Aktuell: Zivilisten verlassen Kampfgebiete
19. März 2022Das Wichtigste in Kürze:
- Nur noch 6600 Menschen durch Fluchtkorridore evakuiert
- Selenskyj fordert Verhandlungen - und droht Russland mit "ernsthaften Verlusten"
- Luftangriff tötet viele ukrainische Soldaten in Mykolajiw
- Moskau meldet Einsatz von Hyperschallraketen
- Knapp 208.000 Ukraine-Flüchtlinge in Deutschland registriert
Am 24. Tag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind nach ukrainischen Angaben 6623 Personen durch Fluchtkorridore aus dem Kampfgebiet gebracht worden. Nach Angaben eines hochrangigen Beamten im Büro von Präsident Wolodymyr Selenskyj konnten gut 4000 Menschen die von russischen Truppen belagerte Hafenstadt Mariupol verlassen - und damit weniger als halb so viel wie am Freitag.
Insgesamt standen über den Tag hinweg nach ukrainischen Angaben zehn Fluchtkorridore bereit. So führten vier Fluchtrouten aus dem umkämpften Gebiet Luhansk im ostukrainischen Donbass in die Stadt Bachmut. Auch aus Dörfern und Städten rund um die Hauptstadt Kiew führten Korridore hinaus. Die Routen werden für jeden Tag neu angekündigt. Insgesamt seien seit Beginn des russischen Angriffskriegs 190.000 Zivilisten aus den Frontgebieten gebracht worden, erklärte Vizeregierungschefin Irina Wereschtschuk. Mehr als 3,3 Millionen Flüchtlinge haben nach Angaben von Wereschtschuk die Ukraine in eines der westlichen Nachbarländer verlassen.
Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden seit Kriegsbeginn 847 zivile Todesopfer sowie 1399 Verletzte dokumentiert. Beide Zahlen dürften aber deutlich höher liegen, da das zuständige Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR) viele Berichte aus schwer getroffenen Städten noch nicht verifizieren konnte. Allein in Kiew sprechen die Behörden von 228 Menschen.
Selenskyj richtet neuen Appell an Russland
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj appellierte einmal mehr an Russland, Gespräche über ein Ende des Krieges zu führen. "Sinnvolle Verhandlungen über Frieden und Sicherheit für die Ukraine, ehrliche Verhandlungen und ohne Verzögerungen, sind die einzige Chance für Russland, den durch eigene Fehler angerichteten Schaden zu verringern", betonte Selenskyj. Es sei an der Zeit, die territoriale Einheit und Gerechtigkeit für die Ukraine wieder herzustellen. "Ansonsten wird Russland derartige Verluste erleiden, dass es mehrere Generationen brauchen wird, um sich wieder aufzurichten."
Die Kriegsparteien führen seit dem 28. Februar Verhandlungen über eine Friedenslösung, zuletzt beinahe täglich über eine Videoschalte. Während Moskau von erkennbaren Kompromissen vor allem bei der Frage eines neutralen Status der Ukraine spricht, sieht Kiew keine größeren Fortschritte.
Am Nachmittag war Selenskyj auch zu einer Anti-Kriegs-Demonstration in Bern mit Tausenden Teilnehmenden zugeschaltet.In seiner Rede forderte er die Schweizer Regierung auf, die Konten aller russischen Oligarchen zu sperren. "Auch das ist ein Kampf gegen das Böse", wurden seine Worte live übersetzt. Die Schweiz hat sich nach Zögern weitgehend den Sanktionen der Europäischen Union angeschlossen. Allerdings sind nicht alle schwerreiche Russen davon betroffen, die in der Schweiz Geschäfte machen und denen eine Nähe zu Russlands Präsident Putin nachgesagt wird.
Erbitterte Kämpfe in Cherson
Der Flughafen Tschornobajewka bei Cherson im Süden der Ukraine ist nach ukrainischer Darstellung nach wie vor erbittert umkämpft. "Wir haben sie dort schon wieder getroffen", schreibt Olexij Arestowitsch auf Facebook mit Blick auf die russischen Truppen. Arestowitsch zählt zum Stab im Büro von Präsident Selenskyj. Die ukrainischen Streitkräfte hätten das russische Militär an diesem Flughafen bereits das sechste Mal überfallen und dem Gegner dort schwere Verluste zugefügt, heißt es weiter. Angaben wie diese lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Bürgermeister Klitschko wirft Russland Lügen vor
Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, bezichtigt Russland der Lügen. "Es ist eine Lüge der Russischen Föderation zu behaupten, dass sie nur militärische Ziele angreifen", sagte der frühere Box-Weltmeister der "Bild"-Zeitung. "Städte wie Irpin, Butscha oder Borodjanka gibt es nicht mehr."
