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Politik

Ukraine aktuell: Zivilisten sollen Cherson verlassen

19. Oktober 2022

Russland erwartet eine ukrainische Offensive in der Region Cherson und ruft die Bevölkerung auf, das Gebiet zu verlassen. Präsident Putin verhängt den Kriegszustand in annektierten Gebieten. Unser Überblick.

Ukraine, Cherson | Pro Russische Werbetafel
Noch im Juli behauptete diese Tafel in Cherson "Russland ist hier für immer"Bild: Sergei Bobylev/TASS/dpa/picture alliance

Das Wichtigste in Kürze:

 

  • Verwaltung startet Räumung der südukrainischen Stadt Cherson

  • Kriegszustand in Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja

  • Von der Leyen verurteilt russische Attacken auf Infrastruktur

  • EU bringt neue Sanktionen gegen Iran auf den Weg

  • Kiew: Seit September mehr als 220 iranische Drohnen abgeschossen

 

Angesichts der vorrückenden ukrainischen Truppen hat die Verwaltung mit der Räumung der südukrainischen Stadt Cherson begonnen. Einwohner würden vom rechten an das linke Ufer des Dnipro gebracht, teilten die Behörden mit. Staatliche russische Medien zeigten entsprechende Bilder.

Insgesamt sollten rund 50.000 bis 60.000 Menschen an das Ostufer des Dnipro oder nach Russland gebracht werden, kündigte der von Russland eingesetzte Verwalter Wladimir Saldo nach einer Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur Tass an. Die Evakuierung werde voraussichtlich etwa sechs Tage dauern. Sein Stellvertreter Kirill Stremoussow forderte die Zivilbevölkerung ebenfalls über Telegram zum Verlassen der gleichnamigen Regionalhauptstadt Cherson auf. Das ukrainische Militär werde in Kürze eine Offensive gegen die Stadt Cherson beginnen. Die ukrainische Armee habe
Zehntausende Soldaten an der Front zusammengezogen.

Später schrieb Stremoussow, die Ukrainer seien im  annektierten Gebiet Cherson in Richtung der Orte Nowa Kamjanka und Beryslaw in die Offensive gegangen. Bisher seien alle Angriffe abgewehrt worden. Die Ukraine erklärte am Vormittag nur, im Gebiet Cherson einen russischen Kampfhubschrauber vom Typ Ka-52 abgeschossen zu haben. 

Ein ukrainischer Soldat inspiziert in der Region Cherson eine geräumte Stellung der russischen ArmeeBild: Leo Correa/AP Photo/picture alliance

Die Verwaltung zieht sich nach eigenen Angaben vollständig aus der besetzten Stadt Cherson zurück. Verwaltungschef Saldo sagte dem russischen Sender Rossija 24: "Ab heute werden alle Regierungsstrukturen der Stadt, die zivile und militärische Verwaltung, alle Ministerien, an das linke Flussufer (des Dnipro) verlegt". Die russische Armee werde aber in der Stadt gegen die vorrückenden ukrainischen Truppen kämpfen "bis zum Tod".

Ukraine warnt vor "Propagandashow"

Die Ukraine wirft Russland vor, mit Evakuierungen und Warnungen vor einem Angriff auf Cherson eine "Propagandashow" zu veranstalten. Präsidialamtschef Andrij Jermak schrieb auf Telegram: "Die Russen versuchen, die Einwohner von Cherson mit Falschnachrichten über den Beschuss der Stadt durch unsere Armee einzuschüchtern " Eine solche "Propaganda" werde nicht funktionieren. Der neue Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine, Sergej Surowikin, bezeichnete die Lage dort hingegen als "angespannt". Er sprach von "dem Gebiet des militärischen Sondereinsatzes", die Bezeichnung der Regierung in Moskau für den Krieg in der Ukraine. Die Stadt Cherson, die in der Nähe der von Moskau annektierten Halbinsel Krim liegt, war die erste größere ukrainische Stadt, die nach dem Beginn der russischen Offensive am 24. Februar von russischen Streitkräften eingenommen wurde. Vor dem Krieg lebten fast 300.000 Menschen in der Stadt. Ende September annektierte Moskau das Gebiet im Süden der Ukraine. Seit einigen Wochen ist es Ziel einer Gegenoffensive der ukrainischen Armee, die  die russischen Truppen um 20 bis 30 Kilometer zurückgedrängen konnte.

