlin Poo//AP/picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Russland: Lokalpolitiker fordern Putins Rücktritt

Dutzende Lokalpolitiker in Russland haben den Rücktritt von Kremlchef Wladimir Putin gefordert. Es kämen weiter neue Unterstützer hinzu, schrieb die Abgeordnete eines St. Petersburger Bezirksrats, Xenia Torstrem, auf Twitter. "Wir finden, dass die Handlungen von Präsident W. W. Putin Russlands Zukunft und seinen Bürgern schaden", heißt es in der von ihr veröffentlichten Petition.

Torstrems Angaben zufolge wurde diese bislang von mehr als 40 Lokalpolitikern aus insgesamt 18 Bezirken der Ostsee-Metropole St. Petersburg sowie der Hauptstadt Moskau unterzeichnet.

Bereits in der vergangenen Woche hatten mehrere Moskauer Politiker ein ähnliches Rücktrittsgesuch an Putin gerichtet. "Lieber Wladimir Wladimirowitsch", heißt es in dem Schreiben der Abgeordneten des Lomonossow-Bezirks: "Sie hatten in der ersten und teilweise in der zweiten Amtszeit gute Reformen, aber danach ging irgendwie alles schief." Putins Rhetorik sei von "Intoleranz und Aggression" durchsetzt und werfe Russland zurück in die Zeit des Kalten Kriegs, kritisierten die Unterzeichner weiter.

"Wir bitten Sie (...), Ihren Posten zu räumen, da Ihre Ansichten und Ihr Führungsmodell hoffnungslos veraltet sind." Die direkten Auswirkungen solcher Protestaktionen dürften äußerst gering sein, dennoch sind sie nicht ungefährlich. Seit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar geht Russlands Justiz besonders hart gegen Oppositionelle und Andersdenkende vor.

Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin bei ihrer Rede vor dem EU-Parlament in StraßburgBild: Frederick Florin/AFP/Getty Images

Sanna Marin: EU-Sanktionen müssen im russischen Alltag ankommen

Russinnen und Russen sollten nach Ansicht von Finnlands Premierministerin Sanna Marin die EU-Strafmaßnahmen gegen das Land spüren. "Die Sanktionen müssen auch im Alltag der Russen ankommen", sagte die Spitzenpolitikerin bei einer Rede im Europaparlament in Straßburg. Darüber hinaus sprach sie sich für schärfere Sanktionen aus. Je mehr Sanktionen es gebe, desto teurer werde der Angriffskrieg gegen die Ukraine für Russland. Zudem betonte sie, dass sich Moskau mit dem Krieg vor allem selbst schade. "Mit diesem Krieg zerstört Russland praktisch seine eigene Volkswirtschaft und seine eigene Zukunft", so Marin.

kle/as/jj/AR/al (afp, dpa, rtr)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

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