Es sei inzwischen Ziel des russischen Militärs, so viele Zivilisten wie nur möglich zu töten, sagte Klitschko - und bezeichnete die russischen Angreifer als "Faschisten, weil sie Frauen, Kinder und Zivilisten umbringen". Doch die Bürger Kiews seien bereit, ihre Hauptstadt zu verteidigen.
Dutzende Tote bei Angriff auf Kaserne in Mykolajiw
Augenzeugen berichten von Dutzenden Toten nach einem russischen Luftangriff auf eine Kaserne in der südukrainischen Stadt Mykolajiw. "Mindestens 50 Leichen wurden aus den Trümmern gezogen, aber wir wissen nicht, wie viele dort noch liegen", sagte ein Soldat namens Maxim der Nachrichtenagentur AFP. Zum Zeitpunkt des Angriffs hätten 200 Soldaten in den Baracken geschlafen. Ein weiterer Soldat vor Ort sagte AFP, der Angriff könnte 100 Menschen getötet haben. Rettungskräften zufolge ist das Zählen der Toten "angesichts des Zustands der Leichen fast unmöglich".
Der Bürgermeister von Mykolajiw, Oleksij Senkewjtsch, sagte ukrainischen Medien, der Angriff sei aus der benachbarten, von Russland kontrollierten Region Cherson erfolgt. "Die Bombardierung geschieht zu schnell, um sie zu erfassen und das Alarm-System in Gang zu setzen." Über den Samstag hinweg wurde massives weiteres Bombardement der Stadt gemeldet.
Erdgas fließt weiter
Trotz der Kampfhandlungen in der Ukraine fließt weiter russisches Gas in großem Umfang durch das Land nach Europa. Am Samstag würden gemäß der Bestellungen der europäischen Kunden 106,6 Millionen Kubikmeter durch das Leitungssystem der Ukraine gepumpt, teilte der Sprecher des Gasriesen Gazprom, Sergej Kuprijanow, mit. Die vertraglich mögliche maximale Auslastung liegt bei 109 Millionen Kubikmetern Gas pro Tag.
Durch die Pipeline "Jamal-Europa" fließt der russischen Agentur Interfax zufolge derzeit jedoch kein Gas von Russland über Belarus und Polen nach Deutschland. Vielmehr werde Gas aus europäischen Speichern von Deutschland nach Polen umgeleitet, was den Angaben zufolge auch zu den aktuell hohen Energiepreisen führe.
Moskau bestätigt Einsatz von Hyperschallraketen
Das russische Militär setzt nach Regierungsangaben inzwischen Hyperschallraketen für Angriffe im Westen der Ukraine ein. Mit dem Raketensystem Kinschal sei ein unterirdisches Waffenlager zerstört worden, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau. Das Lager mit Raketen und Munition habe sich im Dorf Deljatyn befunden.
Kinschal-Raketen können nach russischen Angaben alle Luftabwehrsysteme umgehen. Es ist das erste Mal seit Beginn des Krieges, dass Russland von dem Einsatz seiner neuen ballistischen Luft-Boden-Rakete "Kinschal" berichtet.
Der stellvertretende Büroleiter des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, Ihor Zhovkva, sagte der DW: "Sie haben diese Hyperschall-Raketen abgefeuert. Das bedeutet, dass sie höchstwahrscheinlich diese Art von Waffen auf ukrainischem Gebiet testen, und auch andere neue Waffen."
Warnung vor Seeminen im Schwarzen Meer
Einer Mitteilung des russischen Geheimdiensts FSB zufolge könnten Seeminen eine Gefahr für die Schifffahrt im Schwarzen Meer darstellen. Der FSB beschuldigte die ukrainische Marine, die Häfen Odessa, Otschakiw, Tschornomorsk und Piwdenny vermint zu haben. Von den angeblich 420 verankerten Seeminen hätten sich einige losgerissen, die nun schlimmstenfalls durch den Bosporus ins Mittelmeer treiben könnten. Das ukrainische Portal BlackSeaNews griff die Warnung auf, gab jedoch unter Berufung auf eigene Quellen an, die russische Schwarzmeerflotte habe die Seeminen auf der Route zwischen Odessa und dem Bosporus gelegt. Unabhängige Bestätigung gibt es nicht. Die Schifffahrt liegt seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine teilweise still; die Türkei hat den Bosporus zudem für Kriegsschiffe geschlossen.
