Aktuell: Schwere Kämpfe rund um Cherson
6. November 2022
Das Wichtigste in Kürze:
- Um Cherson gibt es erbitterte Kämpfe
- Russland meldet Beschädigung des Kachowka-Staudamms
- Selenskyj und von der Leyen erörtern neue Milliardenhilfen
- AKW Saporischschja wieder am Netz
- Strack-Zimmermann hinterfragt Schweizer Munitionspolitik
Rund um die südukrainische Stadt Cherson haben sich ukrainische Truppen und russische Besatzer heftige Kämpfe geliefert. Nach russischer Darstellung gerieten verschiedene Frontabschnitte in der Region unter schwersten Artilleriebeschuss. An einigen Stellen seien größere Truppenverlegungen und Bewegungen ukrainischer Panzerverbände registriert worden. "Offenbar bereiten die ukrainischen Truppen einen neuen Angriff vor", spekulierte der von Russland eingesetzte Vize-Verwaltungschef der besetzten Region, Kirill Stremoussow.
Die ukrainische Führung will die Region im Süden des Landes nach ersten Erfolgen vollständig befreien. Cherson ist die bislang einzige Gebietshauptstadt, über die Kiew nach dem russischen Einmarsch schon Ende März die Kontrolle verloren hatte. Im September wurde das Gebiet nach einem Scheinreferendum von Russland völkerrechtswidrig annektiert.
Russland meldet Beschädigung des Kachowka-Staudamms in Cherson
Der in der Region Cherson gelegene Kachowka-Staudamm wurde russischen Angaben zufolge durch einem ukrainischen Angriff beschädigt. Es habe einen Beschuss mit sechs HIMARS-Raketen gegeben, zitierten russische Nachrichtenagenturen örtliche Rettungsdienste. Eine Rakete habe dabei eine Schleuse des Damms getroffen, hieß es weiter.
Der Staudamm des Wasserkraftwerks Kachowka liegt am Dnipro. Die Ukraine hatte Russland beschuldigt, ihn zerstören zu wollen. Demnach haben russische Streitkräfte den Staudamm vermint, um möglicherweise mit einer Flutwelle eine ukrainische Gegenoffensive in Cherson zu stoppen.
Selenskyj und von der Leyen erörtern neue Milliardenhilfen
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj über Pläne für ein neues Hilfspaket im Volumen von 18 Milliarden Euro informiert. Vorgesehen seien monatliche Tranchen von jeweils 1,5 Milliarden Euro, erklärte die EU-Kommission zu dem Telefonat. Mit den Krediten solle ein "erheblicher Beitrag" zum Finanzbedarf Kiews für 2023 geleistet werden. Die Mittel unterstützten die Ukraine zudem, auf dem Weg in Richtung einer EU-Mitgliedschaft weitere Reformen umzusetzen, hieß es.
Selenskyj erklärte über Twitter, er habe mit von der Leyen über finanzielle Unterstützung für das laufende und das kommende Jahr gesprochen. Weiteres Thema seien die Getreideexporte aus der Ukraine über das Schwarze Meer als Beitrag zur weltweiten Nahrungssicherheit gewesen. Ein von den Vereinten Nationen und der Türkei vermitteltes Abkommen vom Juli, das die Ausfuhren sicherstellen soll, gilt vorerst bis zum 19. November. Russland hat eine Verlängerung offengelassen.
Selenskyj spricht von Lügen
Nach dem Eingeständnis der iranischen Führung, doch Kampfdrohnen an Russland geliefert zu haben, wirft der ukrainische Präsident Teheran "Lügen" vor. "Selbst bei diesem Geständnis lügen sie", sagte der Staatschef in seiner täglichen Videobotschaft.
Die Streitkräfte in Kiew schössen jeden Tag mindestens zehn Drohnen ab, so Selenskyj. Allein am Freitag seien elf Drohnen durch die ukrainische Armee vernichtet worden. Die iranische Regierung hatte zuvor erklärt, man habe nur eine "geringe Zahl" von Drohnen an Russland geliefert. Dies sei bereits einige Monate vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine geschehen.
Das ukrainische Militär berichtete in den vergangenen Wochen über eine ganze Reihe von russischen Angriffen auf die zivile Infrastruktur, bei denen im Iran gefertigte sogenannten Kamikaze-Drohnen vom Typ Schahed-136 eingesetzt worden seien. Russland bestreitet, dass seine Truppen iranische Drohnen in der Ukraine verwenden.
