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PolitikUkraine

Evakuierung aus Pokrowsk: "Ein Gefühl von Heimat mitnehmen"

7. September 2024

Aus Pokrowsk und umliegenden Orten in der Ukraine, die heute weniger als zehn Kilometer von der Frontlinie entfernt sind, werden Menschen evakuiert. Wie nehmen sie Abschied von ihrem Zuhause? Die DW war vor Ort.

Älter Menschen sitzen im Evakuierungszug in Pokrowsk
Im Evakuierungszug in PokrowskBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

"Das eigene Zuhause zu verlassen, fällt schwer. Die Angst, in eine andere Stadt zu gehen, kann größer sein als die vor dem Tod", sagt Hennadij Judin, vom Evakuierungsteam Weißer Engel. Mit ihm und drei seiner Kollegen fahren wir durch die Straßen von Myrnohrad, einer Bergarbeiterstadt in der Region Donezk, südwestlich des von Russland besetzten Awdijiwka im Osten der Ukraine. Russlands Armee rückt immer näher an Myrnohrad heran. Die Frontlinie liegt bereits weniger als zehn Kilometer von der Stadt entfernt, die nun unter ständigem Beschuss leidet. Den Behörden zufolge sind von den einst 47.000 Einwohnern weniger als 2000 noch vor Ort.

Der Polizist des Evakuierungsteams Weißer Engel Hennadiy Judin (Mitte) mit seinen Kollegen in MyrnohradBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Das Team Weißer Engel besteht aus Polizisten, die Menschen in einem gepanzerten Kleinbus aus der Stadt herausbringen. In dem Fahrzeug liegen schusssichere Westen und Helme sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. "Hier sind praktisch keine Kinder mehr", sagt Judin und fügt hinzu: "Es gibt noch zwei Familien mit Kindern, die eine Unterkunft suchen, aber sie werden alleine gehen." Zwingen könnten die Beamten die Menschen zur Evakuierung nicht, so Judin.

Er selbst musste die inzwischen von Russland besetzte Stadt Awdijiwka verlassen und weiß daher, wie schwer es Menschen fällt, ihr Zuhause aufzugeben. "Ich nenne das Beispiel Awdijiwka, wo es jetzt weder einen Rettungsdienst noch ein Krankenhaus gibt. Dort kann niemand mehr bei einer Evakuierung helfen", erläutert Judin. So gelinge es ihm immer wieder, die Menschen zu überzeugen und sie zum Verlassen zu bewegen.

Einsatz zur Evakuierung

Heute fahren die Weißen Engel los, um zwei Männer zu holen, die freiwillig gehen wollen. Ihre Häuser befinden sich am südlichen Stadtrand, wo bereits russische Angriffsdrohnen einschlagen. Doch die Evakuierer treffen die Männer dort nicht an und versuchen, sie telefonisch zu erreichen. Zu hören ist nur das Bellen eines Hundes in der Nachbarschaft. Entlang der Straße streunen offenbar zurückgelassene Hunde herum.

Streunende Hunde in MyrnohradBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Es stellt sich heraus, dass einer der Männer, Witalij, sich inzwischen zu Fuß in Richtung Pokrowsk aufgemacht hatte, von wo Evakuierungszüge abfahren. Die Polizisten holen ihn ein und helfen ihm, sein Gepäck ins Fahrzeug zu laden. Den anderen Mann, Serhij, greifen die Evakuierer unterwegs an einer Bushaltestelle auf. Dort befinden sich drei weitere Frauen, die jedoch nicht weg wollen. "Noch können wir die Lage ertragen", sagt eine von ihnen.

Witalij (links) und Serhij aus Myrnohrad sitzen im Fahrzeug des Evakuierungsteams Weißer EngelBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Die Beamten fahren weiter nach Pokrowsk. Die beiden evakuierten Männer sind betrübt und reden kaum. In Pokrowsk erwartet sie ein Bus, der nach Pawlohrad in der benachbarten Region Dnipropetrowsk fährt. Danach geht es für sie weiter nach Kropywnyzkyj, zu einer Unterkunft für Binnenflüchtlinge.

Warten auf den Zug

Pokrowsk liegt südwestlich von Myrnohrad. Nach Angaben der Regionalverwaltung befinden sich 26.000 der einst 60.000 Menschen noch in der Stadt, darunter mehr als 1000 Kinder. 

Am Morgen ist Leben in der Stadt. Anwohner laufen durch die Straßen, auf dem Markt sind Stände mit Gemüse aufgebaut. Die Verkäuferin Natalja sagt, sie werde erst dann über eine Evakuierung nachdenken, wenn ihre Waren ausverkauft sein würden. "Wohin soll ich denn gehen? Nicht jeder kann es sich leisten, eine Wohnung zu mieten." Auch der Einkäufer Serhij sagt, vorerst bleiben zu wollen, aber sein Kind solle in Sicherheit gebracht werden, meint er.

