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PolitikEuropa

Ukraine: Der Traum vom NATO-Schutz

12. Februar 2022

Alle ukrainischen Bemühungen um einen NATO-Beitritt sind bisher gescheitert. Verhindert hat das nicht zuletzt Deutschland - Russland sollte nicht provoziert werden.

Symbolbild NATO - Ukraine
Bild: Imago Images/ZUMA

Wäre die Ukraine Mitglied der NATO, wären bei einem russischen Angriff alle Bündnispartner kollektiv zu ihrer Verteidigung verpflichtet. So sieht es Artikel 5 des NATO-Vertrags vor. Die strategische Situation wäre also eine völlig andere als jetzt, wo es im Ermessen der NATO und einzelner Mitgliedsstaaten liegt, ob und, wenn ja, welche Unterstützung sie leisten.

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion hat die Führung in Kiew daher immer wieder versucht, das Land in das westliche Bündnis zu führen.

Die Ukraine war damals militärisch besonders stark: Neben Russland, Belarus und Kasachstan war sie eine von vier ehemaligen Sowjetrepubliken mit Atomwaffen, gab diese aber freiwillig auf, während Russland Atommacht geblieben ist.

Im Budapester Memorandum (1994) verpflichteten sich im Gegenzug Russland, die USA und Großbritannien, die Souveränität der Ukraine zu achten. Spätestens mit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 zeigte sich aber, dass die Sicherheitsgarantien nichts wert waren. Viele ukrainische Politiker und Militärs haben die Aufgabe der Atomwaffen bitter bereut.

Die Angst, in einen Krieg hineingezogen zu werden

Umso dringlicher hat man in Kiew immer wieder versucht, Schutz bei der NATO zu suchen, vor allem der westlich orientierte Präsident Wiktor Juschtschenko seit seinem Amtsantritt 2005.

Juschtschenko rannte damit bei der NATO in Brüssel nicht gerade offene Türen ein. Zwar hatte sich die Zusammenarbeit seit dem Abschluss der NATO-Ukraine-Charta (1997) deutlich intensiviert, eine Vollmitgliedschaft sah man in Brüssel aber sehr kritisch.

Russische Panzer bei einer Militärübung Anfang Februar 2022Bild: Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa/picture alliance

Die Gegenargumente sind bis heute die gleichen geblieben: Ein ukrainischer Beitritt würde Russland, eine Atom- und Vetomacht im Weltsicherheitsrat, provozieren. Und die Beistandsverpflichtung würde für die übrigen NATO-Staaten bedeuten, dass sie leicht in einen Krieg mit Russland hineingezogen werden könnten.

1999 und 2004 waren bereits eine ganze Reihe ehemaliger Staaten des Warschauer Paktes, des Militärbündnisses unter Führung der Sowjetunion, der NATO beigetreten, darunter mit den baltischen Staaten auch ehemalige Sowjetrepubliken.

Im Vorfeld hatten zahlreiche US-Militärs, -Diplomaten und -Sicherheitsexperten die Beitrittsangebote in einem offenen Brief an den damaligen Präsidenten Bill Clinton als "politischen Irrtum von historischem Ausmaß" bezeichnet. Die Beitritte fanden trotzdem statt. Der Einspruch auch nur eines einzigen bisherigen NATO-Mitglieds hätte sie verhindert.

US-Präsident Bush wollte die Ukraine ins Bündnis holen

Es war schließlich US-Präsident George W. Bush, der glaubte, die Gunst relativer russischer Schwäche für eine Ausweitung der NATO noch weiter nach Osten nutzen zu können. Bush brachte den Vorschlag 2008 bei einem NATO-Gipfel in Bukarest ein. 

"Wir müssen klarstellen, dass die NATO die Bestrebungen der Ukraine und Georgiens für eine NATO-Mitgliedschaft begrüßt und ihnen einen klaren Weg zur Erreichung dieses Ziels anbietet", sagte er, und an den russischen Präsidenten Wladimir Putin gewandt: "Der Kalte Krieg ist vorbei."

2008: US-Präsident Bush (v.l.) reiste nach Kiew und setzte sich bei der NATO für den Beitrittswunsch von Ukraines Präsident Juschtschenko (v.r.) einBild: Jim Watson/AFP/Getty Images

Putin tobte: "Wir betrachten die Ankunft eines Militärblocks an unseren Grenzen, dessen Verpflichtungen zur Mitgliedschaft Artikel 5 einschließt, als eine direkte Bedrohung der Sicherheit unseres Landes."

Im Rückblick erstaunt, was der heutige CIA-Direktor und damalige US-Botschafter in Moskau, William Burns, in einer Warnung an die Regierung Bush schrieb: Ein NATO-Beitritt würde "einem russischen Eingreifen auf der Krim und in der Ost-Ukraine einen fruchtbaren Boden bereiten". Rund sechs Jahre später passierte genau das - ohne NATO-Beitritt der Ukraine.