Zeitung: Ukraine soll Verhandlungsbereitschaft zeigen
Die US-Regierung von Joe Biden hat inoffiziell die ukrainische Führung ermutigt, Bereitschaft zu Verhandlungen mit Russland zu signalisieren. Die Ukraine solle ihre öffentliche Weigerung aufgeben, sich an Friedensgesprächen mit Präsident (Wladimir) Putin zu beteiligen, berichtet die "Washington Post" und zitiert mit den Gesprächen vertraute Personen.
Der Zeitung zufolge zielt das Drängen amerikanischer Beamter nicht darauf ab, die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, sondern es sei vielmehr ein kalkulierter Versuch, Kiew die Unterstützung der Länder zu sichern, deren Bürger einen Krieg über viele Jahre hinweg befürchten. "Die Ukraine-Müdigkeit ist für einige unserer Partner eine echte Sache", zitiert die "Washington Post" einen mit der Angelegenheit vertrauten US-Beamten.
AKW Saporischschja wieder am Stromnetz
Die externe Stromversorgung des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja ist nach zwei Tagen Unterbrechung wieder hergestellt worden. Wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien berichtete, wurden zwei Leitungen repariert. Das von Russland besetzte AKW ist zwar derzeit nicht im Betrieb, doch die Anlage braucht weiterhin Elektrizität, um Kernmaterial zu kühlen und einen Atomunfall zu verhindern. Die zwei Leitungen waren nach einem Beschuss auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet in rund 60 Kilometern Entfernung von dem AKW beschädigt worden.
Die Stromversorgung des größten europäischen Atomkraftwerks wurde bis zur Reparatur mit Notgeneratoren sichergestellt, die über Treibstoff für rund 15 Tage verfügen. Die IAEA bemüht sich seit Monaten, eine Schutzzone ohne Kämpfe um das Werk einzurichten und so das Risiko eines Atomunfalls zu reduzieren. "Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist", mahnte IAEA-Chef Rafael Grossi erneut.
Klitschko schließt Blackout in Kiew nicht aus
Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko schließt wegen der Schäden am Energiesystem einen Zusammenbruch der Strom-, Wärme- und Wasserversorgung in der ukrainischen Hauptstadt nicht aus. Die Bürgerinnen und Bürger sollten Vorräte für einen solchen Fall anlegen und auch überlegen, zeitweise außerhalb der Stadt unterzukommen. Dies sei das schlimmstmögliche Szenario, sagte Klitschko im ukrainischen Fernsehen. "Wir tun alles, damit es nicht so weit kommt."
In Kiew lebten derzeit etwa drei Millionen Menschen, darunter 350.000 Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen der Ukraine, so der Bürgermeister. Bei einem Zusammenbruch des Fernwärmesystems bereite sich die Stadt darauf vor, 1000 Wärmestuben einzurichten. Die Stromversorgung in der Hauptstadt und weiteren Regionen wurde unterdessen nochmals eingeschränkt, wie der staatliche Stromversorger Ukrenergo mitteilte.
Wegen der massiven Raketenangriffe Russlands auf die Energieinfrastruktur in der Ukraine wird seit mehreren Tagen die Stromversorgung rationiert. Nach Angaben aus Kiew ist durch die Angriffe mindestens ein Drittel der Stromanlagen des Landes zerstört. Um eine Überlastung des gesamten Verteilernetzes zu verhindern, wird in vielen Regionen regelmäßig für mehrere Stunden der Strom abgestellt.
Strack-Zimmermann hinterfragt Schweizer Munitionspolitik
Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, fordert wegen des Schweizer Vetos gegen die Lieferung von Flugabwehrmunition an die Ukraine eine grundsätzliche Überprüfung der Lieferketten. Deutschland könne sich nicht länger - wie im Fall der Schweizer Munition für den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard - abhängig machen, sagte die FDP-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
Sie verwies auch darauf, dass in den kommenden Jahren Munitionskäufe im Umfang von 20 Milliarden Euro oder mehr nötig seien. "Was geschieht eigentlich, wenn Deutschland oder einer der NATO-Staaten angegriffen würde und die in der Schweiz hergestellte Munition aufgrund ihrer 'Neutralität' nicht geliefert würde?", fragte die FDP-Politikerin.
Die Schweiz hatte die Weitergabe von Gepard-Munition am Donnerstag zum zweiten Mal blockiert und auf die eigene Neutralität "im Verhältnis Russland - Ukraine" verwiesen. Die in der Bundeswehr ausgemusterten und der Ukraine überlassenen Gepard-Panzer sind mit einer 35-Millimeter-Zwillingskanone der Schweizer Rüstungsschmiede Oerlikon ausgestattet. Der Hersteller von Waffen und Munition gehört heute zu Rheinmetall.
jj/qu/se/wa/as/nob (rtr, dpa, afp, ap)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.