Eine Frau auf dem Markt in PokrowskBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Mittags erwacht der Bahnhof zum Leben. Ein Rentnerpaar sitzt, umgeben von großen Taschen, auf einer Bank auf dem Bahnsteig. "Sehen Sie, was hier passiert?", sagt Wolodymyr und meint damit den Beschuss. Deswegen würden seine Frau Halyna und er die Stadt verlassen. "Es ist sehr traurig, dass unsere Stadt aufgegeben wird", sagt Halyna. Das Paar hat bereits ein Haus in einem Dorf in der Region Dnipropetrowsk gemietet und zieht nach und nach um. "Aber man kann nicht alles mitnehmen", zuckt der Mann mit den Schultern. Er macht sich Sorgen, ob künftig die Renten zum Leben reichen werden.

Die 80-jährige Ljubow im Bahnhof von PokrowskBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

"Ich weiß nicht, ob ich das alles durchstehen werde", sagt die 80-jährige Ljubow, die ebenfalls im Bahnhof wartet. Sie hat Angst vor der langen Reise. Ihr Evakuierungszug wird 24 Stunden bis nach Lwiw brauchen. Von dort wird es für sie weiter in eine Unterkunft ins Karpatengebiet gehen. Unterstützt wird sie von einem neben ihr sitzenden Soldaten. Auch er wartet auf den Zug, um sich im Westen des Landes behandeln zu lassen. Ihm war es zusammen mit mehreren Kameraden gelungen, aus dem von den Russen eingenommenen Ort Nowohrodiwka zu entkommen.

Der Bahnhof von PokrowskBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Auf dem Bahnsteig helfen Rettungskräfte und Freiwillige Menschen, die eingeschränkt mobil sind, beim Einsteigen in den Zug. "Es ist besser, man kommt ums Leben, als Invalide zu bleiben", sagt die 85-jährige Ljudmyla aus dem Ort Rodynske. Im Zug neben ihr sitzen ihre Tochter Nelja und deren 85-jährige Schwiegermutter Kateryna.

"Wir gehen jetzt auch, weil es hier immer lauter donnert und auch die Polizei schon angerufen hat", sagt Nelja. Ihr 17-jähriger Sohn und ihre ältere Tochter würden die drei Frauen in Kiew bereits erwarten. Von dort wollen sie alle weiter nach Finnland. "Es ist traurig, den Ort zu verlassen, an dem man geboren wurde und aufgewachsen ist", klagt Nelja, während ihre Mutter Ljudmyla zu weinen beginnt. Eigentlich wollten die drei Frauen ihr Zuhause nicht verlassen. Doch als Rodynske fast menschenleer war, willigten sie einer Evakuierung ein.

Abschied am Bahnsteig

Wer nicht mitfährt, muss nach Aufforderung des Schaffners den Zug nun verlassen, der in wenigen Minuten Richtung Westen abfährt. Viktoria, eine Studentin, springt noch in ihren Waggon und lässt auf dem Bahnsteig ihre Mutter Switlana zurück. Sie weint, weil auch sie gerne mitfahren würde. "Aber wir müssen noch einen Monat hier bleiben, mit den Mähdreschern aufs Feld fahren und dann die Kühe verkaufen", sagt die Frau, deren Bauernhof im Dorf Nowowasyliwka liegt. Sie bedauert sehr, den Hof verlassen zu müssen. Gleichzeitig ist ihr aber klar, wie gefährlich es ist, zu bleiben.

Abschied von Angehörigen in PokrowskBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Ein Mann auf dem Bahnsteig schaut durch ein Fenster in einen Waggon, in dem seine Frau und sein Sohn sitzen. Dieser winkt seinem Vater zu, der nicht mitfahren kann, weil er noch in einem Kohlebergwerk arbeiten muss. "Ein, zwei Tage, eine Woche - niemand weiß, wie lange das Bergwerk noch in Betrieb sein wird", sagt er.

Abschied vom Vater, der in Pokrowsk bleibtBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Auch ein älterer Mann bleibt auf dem Bahnsteig zurück. "Ich nehme den nächsten Zug, dieser ist schon voll", sagt er, obwohl er genau weiß, dass es im Zug noch viele freie Plätze gibt. "Lächle", ermutigt ihn seine Frau, die aus einem offenen Fenster schaut. Als der Zug abfährt, winkt der Mann der Frau zu und verlässt den Bahnhof schnell, wobei er sein Gesicht mit beiden Händen bedeckt.

Nach der Abfahrt des Evakuierungszuges leert sich die Stadt Pokrowsk schnellBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Die Ausgangssperre beginnt hier ab 15 Uhr. Nach der Abfahrt des Zuges leert sich die Stadt schnell. Ab und zu fahren Militär- und Polizeiautos durch die Straßen. "Früher war es eine sehr lebendige und schöne Stadt. Es war die beste überhaupt", sagt ein Mann, der Dmytro heißt.

Dmytro zeigt seine Wohnung im PokrowskBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Seine Frau und seine 18-jährige Tochter sind bereits aus der Stadt evakuiert worden. Er betont, dass auch er bald gehen werde und gibt zu, sich jetzt nur noch mit dem Packen von Dingen zu beschäftigen. "Ich will ein Gefühl von Heimat mitnehmen", betont Dmytro. Er lädt uns in seine Wohnung ein und zeigt, was ihm alles am Herzen liegt. "Hier sind meine Wurzeln", sagt der Mann bedrückt.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Ukraine-Krieg: Pokrowsk vor dem Fall?

02:17

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