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PolitikEuropa

Ukraine: Ist die russische Feuerwalze gestoppt?

5. August 2022

Während die russische Armee ukrainische Städte mit Raketen angreift, ist der flächendeckende Granatenbeschuss entlang der Front zum Stehen gekommen. Fachleute glauben, es sei ein Wendepunkt erreicht.

Ukraine-Krieg Artillerie
Mobile Artillerieeinheit vom französischen Typ CAESAR in der UkraineBild: IMAGO/Cover-Images

Von hier aus koordinieren die USA gemeinsam mit mehr als 50 Staaten die militärische Hilfe für die angegriffene Ukraine, die womöglich in diesen Wochen einen Wendepunkt im Kriegsgeschehen erzwingen konnte: Ein großer abgeschirmter Saal mit provisorisch verlegten Datenkabeln, uniformierten Offizieren aus zahlreichen westlichen Ländern, die vor Laptops sitzen und vielsprachig Kontakt halten mit ihren Führungsstäben zu Hause und mit der ukrainischen Regierung. Das berichten übereinstimmend mehrere amerikanische Medien, die Zugang hatten zu den Patch Barracks der US-Streitkräfte im Stuttgarter Stadtteil Vaihingen im Südwesten Deutschlands. Nah an Flughafen und Autobahn befindet sich hier das European Command der US-Armee (EUCOM), das seit Anfang Juli unter dem Befehl des US-Generals Christopher G. Cavoli steht. Der 1964 im süddeutschen Würzburg als Kind einer in Deutschland stationierten US-Armee-Familie geborene Militär gilt als Europa- und Russlandkenner mit einem Abschluss in Osteuropa-Studien von der Universität Yale. Cavoli soll auch die Verstärkung der Nato-Ostflanke als Antwort auf Russlands Krieg gegen die Ukraine umsetzen.

US-General Cavoli übernahm im Juli den Oberbefehl über die Nato-Streitkräfte und das European Command der US-ArmeeBild: NATO/dpa/picture alliance

Ukraine-Zentrale im European Command

In der hastig eingerichteten Ukraine-Zentrale des EUCOM laufen die steten Bedarfsanforderungen der ukrainischen Armee ein. Es sei eine "Atmosphäre wie zu Zeiten der Alliierten im Zweiten Weltkrieg", schrieb die "Washington Post" Ende Juli. Ausgangspunkt war die von den USA einberufene Ukraine-Geberkonferenz auf dem US-Luftwaffen-Stützpunkt Ramstein in Deutschland am 26. April. Mehr als 50 Staaten unterstützen die Ukraine mittlerweile mit Waffenlieferungen unter Führung der USA. Sie stimmen sich in einer sogenannten Kontaktgruppe seit Monaten auch politisch darüber ab, welches Land welche Waffen der Ukraine liefern kann und auch auf welchem Weg die schweren Waffen wie die US-amerikanischen HIMARS-Artilleriegeschütze oder auch die aus Deutschland und den Niederlanden gelieferte Panzerhaubitze 2000 an die ukrainische Front gelangen.

In den Patch Barracks der US-Armee im südwestdeutschen Stuttgart organisieren die westlichen Unterstützerstaaten die Militärhilfe für die UkraineBild: Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

Russland muss jetzt auf die Ukraine reagieren

Diese Hilfe habe jetzt womöglich zu einem Wendepunkt geführt, sagt der deutsche Ukraine-Experte Nico Lange. "Der entscheidende Punkt dieser letzten Tage ist doch: Russland ist jetzt gezwungen, auf Aussagen und auf Handlungen der Ukrainer zu reagieren. Bisher war es andersherum: Die Ukrainer waren gezwungen, auf alles zu reagieren, was Russland tut", sagt Lange im Gespräch mit der DW. Durch den gezielten HIMARS-Beschuss von Munitionsdepots und Kommandoeinheiten der russischen Armee konnten die Ukrainer zumindest das Flächenbombardement mit Granaten im Osten und Süden des Landes "um das Fünf- bis Sechsfache" verringern, bestätigt der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak im DW-interview.

Nach Ansicht von Osteuropa-Fachmann Nico Lange hat "Russland jetzt ja erhebliche Kräfte in den Süden, sowohl in Richtung Cherson als auch in Richtung Saporischschja verlegt, um sich dort zu verstärken und um sich aufs Absichern und Halten der eroberten Gebiete zu konzentrieren". Nach einem Geheimdienstbericht des britischen Verteidigungsministeriums nutzen russische Einheiten das Gebiet um das von ihnen besetzte größte Kernkraftwerk Europas bei Saporischschja am Fluss Dnjepr als Schutz. "Die russischen Streitkräfte haben wahrscheinlich das weitere Gelände der Anlage, insbesondere die angrenzende Stadt Enerhodar, zur Erholung ihrer Truppen genutzt", heißt es in dem täglichen Bulletin. Russland nutze "den geschützten Standort des Kernkraftwerks, um das Risiko für ihre Ausrüstung und ihr Personal durch nächtliche ukrainische Angriffe zu verringern".

