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Ukraine: Die Angst vor dem Weltkrieg

23. März 2022

Der russische Angriff auf die Ukraine löst weltweit Ängste vor einem globalen Konflikt aus. Wie weit sind wir von einem Weltkrieg entfernt? Wir haben Historiker und weitere Experten nach ihrer Einschätzung gefragt.

Russiche Hyperschallrakete "Kinzhal"
Russsiche Hyperschallrakete "Kinzhal" Bild: Alexander Zemlianichenko/AP/picture alliance

Als russische Raketen vor anderthalb Wochen ein militärisches Ausbildungszentrum nahe Lwiw trafen und 35 Menschen töteten, da war die Erschütterung bis nach Polen zu spüren. Nur 20 Kilometer weiter westlich, und die Raketen hätten polnisches Staatsgebiet getroffen - und damit ein NATO-Land. Ein Angriff gegen ein Mitglied gilt als Angriff gegen alle, so haben es die NATO-Partner vereinbart. Der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, warnte denn auch, die USA würden "jeden Zentimeter des NATO-Gebiets verteidigen".

Angst vor Atomwaffen

Von einem dritten Weltkrieg wollen Experten heute noch nicht reden, aber die Angst vor solch einer Eskalation ist längst da. "Die Vorstellung, dass wir jetzt unsere Kriegsmaschinerie, unsere Truppen, Flugzeuge, Piloten und Panzer da reinschicken - machen wir uns nichts vor - das ist der dritte Weltkrieg", sagte kürzlich US-Präsident Biden. Entsprechend gering ist die Bereitschaft der NATO, direkt in den Krieg in der Ukraine einzugreifen, etwa mit einer Flugverbotszone. Zu groß wäre das Risiko einer Konfrontation mit Russland.

Die Zerstörung durch die Atombombe in Hiroshima 1945 ist bis heute eine Mahnung Bild: Reinhard Schultz/imago images

Doch was, wenn es doch dazu kommt? Ein solcher Weltkrieg könnte "konventionell" geführt werden, also ohne Atomwaffen. Doch die Gefahr wäre groß, dass auch nukleare Sprengköpfe zum Einsatz kämen. Auf sogenannte taktische Atomwaffen, die auf territorial begrenzten Kriegsschauplätzen mit kleiner oder mittlerer Sprengkraft außerhalb der NATO zum Einsatz kämen, würde das westliche Bündnis anders reagieren, als wenn sogenannte strategische Atomraketen flögen. Diese haben das Potential, die Welt von heute in Schutt und Asche zu legen.

Putins Roulette

Ob Putin soweit ginge? Während manche Experten nukleare Drohgebärden für einen Bluff halten, trauen andere dem ehemaligen KGB-Agenten zu, den nuklearen Weltuntergang herbeizuführen. "Putin darf nicht vergessen, dass auch die NATO ein Nuklearbündnis ist", sagt der frühere polnische Außen- und Verteidigungsminister Radek Sikorski der DW. "Er weiß, dass man einen nuklearen Krieg nicht überlebt. Der Tag, an dem Putin zur Atomwaffe greifen würde, wäre der letzte in seinem Leben", argumentiert Sikorski.

Der deutsch-amerikanische Historiker Conrad Jarausch vergleicht Putins Strategie mit der Adolf Hitlers im Jahr 1939. Er habe einen regionalen Konflikt angezettelt und warne den Westen, "wenn er entsprechend massiv darauf reagiert, dass dann der dritte Weltkrieg ausbricht".

Einen solchen Automatismus gebe es jedoch nicht, meint Stefan Garsztecki, Politologe und Historiker von der TU Chemnitz. "Es müssen keine weitere Eskalationsstufen wie 1939 kommen, vorausgesetzt, dass man massiv gegensteuert." Das zeige auch der Blick auf die "eingefrorenen Konflikte" in Georgien und der Republik Moldau. Er glaubt, die NATO müsste klarer rote Linien definieren. "Wenn die Gefahr besteht, dass sich Kiew und Odessa in ein europäisches Aleppo verwandeln, dann wird man intensiver über eine Flugverbotszone sprechen müssen."