EU sieht die Ukraine vor einer Hungersnot
Angesichts der anhaltenden Kämpfe warnt die EU-Kommission vor einer Hungersnot in der Ukraine. "Die Menschen in den belagerten Städten sind apokalyptischen Zuständen ausgesetzt - keine Nahrung, kein Wasser, keine medizinische Versorgung und kein Ausweg", sagt der zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic für humanitäre Hilfe und Krisenschutz der "Welt am Sonntag". Es gebe eine Verpflichtung, humanitären Zugang zu gewähren, ohne jedes Hindernis, sagt der Politiker aus der Slowakei. Die Verletzung des Völkerrechts müsse sofort aufhören.
"The price of war"
109 leere Kinderwagen machen auf dem Markplatz der westukrainischen Stadt Lwiw erschreckend deutlich, wie hoch der "Preis des Krieges" inzwischen ist. Auf einem Plakat steht "108", mit einem Filzstift ist die Zahl 8 durchgestrichen und durch eine 9 ersetzt - so viele Kinder sollen seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine getötet worden sein - durch Angriffe auf Schulen, Krankenhäuser, ein Kinderhospital und eine Entbindungsstation.
Zuletzt war ein Theater in Mariupol bombardiert worden, in dem hunderte Menschen Zuflucht gesucht hatten. Vor beiden Seiten des Gebäudes stand gut sichtbar das russische Wort "Kinder" auf dem Boden. Das von der ukrainischen Regierung organisierte Mahnmal aus leeren Kinderwagen gibt den Menschen in Lwiw einen Ort zum Trauern.
Fast 210.000 Kriegsflüchtlinge
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat die Bundespolizei inzwischen 207.742 Kriegsflüchtlinge in Deutschland festgestellt. Das Bundesinnenministerium teilte mit, erfasst würden nur Geflüchtete, die von der Bundespolizei angetroffen worden seien, etwa an der österreichisch-bayerischen Grenze, an Bahnhöfen oder in Zügen.
Im Regelfall gibt es keine festen Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen, Ukrainer dürfen zudem ohne Visum einreisen - die Zahl der tatsächlich Angekommenen ist daher wahrscheinlich deutlich höher. Nicht erfasst wird außerdem, wie viele der Geflüchteten womöglich von Deutschland aus weiterreisen zu Freunden oder Verwandten in anderen Staaten.
Neuer EU-Streit beim Thema Flüchtlinge?
Dabei droht auf EU-Ebene offenbar erneut Streit zwischen den Mitgliedstaaten um den Umgang mit Flüchtlingen. Dies berichtet der "Spiegel" unter Verweis auf einen internen Bericht der deutschen EU-Vertretung. Ungarn habe sich bei einem Krisentreffen in Brüssel in der vergangenen Woche gegen einen Vorschlag Italiens, Griechenlands und Luxemburgs gestellt.
Die drei Länder hätten gemeinsame Anstrengungen "zur nachhaltigen Unterbringung Hunderttausender Flüchtlinge" gefordert, hieß es demnach. Griechenland brachte dem Magazin zufolge zudem eine "verpflichtende Solidarität" ins Spiel, da früher oder später Umsiedlungen von Geflüchteten notwendig würden. Ungarns Vertreter habe den Vorstoß sogleich als zu kontrovers und "kontraproduktiv" abgelehnt.
Länder wie Griechenland und Italien, in denen seit Jahren viele Flüchtlinge ankommen, dringen seit Langem auf eine Reform der EU-Asylregeln und insbesondere auf die Verteilung ankommender Migranten auf die restlichen EU-Länder. Jegliche Versuche in dieser Richtung wurden jedoch blockiert, vor allem von Ungarn und Polen.
Kinder sollen zusammenbleiben
Bundesfamilienministerin Anne Spiegel kündigte unterdessen mit Blick auf die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge an, Länder und Kommunen bei der Unterbringung kompletter Kinderheime aus der Ukraine zu unterstützen. Zugleich solle eine zentrale Koordinierungsstelle eingerichtet werden, sagte Spiegel dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland". Spiegel wörtlich: "Mir ist sehr wichtig, dass diese Kinder und Jugendlichen, die so viel Leid und Tod erlebt haben, als Gruppe zusammenbleiben können und auch nicht von ihren vertrauten Erzieherinnen und Erziehern getrennt werden."
Die Koordinierungsstelle werde für eine angemessene Verteilung auf die Länder und Kommunen sorgen und dabei auch besondere Anforderungen wie Behinderungen oder schwere Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen, erläuterte Spiegel: "Wir müssen so viel Stabilität wie möglich schaffen." Die Ministerin reagierte damit auf eine Forderung der Bundesländer.
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
ehl/uh/haz/sti/rb (AFP, AP, dpa, epd, KNA, Reuters)