1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Ukraine: Die Oligarchen an der Côte d'Azur

7. Dezember 2022

Vor der russischen Invasion sind pro-russische Milliardäre, Oligarchen und Abgeordnete aus der Ukraine geflüchtet. Einige vernetzen sich in Frankreich neu.

Ukrainer stoßen auf prorussische Oligarchen

05:47

This browser does not support the video element.

Tetjana Sapjan muss das Interview wegen der russischen Raketenangriffe auf Kiew immer wieder verschieben. Doch sie wolle unbedingt umfangreich Auskunft geben, betont die Sprecherin des ukrainischen "State Bureau of Investigation" immer wieder. Das Ermittlungsbüro ist mit dem US-amerikanischen FBI oder dem deutschen Bundeskriminalamt vergleichbar.

Und diese Ermittlungen bergen besondere Sprengkraft für die Ukraine: Während die Menschen dort in Luftschutzbunkern kauern, die Armee sich mit hohen Verlusten gegen die russischen Invasoren stemmt und zehn Millionen Menschen innerhalb und außerhalb der Ukraine auf der Flucht sind, flohen laut Medienberichten einige ukrainische Oligarchen, Millionäre, auch Milliardäre mit ihren Familien außer Landes. Einige kurz vor Beginn der russischen Invasion am 24. Februar.

Gut 1800 Kilometer entfernt, an der französischen Côte d‘Azur, wundern sich die Menschen über eine gestiegene Zahl an Luxuslimousinen mit ukrainischen Nummernschildern auf den Straßen der französischen Riviera. Die so gar nicht zu den Nachrichten voller Leid aus dem von Russland überfallenen Land passen. 

Nizza mit StrandpromenadeBild: Michel Champouret/DW

Koffer voller Bargeld

Ein ukrainischer Blogger verbreitet ein Foto mit mehreren Koffern voller Bargeld - mehr als 17 Millionen US-Dollar plus mehr als eine Million Euro sollen es sein, gefunden von ungarischen Zollbeamten in Luxuslimousinen aus der Ukraine. Das Geld war bei der Ausreise beim ukrainischen Zoll nicht deklariert worden. Zulässig ist der Grenzübertritt nur mit einer Bargeldsumme von bis zu 10.000 Euro.

Ermittlerin Tetjana Sapjan bestätigt, dass ihre Behörde seit mehreren Monaten auch deswegen ermittelt. "Unter den Personen, die vom staatlichen Ermittlungsbüro überprüft wurden, waren Vertreter der Staatsmacht, Vertreter aus der Wirtschaft, ehemalige Justizmitarbeiter und sogar Abgeordnete", sagt Sapjan im DW-Gespräch. Es werde untersucht, ob diese Leute "legal die Grenze überquert hatten und ob sie in Geldwäsche verwickelt waren".

Die Sprecherin des ukrainischen State Bureau of Investigation Tetjana SapjanBild: Wolodomyr Senchenko/DW

Seit Mitte September sei gegen mehr als 80 Personen ermittelt worden, jetzt seien es noch immer ein paar Dutzend. Mitten im Krieg widmen sich die Ermittlerinnen und Ermittler einem für die Ukraine sehr schmerzhaften Thema: Der auch nach den pro-europäischen Maidan-Protesten endemisch gebliebenen Korruption im Land, Seilschaften, und ein Netzwerk, deren Protagonisten häufig beste Kontakte nach Russland haben. 

Maidan-Proteste in Kiew am 2.Februar 2014Bild: Aris Messinis/AFP/Getty Images

Internationale Haftbefehle ausgestellt

Für zwei der superreichen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine seien internationale Haftbefehle ausgestellt worden. Doch ob es jemals Auslieferungen an die Ukraine gebe, wagt Sapjan kaum zu hoffen. "Wir wissen: Hat eine Person sehr viel Geld, neigt sie dazu, einen Teil davon für den Einfluss auf bestimmte Prozesse auszugeben - nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Ausland."

Ermittelt werde auch gegen sechs ehemalige oder noch amtierende Abgeordnete des ukrainischen Parlamentes. Dort ließ Präsident Wolodymyr Selenskyj im Sommer die Fraktion der pro-russischen Partei "Oppositionsplattform" verbieten. Pikant: Einige dieser Abgeordneten gründeten daraufhin eine neue Abgeordneten-Gruppe mit dem Namen "Wiederaufbau der Ukraine", sagt Oleksandr Salischenko von der Kiewer Nichtregierungsorganisation Chesno.