Chinas Rolle entscheidend

Xi Jinping und Wladimir Putin beim demonstrativen Toast - aber wie weit wird China den russischen Krieg tatsächlich unterstützen?Bild: DW

Ein ursprünglich regionaler Konflikt, der einen globalen Konflikt zum Ausbruch bringt: das habe es in der Geschichte schon häufiger gegeben, sagt Sven Lange, Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte der Bundeswehr in Potsdam. Der Erste Weltkrieg sei das beste Beispiel dafür.

Für einen Weltkrieg sei allerdings "der Beitrag Russlands nicht entscheidend", meint Lange, sondern wie sich "die beiden globalen Mächte, also die USA und China" positionierten. Nach seiner Einschätzung könne Peking derzeit kein Interesse daran haben. "Ich glaube, dass eine Unterstützung Russlands durch China erfolgen wird, aber diese nicht so massiv ausfällt, dass man damit in einen unmittelbaren Konflikt mit den USA geraten wird."

In Osteuropa wächst unterdessen die Nervosität, denn der Krieg kommt immer näher - mit russischen Luftangriffen auch im Westen der Ukraine. Auch wenn der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg versichert: "Einer für alle, alle für einen", Einschläge von Hyperschallraketen unweit der NATO-Grenze lösen dort Ängste aus. Der Besuch von US-Präsident Joe Biden in Polen diese Woche soll die Ostflanke der Allianz beruhigen.

Konflikt begrenzen

In Osteuropa mehren sich derweil Stimmen, die fordern, die NATO solle Kampfjets an die Ukraine liefern, ihren Luftraum sperren und Deutschland müsse Energielieferungen aus Russland einstellen, damit Putin das Geld für den Krieg ausgeht. Je weiter im Osten, desto eher geht man von einer Eskalation aus, so scheint es. "Wir sind alle schon in diesem Krieg", sagte kürzlich die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja im Zweiten Deutschen Fernsehen. "Wenn man aus der Geschichte gelernt hat, weiß man, dass es keine Möglichkeit mehr gibt diesen Krieg aufzuhalten, wenn wir nicht radikal handeln". 

Flucht aus Mariupol: die Stadt ist von der russischen Armee weitgehend zerstörtBild: Str/AA/picture alliance

In Deutschland begegnet man solchen Vorschlägen überwiegend mit kühler Analyse. Das Wichtigste sei, den Konflikt "unbedingt räumlich und zeitlich zu begrenzen, um eine Ausweitung zum Flächenbrand zu verhindern" - so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler von der Humboldt-Universität in Berlin. Katja Petrowskaja betreibe rhetorisch das Gegenteil. "Das mag angesichts der Schrecken in der Ukraine nachvollziehbar sein, läuft aber auf ein Herbeireden eines großen Krieges hinaus", sagt er. Zum gegenwärtigen Handeln der NATO gebe es derzeit keine verantwortbare Alternative, so Münkler im DW-Gespräch.

Erinnerungen an 1939

Der russische Präsident Wladimir Putin gilt seit dem Angriff auf die Ukraine intenational als KriegsverbrecherBild: Alexei Nikolsky/AP/Sputnik/picture alliance

Manche Historiker ziehen bereits Analogien zum Zweiten Weltkrieg, vor allem bezogen auf Putins Vorgehen. Volksversammlungen, die einen Anschluss legitimieren sollten, oder der Einmarsch der Roten Armee in Polen am 17. September 1939 seien die "gleichen Muster, wie Putin sie auf der Krim und in der Ostukraine wiederholte", sagt Stefan Garsztecki von der TU Chemnitz. "Hitler hat ab 1938 eine Politik der Revision der Pariser Friedensordnung betrieben und Putin versucht in ähnlicher Weise, die Folgen des Zerfalls der UdSSR zu revidieren", so Herfried Münkler.

Der polnische Politiker Sikorski zieht sogar den direkten Vergleich zwischen Putin und Hitler: "Putin ist wie Hitler vor dem Holocaust, aber nach dem Überfall auf Polen 1939", sagt er. Vor diesem Vergleich mit dem nationalsozialistischen Diktator warnt Münkler, "weil es eine Eindeutigkeit schafft, wo es noch keine gibt". Hitler sei von einer Rassenideologie getrieben gewesen, die man bei Putin zurzeit nicht erkenne, meint Münkler.