Deutsche Hilfe für Verwundete aus der Ukraine
15. April 2022Zwei Brüder, 10 und 15 Jahre alt, und ihre Mutter wurden in der umkämpften ukrainischen Millionenstadt Dnipro durch Minen schwer verletzt. Nach ersten Behandlungen in der Ukraine und dem Transport nach Polen wurden sie diese Woche - begleitet von Fachärzten - mit acht weiteren verwundeten Kindern und Erwachsenen von der Bundeswehr nach Deutschland geflogen: in einem Spezialflugzeug, dem Airbus A310 MedEvac, der als fliegende Intensivstation ausgerüstet ist.
"Minenverletzungen gehören zu den schlimmsten Verletzungen, die man in der Medizin kennt. Ganze Körperteile können regelrecht zerfetzt sein", sagt Wolfgang Holzgreve. Er ist Ärztlicher Direktor im Universitätsklinikum Bonn, das die Mutter und ihre Söhne aufgenommen hat. Hier werden jetzt ihre komplexen Knochenbrüche und inneren Bauchverletzungen behandelt.
Ohne Behandlung verblutet jeder zweite Kriegsverletzte
Kinder, Kranke, Alte - sieben Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges werden weiter hunderte Menschen in der Ukraine getötet, viele verwundet, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Angriffe auf medizinische Einrichtungen machen die rechtzeitige Versorgung der Verletzten immer schwieriger - mit tödlichen Folgen.
Bis zum 14. April gab es nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO 119 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, Personal, Transporte oder Lager, mindestens 73 Menschen wurden getötet. Die UN-Organisation verurteilt die Verletzung des humanitären Völkerrechts, gezielte Angriffe gelten als Kriegsverbrechen.
Kriegsverletzungen wie Schuss- oder Explosionswunden reißen den Körper auf, erläutert Benedikt Friemert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und Soldat. "50 Prozent der Patienten sind nach 45 Minuten tot, wenn sie nicht behandelt werden", sagt er der DW, "sie verbluten". Die Versorgung dieser Verletzten könne nur durch Ärzte in der Ukraine geleistet werden, die schnell die Blutung stillen.
Weil solche Verletzungen in Deutschland extrem selten sind, hat die DGU gemeinsam mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr schon vor Jahren eine Fortbildung für 600 Chirurgen angeboten, damals auch mit Blick auf Terroranschläge in Deutschland, sagt Friemert. Nach Kriegsbeginn in der Ukraine wurde ein Webinar entwickelt, um Kenntnisse über Kriegsverletzungen zu vermitteln und vertiefen.
"Das Schlimmste, was einem passieren kann"
Friemert ist Oberstarzt im Bundeswehrkrankenhaus Ulm und Einsatzchirurg mit Erfahrungen in Afghanistan und Bosnien-Herzegowina, wo er einzelne Gefechte erlebt hat, aber keinen Flächenkrieg wie in der Ukraine. "Ich glaube, das ist aus ärztlicher oder pflegerischer Sicht das Schlimmste, was einem passieren kann", sagt er zu dem, was Mediziner dort erleben: Dauerstress, selbst unter Beschuss arbeiten, wochenlang am Limit und nicht das für die Patienten tun zu können, was nötig ist.
Erst wenn das Überleben der Patienten über die ersten Tage hinaus gesichert sei und sie transportfähig sind, könne es darum gehen, bei einer umfassenden Behandlung in Deutschland zerstörtes Gewebe, Muskeln, Nerven, Blutgefäße und Organe zu versorgen, den Brustkorb, Bauchraum, den Arm oder das Bein zu rekonstruieren.
Da weder die Bundeswehr noch andere offizielle deutsche Stellen Patienten aus der Ukraine abholen, hängt viel davon ab, ob die Ukraine selbst oder Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen (international: MSF) Verwundete aus den Kampfgebieten transportieren, damit sie Nachbarländer wie Polen erreichen.
Bisher nur wenige Patienten in Deutschland
Eine "zentrale Rolle" solle Deutschland spielen bei der medizinischen Versorgung der Menschen in und aus der Ukraine, das hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach kurz nach Kriegsbeginn angekündigt: Neben der gesundheitlichen Versorgung von Geflüchteten in Deutschland sowie der Lieferung von Medikamenten und Hilfsgütern sprach er auch von der Aufnahme von Schwerkranken und Schwerverletzten.
Knapp sieben Wochen nach Kriegsbeginn teilte das Bundesinnenministerium der DW mit, Deutschland habe über staatliche Vermittlung bisher 21 ukrainische Patienten aus der Ukraine, der Republik Moldau und Polen stationär aufgenommen. EU und Bundesregierung rechneten aber "je nach Kriegsverlauf mit einem signifikanten Anstieg der Übernahmeersuchen".
Vereinzelt kommen Verletzte auch über Privatinitiativen in Deutschland an. Benedikt Friemert hat über das Trauma-Netzwerk der Unfallchirurgen erfahren, dass bisher etwa 20 Krankenhäuser in Deutschland Verwundete aufgenommen haben. 650 Kliniken gehörten zum Netzwerk, 100 davon seien Trauma-Zentren mit besten Versorgungsmöglichkeiten. In der Regel bräuchten die Patienten mit Kriegsverletzungen keine Intensivbetten wie in der Coronakrise, sondern vor allem Spezialisten und Operationskapazitäten: "Ein normales Bett finden wir immer." Die Behandlungen dauerten erfahrungsgemäß mehrere Monate bis zu einem Jahr.