Sergej Surowikin ist der neue russische Befehlshaber in der UkraineBild: Sergei Bobylev/Tass/dpa/picture alliance

Putin verhängt Kriegszustand in annektierten Gebieten

Der russische Präsident Wladimir Putin hat in den vier kürzlich annektierten ukrainischen Gebieten den Kriegszustand verhängt. Ein entsprechendes Dekret habe er bereits unterschrieben, teilte Putin in Moskau mit. Damit gehen erweiterte Machtbefugnisse für die russischen Besatzungsverwaltungen in den Gebieten Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja einher. Außerdem können Bewohner nun zur Arbeit in der Rüstungsindustrie gezwungen oder an Reisen gehindert werden. Möglich sind dem Dekret zufolge jetzt auch offiziell die Einführung von Militärzensur oder das Abhören privater Telefongespräche.

Die Verhängung des Kriegsrechts begründete Putin damit, dass die Führung in Kiew es ablehne, die Ergebnisse der im September abgehaltenen Scheinreferenden über einen Beitritt zu Russland anzuerkennen. "Im Gegenteil, der Beschuss geht weiter. Unschuldige Menschen sterben", so Putin. Seiner Darstellung zufolge sind Rückeroberungsversuche der Ukraine nun Angriffe auf russisches Staatsgebiet.

Von der Leyen: Russische Attacken sind "Kriegsverbrechen"

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat russische Angriffe auf Energieanlagen und andere kritische Infrastruktur in der Ukraine als Kriegsverbrechen bezeichnet. Die gezielten Angriffe auf die zivile Infrastruktur mit dem klaren Ziel, Männer, Frauen und Kinder im kommenden Winter von Wasser, Strom und Heizung abzuschneiden, seien reine Terrorakte, sagt von der Leyen im EU-Parlament in Straßburg. Damit beginne "ein neues Kapitel in einem bereits grausamen Krieg". Die CDU-Politikerin fügte hinzu: "Die internationale Ordnung ist sehr klar. Das sind Kriegsverbrechen."

Klare Worte von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der LeyenBild: Jean-Francois Badias/AP/dpa/picture alliance

EU bringt Sanktionen gegen Iran auf den Weg

Die EU-Staaten werfen dem Iran eine Unterstützung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor und haben deshalb neue Sanktionen gegen das Land auf den Weg gebracht. Die Strafmaßnahmen sollen Personen und Organisationen treffen, die für den Bau und die Lieferung iranischer Drohnen an Russland verantwortlich sind, wie mehrere Diplomaten der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel bestätigten. Konkret ist demnach vorgesehen, fünf Personen und drei Organisationen zu sanktionieren. Sie dürften mit Einreiseverboten und Vermögenssperren belegt werden. Zum Teil richten sich Strafmaßnahmen gegen sie bereits aus anderen Gründen.

Die iranischen Waffenlieferungen an Russland sollen Diplomaten zufolge an diesem Mittwoch auch Thema im UN-Sicherheitsrat werden. Die USA, Großbritannien und Frankreich wollten das Thema während einer Sitzung hinter verschlossenen Türen zur Sprache bringen, heißt es. Einzelheiten dazu wurden jedoch nicht genannt.

Das von der iranischen Armee im August veröffentlichte Foto zeigt den Testflug einer Drohne Bild: Iranian Army/ZUMA/IMAGO

Kiew: Seit September mehr als 220 iranische Drohnen abgeschossen

Das ukrainische Militär hat seit Mitte September nach eigenen Angaben mehr als 220 iranische Drohnen über dem Land abgeschossen. Seit dem "ersten Abschuss einer Kamikaze-Drohne vom Typ Schahed 136 aus iranischer Produktion über ukrainischem Territorium am 13. September in Kupjansk" habe die Luftabwehr "223 Drohnen dieses Typs zerstört", teilte die ukrainische Armee auf Telegram mit.  Die russische Armee setzt bei ihren Angriffen im Nachbarland nach ukrainischen Angaben auch iranische Drohnen ein. Vor allem Kamikaze-Drohnen kamen zuletzt vermehrt bei russischen Angriffen auf Städte und auf die Energie-Infrastruktur der Ukraine zum Einsatz.

Israel will Ukraine keine Waffen liefern

Trotz der russischen Angriffe auf die Ukraine mit Kampfdrohnen iranischer Bauart schließt Israel Waffenlieferungen weiterhin aus. "Ich möchte betonen, dass Israel wegen einer Anzahl operativer Erwägungen keine Waffensysteme an die Ukraine liefern wird", sagte der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz vor Botschaftern aus EU-Ländern. Man stehe an der Seite der Ukraine, der NATO und des Westens und werde weiter humanitäre Hilfe schicken, bekräftigte er gleichzeitig. Außerdem könne Israel der Ukraine bei der Einrichtung eines Frühwarnsystems helfen, das Menschenleben retten könne.

