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Wird Ukraines Botschafter Melnyk Deutschland verlassen?

4. Juli 2022

Andrij Melnyk ist der derzeit bekannteste ausländische Diplomat in Berlin. Aber zuletzt sorgte er mit umstrittenen Äußerungen zum Faschismus in der ukrainischen Geschichte für Widerspruch. Verlässt er bald Deutschland?

Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine
Seit sieben Jahren Kiews Mann in Berlin: Andrij MelnykBild: Christophe Gateau/dpa/picture alliance

Er ist in Berlin die Stimme der kämpferischen Ukraine, die sich verzweifelt gegen Russland wehrt.  Botschafter Andrij Melnyk beeindruckt viele Menschen in Deutschland, aber andere empört er auch. Nun vermeldet die "Bild"-Zeitung unter Berufung auf mehrere Quellen in Kiew, dass der 46-jährige Spitzendiplomat noch vor dem Herbst aus Berlin in die ukrainische Hauptstadt zurückkehren werde. Dort solle er das Amt des stellvertretenden Außenministers übernehmen. 

Erst vor wenigen Tagen hatte Melnyk für breiten Widerspruch gesorgt - nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen und Israel. Auch die Regierung in Kiew distanzierte sich von ihm in einem Punkt deutlich. "Die Meinung", die Melnyk in einem Interview mit einem deutschen Journalisten geäußert habe, "ist seine eigene und spiegelt nicht die Position des Außenministeriums der Ukraine wider". Nun, wenige Tage später, eine Meldung über seine mutmaßliche baldige Abberufung. Die ukrainische Botschaft in Berlin war für eine Stellungnahme zunächst nicht zu erreichen. 

Anlass für die Distanzierung des ukrainischen Außenministeriums war ein Videointerview des deutschen Journalisten Tilo Jung mit Melnyk. Jung brachte das Gespräch auf Melnyks Bewertung des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera (1909-1959). Der Botschafter bestritt, dass es irgendwelche Beweise für den Massenmord an Juden durch Bandera-Anhänger gebe.

"Kein Massenmörder"

"Bandera war kein Massenmörder von Juden und Polen", sagte Melnyk. Der Botschafter verglich Bandera als "Freiheitskämpfer" mit Robin Hood; man schiebe ihm aber mit den Vorwürfen der vergangenen Jahrzehnte "alles in die Schuhe". 

Doch Bandera war kein Robin Hood. Diverse wissenschaftliche Arbeiten beschäftigten sich in jüngerer Zeit mit seiner Person. Er führte und prägte die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), seine Gefolgschaft war für ihren Antisemitismus berüchtigt. Die OUN-Kämpfer aus dem Westen der Ukraine kämpften zeitweise an der Seite der Nazis und waren 1943 für ethnisch motivierte Vertreibungen verantwortlich, bei denen zehntausende polnische Zivilisten, darunter viele Juden, ermordet wurden. Von 1941 bis zu seiner Freilassung 1944 war Bandera selbst im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin inhaftiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg floh Bandera nach Deutschland und lebte in München. Dort wurde er 1959 von einem Agenten des sowjetischen Geheimdienstes KGB ermordet. Ukrainische Nationalisten verehren ihn bis heute.

Ein Bandera-Bild bei einem Nationalisten-Umzug Anfang 2021 in KiewBild: Valentyn Ogirenko/REUTERS

Polens stellvertretender Außenminister Marcin Przydacz nannte Melnyks Äußerungen am Freitag "vollkommen inakzeptabel". "Wir wissen genau, wie die polnisch-ukrainischen Beziehungen waren und was in den Jahren 1943 und später in Wolhynien und Ostgalizien geschah", fügte er mit Blick auf die von ukrainischen Ultranationalisten verübten Massaker hinzu. Warschau sei aber "an der Position der ukrainischen Regierung interessiert, nicht an der von Einzelpersonen".

Scharfe Kritik kam von israelischer Seite. Melnyks Aussagen seien "eine Verzerrung der historischen Tatsachen, eine Verharmlosung des Holocausts und eine Beleidigung derer, die von Bandera und seinen Leuten ermordet wurden". Weiter erklärte die israelische Botschaft in Deutschland: "Sie untergraben auch den mutigen Kampf des ukrainischen Volkes, nach demokratischen Werten und in Frieden zu leben."

Vorwurf der Geschichtsklitterung

Der Pianist Igor LevitBild: Felix Broede

In Deutschland äußerten sich vor allem Vertreter der Wissenschaft kritisch oder bestürzt. Die Münchener Osteuropa-Historikerin Franziska Davies nannte die Äußerungen Melnyks "schwer erträglich". Der jüdische Pianist Igor Levit warf auf Twitter dem Diplomaten vor, "den Unwissenden" zu spielen. "Was für eine Geschichtsverleugnung. Was für eine Geschichtsverklitterung. Was für eine Heuchelei. Schämen Sie sich." Die Autorin Alice Bota nannte Melnyks Ausführungen unter Verweis auf historische Bezüge "nicht akzeptabel". Zugleich eskalierte der Vorgang - wie oft in den sozialen Medien - durchaus losgelöst von der Sachdebatte.

Dabei ist die Debatte ohnehin heftig angesichts des historischen Kontextes mit vieltausendfachem Morden und mit Vertreibung. Doch verschärft wird sie durch die Gestalt und das Auftreten Melnyks. Nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist der fast perfekt deutsch sprechende Diplomat ein engagierter Kritiker der Bundesregierung in Berlin, der er lange ein zögerliches Handeln und mangelnde Unterstützung seines von Russland angegriffenen Landes vorwarf. Als er Anfang Mai Bundeskanzler Olaf Scholz wegen dessen damaligem Nein zu einer Kiew-Reise als "beleidigte Leberwurst" bezeichnete, sorgte das für breite Diskussionen. Nun mahnen bedächtige Stimmen wie die Historikerin Davies. "Die Verehrung von Bandera zu kritisieren und gleichzeitig solidarisch mit der Ukraine zu sein gehört zusammen", schrieb sie.  

Ein ungewöhnliches Lob

Kritik an Melnyk kam auch aus der BundesregierungBild: Christian Spicker/IMAGO

Auch die Bundesregierung registrierte die Äußerungen Melnyks. Die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann retweetete den offiziellen Tweet von Tilo Jung zum Interview frühzeitig mit einem vorangestellten "Sehenswert!". Solche Tweet-Empfehlungen aus dem Sprecher-Team der Bundesregierung sind selten. Auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, äußerte am Montag Kritik an dem Botschafter.

Mit seinen 46 Jahren ist Melnyk, der Englisch und Deutsch spricht, ein bereits langjährig erfahrener Diplomat. Seit bald 25 Jahren ist er im diplomatischen Dienst seines Landes.  Von 2007 bis 2010 war er als Generalkonsul seines Landes in Hamburg tätig, danach leitete er eine Direktion im Auswärtigen Amt in Kiew. Seit Januar 2015 wirkt er als Botschafter in Berlin. Nun steht laut "Bild" der Vorschlag des Kiewer Außenministeriums im Raum, dass er dort stellvertretender Außenminister wird. 

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