Anfang August forderte der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) offenbar auch deshalb erneut Zugang zu der Atomanlage. "Daran kann man erkennen, dass der Krieg sich verändert", sagt Ukraine-Kenner Nico Lange, "und dass Russland jetzt gezwungen ist, auf diese Dinge, die die Ukraine tut, zu reagieren". Der Mythos, Russland könne "unbegrenzt eskalieren", sei damit widerlegt, Russland habe militärisch "gewaltige" Schwierigkeiten. "Sowohl nördlich von Charkiw als auch in Cherson im Süden sind die Russen zur Verteidigung übergegangen und zeigen den festen Willen, dieses Gebiet zu halten." 

Ukrainische Gegenoffensive auch mit Partisanen?

Seit Wochen kündigt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj für den Süden seines Landes eine Gegenoffensive an. Osteuropa-Experte Lange glaubt: "Ein ukrainischer Angriff wird nicht so aussehen wie der der Russen mit dieser alles zerstörenden Feuerwalze. Sondern der wird auch auf Partisanen zurückgreifen, mit Aufständen in den Städten, die besetzt sind, mit mobilen Operationen hinter den feindlichen Linien." Aus der russisch besetzten Stadt Cherson tauchen immer wieder Flugblätter in Social-Media-Kanälen auf, die Poster mit Warnungen an die russischen Besatzer zeigen. "Wir kennen alle Eure Patrouillenrouten", steht da und "Cherson ist ukrainisch". "Die Russen haben große Probleme, diese Gebiete zu kontrollieren", glaubt Lange. "Im besetzten Teil der Oblast Saporischschja gibt es viele Partisanen-Aktivitäten: Patrouillen der Russen werden nachts getötet. Auch in Melitopol hängen wie in Cherson Plakate gegen die russischen Besatzer, es gibt Flugblatt-Aktionen. Da hängt ständig was Neues", sagt Lange.  

In russischer Kriegsgefangenschaft

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Hinter feindlichen Linien: Berichte über verstärkte Operationen ukrainischer Partisanen häufen sich

Auf Twitter schreibt jetzt der ukrainische Gouverneur der zu weiten Teilen russisch besetzten Region Luhansk in der Ostukraine über eine Partisanen-Aktion in der Gemeinde Bilowodsk. Dort sollen ukrainische Partisanen den von Russland eingesetzten Bürgermeister und seinen Stellvertreter beschossen und verletzt haben. Die anschließende russische Suche nach den ukrainischen Untergrundkämpfern sei erfolglos gewesen. Unabhängig können solche Informationen nicht bestätigt werden.

Erstaunlich ist der Ort des Vorgangs: Bilowodsk liegt tief in russisch besetztem Gebiet der Region Luhansk, nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, nördlich der früheren sogenannten Kontaktlinie, die seit 2014 und bis zum russischen Überfall Ende Februar dieses Jahres den besetzten Teil der Ostukraine vom ukrainisch kontrollierten Gebiet der Region Luhansk trennte. Der Tweet des Regional-Gouverneurs kann so auch als Signal an die westlichen Unterstützer gewertet werden: Der Partisanenkampf gewinne auch in abgelegenen Regionen an Momentum.

Forderung nach ATACMS-Raketen

Der Ort liegt außerhalb der Reichweite der bislang von den USA gelieferten Raketen für die HIMARS vom Typ M31 mit maximal 84 Kilometern. Die Artilleriesysteme können aber auch Raketen vom Typ ATACMS (Army Tactical Missile System) mit 300 Kilometern Reichweite abschießen. Die Ukraine fordert auch diese Waffe bei der westlichen Kontaktgruppe und ihrem Operationszentrum im Stuttgarter EUCOM an. Bislang sprachen sich die USA dagegen aus, weil die ukrainische Armee damit auch russisches Gebiet erreichen könnte. Allerdings nahm die Bereitschaft, intelligentere Waffensysteme zu liefern, in den vergangenen Monaten zu. Ihm komme das vor "wie in einem Videospiel", bei dem es um das Erreichen einer nächsten Stufe gehe, sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. Allerdings hätten die an der Front getöteten ukrainischen Soldaten jeweils nur ein Leben.