Der Verein analysiert mit finanzieller Unterstützung aus dem Westen die Arbeit der Parlamentsabgeordneten vor allem auf Korruption. "Diese neue Abgeordneten-Gruppe wurde aus der Ferne gebildet", sagt Salischenko im DW-Gespräch. Das heißt, die Politiker "waren nicht in der Ukraine beziehungsweise nicht im Plenarsaal oder im Parlamentsgebäude anwesend".

Kurios: Der digitale Betrieb des ukrainischen Parlaments zunächst in der Corona-Pandemie und jetzt im Krieg habe es ermöglicht, dass diese dem Vernehmen nach jahrelang offen pro-russisch agierenden Abgeordneten "alle Mitgliedschaftsanträge" für die neue Fraktion "mit digitalen Signaturen unterzeichnet" hätten. Darunter auch der Abgeordnete Ihor Abramowytsch. 

Ukrainische Abgeordnete in Villen der Superreichen

Der wird von ukrainischen Journalisten im Sommer wiederum an der französischen Riviera gefilmt, wie er gerade vom Joggen zurückkommt, gemeinsam mit einem ehemaligen hohen Beamten der ukrainischen Finanzaufsicht. Abramowytsch wohnt auf der Halbinsel Saint-Jean-Cap-Ferrat in Nizza. Es ist ein Villen-Refugium von Europas Superreichen, wo schon seit langem viele Luxusimmobilien in russischem und ukrainischem Eigentum sind.

Luxusinsel Saint-Jean-Cap-FerratBild: Michel Champouret/DW

Diese Exil-Abgeordneten versuchten weiterhin Einfluss auszuüben, sagt Korruptionsexperte Salischenko. "Ein Teil von ihnen beschäftigt sich auch mit der Gesetzgebung aus der Ferne" und würde digital Gesetzesentwürfe einbringen. Ihre Abwesenheit ist juristisch kein Grund für einen Mandatsverlust in der Ukraine. Allerdings werde den "fernarbeitenden Abgeordneten" kein Gehalt ausgezahlt.

Sie decken ihr Auskommen offensichtlich aus anderen Quellen. Für Nachfragen sind die Exil-Abgeordneten nicht erreichbar: Offenbar mit Beginn der russischen Invasion wurden die Kontaktdaten der Parlamentsbüros von der Internetseite des ukrainischen Parlaments gelöscht. 

Mitverantwortung für den Krieg

Doch an der französischen Côte d'Azur gibt es auch ganz andere Flüchtlinge aus der Ukraine, sagt Véronique Borré von der Stadtverwaltung in Nizza. "Viele Frauen, Mütter mit ihren Kindern oder auch Großmütter mit ihren Enkelkindern." Gleich am Montag nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine musste die Flüchtlingsbeauftragte jeden Tag 500 neue Kriegsflüchtlinge unterbringen, die über die südliche Flüchtlingsroute aus der Ukraine geflohen waren - über Ungarn und Italien nach Frankreich.

Antikriegsproteste ukrainischer Flüchtlinge in NizzaBild: Frank Hofmann/DW

Nizza musste innerhalb kürzester Zeit die größte Notunterkunft in Frankreich nach Paris und Straßburg für Menschen aus der Ukraine aufbauen. Hilfe bekommt Borré von der Ukrainerin Iryna Bourdelles, die den französisch-ukrainischen Kulturverein von Nizza leitet. Seit Beginn der russischen Invasion betreut die ehrenamtliche Helferin ukrainische Kriegsflüchtlinge: Unterstützt mit Lebensmitteln und psychologischer Hilfe für die Kinder.

Leistet humanitäre Hilfe für Kriegsflüchtlinge an der Côte d'Azur: Iryna Bourdelles Bild: Michel Champouret/DW

Dass sich in unmittelbarer Nachbarschaft auch mutmaßlich korrupte Seilschaften aus der Ukraine festgesetzt haben, "die hierhergekommen sind, um an der Côte d'Azur Zuflucht zu suchen, und die große Autos fahren", macht sie wütend. Doch sie wundert sich nicht. Es gebe Dinge in der Ukraine, "die vor dem Krieg akzeptiert und toleriert wurden". 

"Diese Leute waren nicht nur Teil dieser korrupten Elite, sondern darüber hinaus sind sie, und da sind wir uns sicher, für diesen Krieg in der Ukraine verantwortlich, weil sie Russland dazu aufgerufen haben, in die Ukraine zu kommen", sagt Bourdelles. Doch diese Aufarbeitung müsse von der ukrainischen Justiz geleistet werden. Nach dem Krieg.

Mitarbeit: Mykola Berdnyk