2008: Bundeskanzlerin Merkel sagt nein

Es waren aber schließlich andere, die den Beitritt verhinderten, allen voran die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Auch ihnen ging es darum, Russland nicht unnötig zu reizen und damit eine Destabilisierung Osteuropas zu riskieren.

2008: Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt einen Nato-Beitritt der Ukraine für verfrühtBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Merkel verwies auch darauf, dass eine Mitgliedschaft in der ukrainischen Bevölkerung durchaus kontrovers diskutiert werde. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In einer Umfrage vom Dezember 2021 sprachen sich nur 54 Prozent für einen NATO-Beitritt aus. Merkel sagte damals, für eine Mitgliedschaft sei es zu früh, aber: "Unstrittig ist, dass beide Länder (die Ukraine und Georgien, d. Red.) eine Perspektive für den Beitritt haben." Die Tür bleibe offen.

NATO-Beitritt als Ziel in der Verfassung

In der Ukraine selbst gab es seitdem ein Auf und Ab in der Frage der Mitgliedschaft. Präsident Wiktor Janukowytsch erklärte nach seinem Amtsantritt 2010, die Ukraine wolle ein blockfreies Land sein und verstehe sich als "eine Brücke zwischen Russland und der EU". Einer NATO-Mitgliedschaft erteilte er eine klare Absage.

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Während der Krim-Krise 2014 drängte dann Präsident Petro Poroschenko auf einen NATO-Beitritt, wenn das Volk in einem Referendum zustimmen würde. Der damalige deutsche Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reagierte mit den Worten: "Man sollte aufpassen, dass man mit bestimmten Entscheidungen nicht noch Öl ins Feuer gießt."

Im Juni 2017 legte das ukrainische Parlament die NATO-Mitgliedschaft als außenpolitisches Ziel des Landes fest, im Februar 2019 wurde das Ziel eines NATO- sowie eines EU-Beitritts sogar in der Verfassung festgeschrieben.

2014: Kurz nach der Krim-Annexion 2014 war der Wunsch der ukrainischen Bevölkerung nach einem NATO-Beitritt besonders großBild: Imago/ITAR-TASS

Von Seiten der NATO wurde der Ukraine 2018 auch offiziell der Status eines Beitrittskandidaten verliehen. In einer Erklärung dazu hieß es: "Die Tür der NATO steht jedem europäischen Land offen, das in der Lage ist, das Engagement und die Verpflichtungen der Mitgliedschaft zu erfüllen und zur Sicherheit im euro-atlantischen Raum beizutragen."

Putins Hebel

Gerade der letzte Punkt kann allerdings so ausgelegt werden, dass der bestehende Konflikt mit Russland eben nicht zur Sicherheit im euro-atlantischen Raum beiträgt. Die Ukraine ist jedenfalls einem Beitritt nicht einen Zentimeter nähergekommen, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen der drohenden russischen Invasion. Es besteht ein Grundkonsens bei der NATO, kein Neumitglied aufzunehmen, das sich in einer Konfliktsituation befindet.

Russlands Präsident Putin droht mit Krieg, sollte die Ukraine der NATO beitretenBild: Thibault Camus/REUTERS

Das wiederum gibt Präsident Putin einen Hebel in die Hand: Indem er den Konflikt schürt, kann er die Ukraine aus der NATO heraushalten. Er warnte vor kurzem erneut vor der Gefahr eines Krieges zwischen Russland und der NATO, sollte die Ukraine als Bündnismitglied versuchen, sich die Krim zurückzuholen: "Es wird keine Sieger geben", sagte Putin.

Scholz: Beitritt nicht auf der Agenda

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wiederholte Mitte Januar im ZDF die offizielle Bündnisposition, dass jedes Land seine Bündnisse frei wählen dürfe: "Wir sind nicht zu Kompromissen in Kernprinzipien der europäischen Sicherheit bereit. Und das ist zumindest mal das Recht jedes Landes, seinen Weg zu definieren."

Für NATO-Generalsekretär Stoltenberg (l.) und Bundeskanzler Scholz bleibt die Tür der NATO grundsätzlich offenBild: Hannibal Hanschke/REUTERS

Dahinter steht auch Bundeskanzler Olaf Scholz, ebenso wie Angela Merkel immer von einer offenen Tür gesprochen hat. Doch das gilt höchstens für eine ferne Zukunft. Scholz sagte kürzlich, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine stehe derzeit nicht auf der Agenda.

Was kommt nach Putin?

Ist damit der Traum endgültig ausgeträumt? Der deutsche Diplomat Christoph Heusgen, der künftige Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, sagte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, man könne es "politisch und moralisch" nicht verantworten, der Ukraine eine Beitrittsperspektive zu nehmen.

Man solle auch an eine Zeit nach Putin denken: "Vielleicht wird ein Nachfolger Putins bald sagen 'Ich habe ein Interesse auch im Wettbewerb mit China, dass ich mich enger an Europa, an die internationale Demokratie und Rechtsordnung anlehne'. Ich halte das für nicht ausgeschlossen."

In einer solchen Situation könne die Ukraine Mitglied der NATO werden. Heusgen ging noch weiter: "Wenn Russland möchte, auch Russland."

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