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Ukraine: Frauen suchen nach Söhnen, Ehemännern und Vätern

18. Juni 2025

Der Krieg hat ihnen ihre Liebsten genommen. Die Männer sind in russischer Gefangenschaft oder gelten als vermisst: Tausende Frauen in der Ukraine hoffen und bangen - besonders dann, wenn Gefangene ausgetauscht werden.

Eine junge Frau hält ihr Kind, das in eine Decke mit dem Abbild des vermissten Vaters gewickelt ist
Warten auf Papa: Mutter und Tochter beim Gefangenenaustausch in TschernihiwBild: Maksym Kishka/Anadolu Agency/IMAGO

In den mehr als drei Jahren seit dem Beginn der großangelegten russischen Invasion ist in der Ukraine die größte Frauenbewegung in der Geschichte des Landes entstanden. Mütter, Ehefrauen, Töchter, Schwestern, Großmütter, Tanten und Verlobte suchen zu Tausenden nach Soldaten, die von den russischen Streitkräften gefangengenommen wurden oder als vermisst gelten. Die Frauen haben sich in Verbänden oder informellen Gruppen organisiert, die auch untereinander kooperieren.

Gefangenenaustausche unterliegen strenger Geheimhaltung. Journalisten werden weder über den genauen Zeitpunkt noch über den genauen Ort informiert. Auch wird das Krankenhaus nicht genannt, in das die von Russland freigelassenen Ukrainer zur medizinischen Untersuchung gebracht werden. Trotzdem drängen sich an diesem frühen Morgen Ende Mai mehrere hundert Zivilisten im Hof ​​einer Klinik in Tschernihiw und warteten darauf, dass Busse von der ukrainisch-russischen Grenze eintreffen.

Nadija, eine Rentnerin aus der Region Chmelnyzkyj, sucht ihren Sohn OleksandrBild: Igor Burdyga/DW

Die Rentnerin Nadija aus Chmelnyzkyj hat seit einem Jahr keinen einzigen Gefangenenaustausch verpasst. Ihr 41-jähriger Sohn, Oleksandr Koroljuk, ist im Februar 2023 an der Front bei Bachmut verschwunden. "Ich suche und hoffe", sagt die Frau, die mehrere Fotos in der Hand hält. Jede dort hat Fotos von Söhnen, Ehemännern, Vätern und Verlobten bei sich. Alle möchten sie im Fernsehen oder in Zeitungen gedruckt sehen.

Familien hoffen auf Freilassungen

Ganze Familien suchen Schutz im Schatten der Apfelbäume im Hof der Klinik. Sie gruppieren sich nach Kampfbrigaden oder nach den Nummern der russischen Gefängnisse, in denen ihre Angehörigen festgehalten werden. Die Standarten der 36. Marinebrigade fallen schon von Weitem auf. Mehr als 1300 Mitglieder dieser Brigade wurden in Frühjahr 2022 in Mariupol gefangen genommen, seitdem warten sie auf einen Austausch.

Walentyna Otscheretna (l.) und Olha Handschala halten Fotos ihrer Söhne hochBild: Igor Burdyga/DW

Während dieser Zeit konnte Olha Handschala aus der Stadt Uman ihrem 34-jährigen Sohn Jewhen nur einen einzigen Brief schicken. Eine Nachricht von ihm erhielt sie nicht. Es ist ihr vierter Gefangenenaustausch. "Ich komme, um unsere Soldaten zu unterstützen. Und vielleicht treffe ich jemanden, der meinen Sohn im Lager gesehen hat. Der mir erzählen kann, wie es ihm geht und wo er ist."

Walentyna Otscheretna aus Schmerynka sucht ihren Sohn Nasar. Der 36-jährige wird seit Anfang April 2022 vermisst. Die Mutter will die Hoffnung jedoch nicht aufgeben, weil Soldaten der Garnison Mariupol, die zuvor ausgetauscht worden waren, ihn in Lagern erkannt haben. "Ich habe dies der Koordinationsstelle gemeldet. Sie haben einen Mann kontaktiert, der ihn gesehen hat, und er hat alles bestätigt. Aber Nasar gilt weiterhin als vermisst", beklagt Otscheretna.

Switlana (l.) zeigt Fotos von ihrem Verlobten Oleh und seinen TattoosBild: Igor Burdyga/DW

Mehrere Dutzend Frauen, die gemeinsam mit dem Bus aus der Region Sumy angereist sind, stehen direkt an der Polizeiabsperrung. Dahinter befindet sich ein separater Teil des Hofes, an dem die Busse mit den Freigelassenen ankommen sollen. Auf dem Plakat der jüngsten Frau, die Switlana heißt, sind die auffälligen Tätowierungen ihres Verlobten Oleh Haluschka zu sehen. Der Nationalgardist der Brigade Kara-Dag ist vor einem Jahr an der Front im Gebiet Saporischschja verschwunden. "Vielleicht hat jemand diese Tattoos gesehen", sagt sie.

