Ukraine: Historiker Schlögel warnt vor Spaltung Europas
16. Oktober 2025
Karl Schlögel hat noch kürzlich das ukrainische Lwiw besucht. Die Eindrücke wirken noch nach, sagt der Historiker beim Treffen mit der DW in seiner Berliner Wohnung. Er habe in Lwiw einen Luftalarm erlebt und einige Stunden im Luftschutzkeller verbracht. "Die sollen hinfahren", richtet er sich an die, die vom Ukraine-Krieg nichts mehr hören wollen. "Die sollen sich angucken, was es bedeutet, dass Europa nicht in der Lage ist, diese täglichen und nächtlichen Angriffe auf die ukrainischen Städte zu verhindern."
Schlögel echauffiert sich kurz über die Debatte, die sich auch um seine Person entzündet hat - ob jemand, der sich für die militärische Unterstützung der Ukraine einsetzt, überhaupt einen Friedenspreis bekommen sollte. Dann wird er nachdenklich: "Es wird absehbar eine Spaltung geben, die mitten durch Europa geht." Eine Spaltung über die Frage, wie lange man die Ukrainer in ihrem Kampf gegen den russischen Aggressor unterstützen wird.
Einer der besten Kenner Osteuropas
Der Historiker Karl Schlögel ist einer der besten Kenner Osteuropas und hat schon früh vor Putins aggressiver Expansionspolitik gewarnt. Seine Mahnung: Ohne eine freie Ukraine kann es keinen Frieden in Europa geben. Dafür und für sein Werk zur Kultur- und Zeitgeschichte Osteuropas erhält Schlögel den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, heißt es in der Begründung der Jury.
Schlögels Beschäftigung mit der Region währt seit Jahrzehnten. Noch als Schüler reiste er erstmals 1966 in die Sowjetunion, erlebte 1968 den Prager Frühling persönlich.
Das Interesse an Osteuropa ließ ihn nie mehr los, seine Dissertation verfasste er über die Arbeiterkonflikte in der Sowjetunion nach der Stalin-Ära. Es folgten weitere Aufenthalte in Moskau und Leningrad. 1984 erschien sein erstes Buch "Moskau lesen", eine Spurensuche vor Ort.
Schon damals entwickelte er seinen einmaligen Schreibstil, der ihm den Beinamen "forschender Flaneur" brachte. Denn Geschichte, davon ist Schlögel überzeugt, wird erst am Ort lebendig, durch Begegnungen; auf Archive allein dürfe sich ein Historiker nicht verlassen. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen seitdem: "Terror und Traum: Moskau 1937" (2008), "Entscheidung in Kiew" (2015), "Das sowjetische Jahrhundert" (2017) und zuletzt "American Matrix" (2023). Schlögel war ab 1990 Professor in Konstanz, 1995 wechselte er als Professor für Osteuropäische Geschichte an die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Dort blieb er bis zu seiner Emeritierung 2013.
Schlögel: "Bei Putin muss man sich auf alles gefasst machen."
Moskau, die Sowjetunion, Russland - das ist das Lebensthema für Karl Schlögel. Bis 2014, bis zu Putins Annexion der Krim. Schlögel reiste kurz darauf in die Ukraine, wollte sich selbst ein Bild machen. Über Putin schrieb er damals: "Man muss sich bei ihm auf alles gefasst machen." Das sieht er übrigens auch heute noch so. Die ständigen Provokationen, die Drohnenüberflüge über NATO-Gebiet: Für Schlögel sind sie eine Fortsetzung von Putins Eskalationspolitik, eine Machtdemonstration, für die er keine Konsequenzen zu fürchten hat.
Im Gespräch mit der DW wagt Schlögel keine Prognose für die Zukunft, er lehnt die Vorstellung ab, dass Russland auf ewig dazu verurteilt sei, ein autoritäres Regime zu haben: "Es können jederzeit Dinge passieren, von denen wir keine Ahnung haben. Es ist anders gekommen, als die Experten meinten. Der Blitzkrieg von Putin hat ja auch nicht funktioniert."
Das eigentliche Problem, sagt Schlögel, sei: Wie findet Russland heraus aus dem Fluch des Imperiums? Was bleibt, wenn es das Imperium nicht mehr gibt? So wie sich auch die USA unter einem Präsidenten Trump in einer Phase der Verunsicherung befänden, einer Neuaufstellung. Er glaube nicht, sagt Schlögel, dass dies das Ende Amerikas sei, aber die Zeiten, in denen die USA Leitkultur waren und eine starke Ausstrahlungskraft hatten, seien vorbei.
Der Sache der Ukrainer treu bleiben
Auf Trump verlassen sollten sich die Ukrainer nicht, glaubt Schlögel. Umso beeindruckter war er bei seinem Besuch in Lwiw, welche Standhaftigkeit die Menschen dort vermittelten, die vor allem eins zeigen wollen: dass man nicht in die Knie geht vor dem Aggressor.
In seiner Rede zur Preisverleihung will Karl Schlögel noch einmal darauf verweisen, dass er für die Verteidigung einer freien und unabhängigen Ukraine ist. Und dass die Welt auch in Zeiten der Ermüdung und Erschöpfung durch zahlreiche andere Konflikte der Sache der Ukrainer treu bleiben mögen.
Den Friedenspreis vergibt der Börsenverein jährlich an eine "Persönlichkeit, die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat". Er ist mit 25.000 Euro dotiert und wird zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse am 19. Oktober in der Paulskirche verliehen.
Zu den Preisträgern der vergangenen Jahre zählen die amerikanisch-polnische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum, der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie und der ukrainische Autor Serhij Zhadan.