Israels Verteidigungsminister Benny Gantz: "Wegen einer Anzahl operativer Erwägungen keine Waffensysteme an Ukraine" Bild: Ilia Yefimovich/dpa/picture alliance

Israel hält sich in Russlands Angriffskrieg weitgehend zurück, um seine Beziehungen zu Moskau nicht zu gefährden. Diaspora-Minister Nachman Schai forderte indes zuletzt, angesichts der iranischen Lieferungen an Russland müsse Israel von dieser Haltung abweichen und die Ukraine ebenfalls mit Waffen versorgen. Die offizielle Linie ist das aber bislang nicht. 

USA wollen Drohnen-Verkauf stoppen

Die US-Regierung erklärte unterdessen, sie wolle "praktische, aggressive" Schritte unternehmen, um dem Iran den Verkauf von Drohnen an Russland zu erschweren. Es seien bereits Sanktionen und Exportkontrollen eingeführt worden, sagte ein Sprecher des Außenministeriums. Die nach seiner Darstellung sich vertiefende Allianz zwischen den Regierungen in Moskau und Teheran sollte von der Welt als "schwerwiegende Bedrohung" eingestuft werden.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte, das Bündnis werde der Ukraine "in den kommenden Tagen" Systeme zur Drohnenabwehr liefern. Damit solle das Land bei der Verteidigung gegen Drohnen aus iranischer Produktion unterstützt werden, mit denen Russland kritische Infrastruktur in der Ukraine angreife.

Der Iran hat einem Bericht zufolge Ausbilder auf die von Russland annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim geschickt, um Russen bei der Bedienung iranischer Drohnen zu schulen. Das berichtete die "New York Times" unter Berufung auf aktuelle und ehemalige Beamte, die mit Geheimdienstinformationen vertraut sind.

Die iranischen Ausbilder sollten den Russen helfen, Probleme mit der aus Teheran erworbenen Drohnenflotte zu bewältigen. Dies sei ein weiteres Zeichen für die wachsende Nähe zwischen Iran und Russland seit dem Einmarsch Moskaus in die Ukraine vor acht Monaten.

Fünf weitere Bergepanzer aus Deutschland in der Ukraine eingetroffen

Zur Abwehr der russischen Invasion hat Deutschland den ukrainischen Streitkräften fünf Bergepanzer und sieben Brückenlegesysteme übergeben. Das geht aus einer aktuellen Liste der militärischen Unterstützung hervor, die die Bundesregierung veröffentlicht hat. Damit habe die Ukraine insgesamt zehn Bergepanzer bekommen. Mit den Brückenlegesystemen lassen sich Überquerungen von Flüssen und Bächen konstruieren.

Ein Bergepanzer der Bundeswehr bei einer Militärübung in Hohengöhren in Sachen-AnhaltBild: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa/picture alliance

Mit Blick auf den bevorstehenden Winter wurden 116.000 Kälteschutzjacken, 80.000 Kälteschutzhosen und 240.000 Wintermützen überreicht. Auch 183 Stromgeneratoren, 100 Zelte sowie 167 000 Schuss Munition für Handwaffen gehören zu der Unterstützung aus Deutschland.

Wieder Festnahmen im AKW Saporischschja

Unterdessen wurde bekannt, dass weiteres Personal des russisch besetzten ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja festgenommen worden ist. Das berichtet die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien. Ein stellvertretender Leiter des AKWs und zwei weitere Mitarbeiter - alle aus der Ukraine - seien vor kurzem festgenommen worden. Während der Manager wieder freigelassen worden sei, seien die anderen noch nicht in Freiheit, hieß es.

Das AKW Saporischschja ist von russischen Truppen besetzt. Erneut wurden ukrainische Mitarbeiter festgenommenBild: Stringer/AFP/Getty Images

Zuvor war der Chef der Anlage vorübergehend von russischer Seite festgehalten worden. Er kam Anfang Oktober wieder frei. Mehrere IAEA-Experten sind ständig in dem AKW, um die Lage im größten europäischen Atomkraftwerk zu beobachten. Sie berichteten, dass die letzte verbliebene Hauptstromleitung für die Kühlung der Brennstäbe zum dritten Mal innerhalb von zehn Tagen unterbrochen war, am Montag aber wieder hergestellt werden konnte. 

uh/sti/kle/gri/haz/mak (rtr, dpa, afp)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

In einer früheren Version des Artikels war von der pro-russischen Verwaltung in Cherson die Rede. Das Adjektiv haben wurde nach berechtigter Kritik entfernt.

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