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Politik

Aufnahmeland Ukraine?

Anna Fil
15. November 2021

Vorschläge aus Deutschland, Flüchtlinge von der belarussisch-polnischen Grenze vorübergehend in der Ukraine unterzubringen, haben dort heftige Diskussionen ausgelöst. Wäre Kiew überhaupt zu einer Unterstützung bereit?

Belarus Polen Grenze Migranten
Die Flüchtlinge an der Grenze zwischen Polen und Belarus brauchen eine schnelle politische LösungBild: Leonid Shcheglov/Tass/imago images

Die Idee des SPD-Bundestagsabgeordneten Nils Schmid, Flüchtlinge und Migranten von der belarussisch-polnischen Grenze in der Ukraine unterzubringen, hat in Kiew heftige Diskussionen ausgelöst - auch wenn es bisher noch gar kein offizielles Ersuchen aus Berlin oder Brüssel gibt. Schmid hatte vorgeschlagen, mit der Ukraine eine vorübergehende Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten zu vereinbaren, solange deren Asylanträge in der EU geprüft werden.

Vorbild Türkei-Deal?

Schmids Idee ist nicht neu. Ähnlich hatte sich etwa schon vor Wochen Gerald Knaus, der Leiter der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI), in einem Interview mit dem deutschen Radiosender rbb geäußert. Der österreichische Migrationsforscher und sein ESI gelten als Architekten des 2016 geschlossenen Flüchtlingsabkommens der EU mit der Türkei. Im Rahmen dieses Abkommens nimmt Ankara Geflüchtete auf, denen kein Asyl in der EU gewährt wurde. Im Gegenzug hatte sich Brüssel verpflichtet, die Türkei mit insgesamt 6 Milliarden Euro bei der Aufnahme der Migranten zu unterstützen.

Ein ähnliches Verfahren, glaubt Knaus, könnte man auf Menschen anwenden, die versuchen, von Belarus aus in die EU zu gelangen. Anders als die türkischen Behörden werde Machthaber Alexander Lukaschenko dem allerdings wohl kaum zustimmen, räumt der Experte ein: "Aber man könnte es schaffen, mit einer anderen Demokratie in Osteuropa, die nach Europa blickt und die bereit wäre, Menschen human aufzunehmen, ein Abkommen zu schließen - mit der Republik Moldau, Georgien oder der Ukraine."

Würde die Ukraine Migranten aufnehmen?

In Kiew fielen die Reaktionen auf diese Idee jedoch mehr als verhalten aus. "Aus welcher Angst heraus sollten wir diese Menschen bei uns aufnehmen?", fragt etwa Oleksij Danilow, der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates.

Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sagte gegenüber der DW, man sei mit dem Vorstoß des deutschen Abgeordneten nicht einverstanden. Der Vorschlag sei "respektlos, nicht nur gegenüber den Migranten, sondern auch gegenüber den Europäern". Die schutzsuchenden Menschen in Belarus seien "keine Gegenstände, die man zu politischen Zwecken von einem Ort an den anderen transferieren" könne.

Zeltlager von Migranten an der belarussisch-polnischen GrenzeBild: Belarus State Border Committee/Tass/imago images

Außerdem betonte Podoljak, die Krise an der Grenze zur EU sei künstlich geschaffen worden, da die Migranten und Flüchtlinge entweder auf dem Luftweg oder über Russland nach Belarus gelangt seien. Daher wäre es logisch, sich "angesichts der langjährigen Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland" mit der Bitte an Russland zu wenden, bei der Lösung der Situation behilflich zu sein. Solle Moskau dies ablehnen, so Podoliak, wäre dies "doch ein guter Anlass für die Deutschen, sich Russlands Haltung gegenüber Europa mal nüchtern anzuschauen".

Sorge vor fehlender Akzeptanz in der Gesellschaft

Pawlo Krawtschuk, Experte für Migration bei der ukrainischen Menschenrechtsorganisation "Europa ohne Barrieren" meint, dass die Regierung in Kiew eher nicht einlenken würde, selbst wenn die EU finanzielle Mittel zur Unterstützung von Asylbewerbern in der Ukraine bereitstellen würde. "Kein Politiker, der sich an der öffentlichen Meinung orientiert",so Krawtschuk, "würde dies tun." In der Bevölkerung sei ein derartiges Abkommen kaum mehrheitsfähig. Krawtschuk verwies zudem darauf, dass es in der Vergangenheit bereits mehrfach zu Übergriffen auf Flüchtlingsheime gekommen sei.

Flüchtlingsheim in Jahotyn bei KiewBild: DW/I. Burdyga

So hatte etwa im Jahr 2016 die Einrichtung eines vorübergehenden Flüchtlingsheimes in Jahotyn bei Kiew monatelange Proteste ausgelöst. An ihnen hatten sich sowohl Bewohner der Stadt als auch Vertreter rechtsradikaler Organisationen beteiligt. Sie hatten damals von den Behörden verlangt, dort Kriegsveteranen und Binnenflüchtlinge aus der Ostukraine unterzubringen. Letztlich nahm das Zentrum aber wie geplant seine Arbeit für Flüchtlinge aus dem Ausland auf.

Lange Verfahren und fehlende Infrastruktur

Die Prüfung, ob eine Person als Flüchtling anerkannt wird oder Schutz benötigt, kann in der Ukraine bisweilen mehrere Jahre dauern. Aber auch anerkannte Flüchtlinge haben es Krawtschuk zufolge schwer, eine Wohnung und Arbeit zu finden. Viele täten sich schwer damit, die Landessprache zu erlernen sowie Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung zu erhalten. Auch Reisen ins Ausland seien problematisch, weil viele andere Staaten die von der Ukraine ausgestellten Flüchtlings-Papiere nicht anerkennen.

Dem staatlichen Migrationsdienst der Ukraine zufolge können Asylsuchende in der Ukraine in vorübergehenden Flüchtlingsunterkünften untergebracht werden. Davon gibt es landesweit vier, die insgesamt Platz für rund 420 Personen bieten. Nach Angaben des ukrainischen Büros des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) hielten sich zum 1. Januar dieses Jahres 2255 anerkannte Flüchtlinge und Schutzbedürftige in der Ukraine auf. Ein entsprechender Status wird durchschnittlich rund hundert Menschen pro Jahr gewährt.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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