Die Ankunft der Entlassenen soll feierlich wirken. Vertreter der Koordinierungsstelle für Kriegsgefangene erläutern geduldig, wie die Soldaten begrüßt werden sollen, wofür ihnen gedankt und wonach sie nicht gefragt werden sollen, wie Stress vermieden wird. Doch das klappt nicht immer.

Auf den wenigen Metern vom Bus zum Gebäude prasseln Namen von Soldaten, Brigaden und Gefängnissen auf die Ankommenden nieder. Etliche Fotos werden ihnen in die Hände gedrückt. Nur wenige der Männer bleiben stehen, um nach Bekannten zu schauen, Fragen zu beantworten und mit Journalisten zu sprechen. "Das ist sehr schwierig, es sind so viele Gesichter", lächelt Jurij von der 36. Marinebrigade und verschwindet mit einem Stapel Fotos im Flur der Klinik.

Angehörige haben wichtige Funktion

Trotz allem finden Angehörige von Soldaten und auch die Koordinierungsstelle für Kriegsgefangene, dass dieses Aufeinandertreffen sinnvoll ist. "Seit vergangenem August gibt es regelrechte Pilgerfahrten hierher. Auch wenn sie den Angehörigen nicht immer viel bringen, so sehen die Heimkehrenden, wie sehr sie geliebt werden", sagt Petro Jazenko, der Sprecher der Koordinierungsstelle.

Freigelassene Gefangene suchen auf Fotos nach KameradenBild: Igor Burdyga/DW

Die Angehörigen sind es auch, die Soldaten auf verschwommenen russischen Videos identifizieren. Einer der größten Telegram-Kanäle über Gefundene und Gefangene hat fast 122.000 Abonnenten. Täglich werden dort etwa ein Dutzend neue Namen und Gesichter veröffentlicht. Je früher eine Person auf Fotos identifiziert werde, desto eher könne der Austausch beginnen, betont Jazenko.

Wie viele Ukrainer in Gefangenschaft sind oder vermisst werden, wollen die ukrainischen Behörden nicht preisgeben. Das Projekt UALosses, das sich auf offene Quellen beruft, listete Ende Mai mehr als 6000 Kriegsgefangene namentlich auf. Dabei nimmt die Zahl der nicht identifizierten Gefangenen in Russland nach Angaben der Koordinierungsstelle stetig ab. 

Ein aus Gefangenschaft entlassener Ukrainer schaut sich Fotos von gesuchten Männern anBild: Igor Burdyga/DW

Fast 65.000 Menschen gelten als vermisst. Die meisten von ihnen werden wohl nie mehr heimkehren. Doch die Hoffnung will niemand aufgeben. Genau deshalb sei die Anwesenheit von Angehörigen bei Austauschen notwendig, findet Jazenko von der Koordinierungsstelle. "Sie gibt den Menschen Halt."

"Ich möchte Gutes tun und ein Lichtblick sein"

Zwischen den Austauschen haben die Aktivisten der Verbände viel zu tun - Treffen mit der Koordinationsstelle, Mahnwachen und Gedenkveranstaltungen, Einweihungen von Gedenktafeln und Reisen zu Konferenzen. "Ich möchte Gutes tun und für die Familien ein Lichtblick sein, der sie daran erinnert, dass sie nicht vergessen sind", sagt Kateryna Muslowa, die Tochter des gefangenen Marinesoldaten aus Mariupol, Oleh Muslow. Die von ihr geleitete Wohltätigkeitsstiftung "Heart in Action" leistet vielfältig Arbeit, von internationaler Lobbyarbeit für die Freilassung von Gefangenen bis hin zur Unterstützung von Familien mit staatlichen Zuwendungen.

Angehörige gefangener und vermisster ukrainischer Soldaten fragen nach ihren AngehörigenBild: Igor Burdyga/DW

Mit den mehr als 150 gesellschaftlichen Organisationen und privaten Initiativen von Angehörigen der Kriegsgefangenen hält die Koordinierungsstelle regelmäßig Treffen ab. "Wir freuen uns, wenn sich Familien zusammenschließen und organisieren, denn so können sie leichter Antworten auf gemeinsame Fragen bekommen", sagt Jazenko.

Allerdings ist die Zusammenarbeit nicht immer konstruktiv. Der Sprecher der Koordinierungsstelle kritisiert einige Verbände. Sie würden auf russische Provokationen oder Betrüger hereinfallen, vertrauliche Daten weitergeben oder Kundgebungen organisieren und als Reaktion darauf der Koordinierungsstelle mangelhafte Arbeit vorwerfen, sagt Jazenko. "Jeder erfolgreiche Austausch führt immer auch zu große Unzufriedenheit bei denjenigen, deren Angehörige noch nicht gefunden und freigelassen wurden."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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