Transporte hängen von der Sicherheitslage in der Ukraine ab
Die Bitten um Hilfe aus der Ukraine und den Nachbarstaaten werden europäisch abgestimmt und in Deutschland koordiniert vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) mit dem Gemeinsamen Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern. Nach der Ankunft in Deutschland werden die Patienten in geeignete Krankenhäuser transportiert.
Eine BBK-Sprecherin sagte der DW, es gebe aktuell weitere Anfragen "im mittleren zweistelligen Bereich, für die Deutschland eine Übernahme zugesagt hat und plant". Wann die Transporte erfolgen können, "hängt von den Bedingungen in der Ukraine, also der Sicherheitslage der Patientinnen und Patienten ab".
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie Friemert hat anhand der Unterlagen aus der Ukraine mit geprüft, wo die elf Patienten vom Transport in dieser Woche am besten versorgt werden können. Wochenlang habe er vorher die Trauma-Netzwerke aktiviert. Es gelte, jetzt die Einsatz- und Hilfsbereitschaft aufrechtzuerhalten: "Wenn Patienten kommen und wir merken, wir können etwas tun, dann läuft es sehr gut."
Große Hilfsbereitschaft bei Krankenhäusern und Medizinern
Viele wollen den Menschen in der Ukraine helfen: Städte und Hilfsorganisationen, viele Kliniken und auch einzelne Ärzte haben selbst Lieferungen von medizinischem Material in die Ukraine organisiert. Den Umfang kennt die Bundesregierung nicht. Über das offizielle EU-Katastrophenschutzverfahren wurden 142 Hilfsgütertransporte durchgeführt, teilt das BMI mit: 500 Tonnen medizinische Schutzausrüstung, Desinfektionsmittel, Verbandsmaterial, Hygienekits, Beatmungsgeräte, Medikamente, Feldbetten, Bettwäsche, Decken und Generatoren.
Auch das Uniklinikum Bonn hat nach eigenen Angaben Medikamente und medizinische Güter im Wert von mehr als 300.000 Euro in die Ukraine gebracht, darunter vier Rettungsfahrzeuge, von denen zwei bereits im Krieg zerstört wurden.
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat Ärztinnen und Ärzte aufgefordert, sich eintragen zu lassen, wenn sie zu einem Hilfseinsatz für Kranke und Verletzte in der Ukraine oder in den Nachbarländern bereit sind. 1180 Ärztinnen und Ärzte (Stand 11. April) haben sich auf einem Portal der Bundesärztekammer registrieren lassen. Bisher ist es nach BMG-Angaben zu keinem Einsatz gekommen.
Bundeswehr hat bis 2021 Soldaten aus der Ukraine behandelt
Die Bundeswehr hat viel Erfahrung mit Kriegsverletzungen aus Auslandseinsätzen und in ihren Krankenhäusern. Dort wurden Verletzte aus Syrien oder dem Irak behandelt und seit 2014 immer wieder Verwundete aus der Ukraine. Es waren meist Soldaten, die im Airbus A310 MedEvac nach Deutschland geflogen wurden: 149 Patienten wurden in Bundeswehrkrankenhäusern versorgt. Zuletzt wurden Ende Juli verwundete ukrainische Soldaten aus Kiew nach Deutschland geflogen.
Sollen auch künftig Soldaten aus der Ukraine behandelt werden? Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums schreibt auf DW-Anfrage: Bei der Entscheidung über die Aufnahme von Patientinnen und Patienten "wird nicht zwischen Zivilisten und Militärangehörigen unterschieden".
"Schaffe ich es, den Patienten ins Leben zurückzubringen?"
Kriegsverletzte sind besonders häufig belastet durch Infektionen und problematische Keime, das zeige auch die Erfahrung mit den ukrainischen Verwundeten in den vergangenen Jahren, sagt Benedikt Friemert. Bei ihnen gebe es häufiger als in Deutschland üblich multiresistente Keime, die schwerer medikamentös zu behandeln sind und deren Ausbreitung im Krankenhaus man verhindern muss. Das Wissen dazu sei aber in Deutschland vorhanden, "da braucht man keine Sorge zu haben".
Wie erfolgreich sind Behandlungen von Schwerverletzten? Da müsse man unterscheiden, sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Es sei nicht immer gelungen, etwa ein Bein zu erhalten, wenn eine Infektion zu weit fortgeschritten war. Nach einer Teilamputation könne aber eine Prothese angepasst und der Patient mittels Rehabilitation wieder auf die Beine gestellt werden.
"Schaffe ich es, den Patienten ins Leben zurückzubringen?", das sei die entscheidende Frage für Mediziner, betont der Bundeswehrarzt aus Ulm. Er blickt auf Erfolge zurück: "Wir hatten eine Patientin aus dem Osten der Ukraine, die haben wir ein Jahr lang behandelt, bis sie hier auf zwei Beinen wieder rausgegangen ist."
Die Mediziner in der Uniklinik Bonn wollen jetzt dafür arbeiten, dass auch die verwundete Mutter und ihre Söhne aus der Ukraine die Minenverletzungen so gut wie möglich überstehen.