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Politik

Ukraine: Kommen die "Getreidekorridore"?

8. Juni 2022

In Ankara erklärt Russlands Außenminister Lawrow grundsätzliche Bereitschaft für einen möglichen "Getreidekorridor". Darüber könnte Weizen aus der Ukraine auf den Weltmarkt verschifft werden. Kiew bleibt skeptisch.

Ukraine Weizensilo in Nowoworonzowka, Symbolbild
Ein ukrainischer Soldat inspiziert ein von Russen beschossenes Getreidesilo in der Nähe von ChersonBild: John Moore/Getty Images

Die Silos sind voll, die Lagerkapazitäten beinahe erschöpft. Mehr als 20 Millionen Tonnen Getreide, die eigentlich für den Weltmarkt bestimmt waren, stecken nach Angaben der UN-Welternährungsorganisation noch immer in der Ukraine fest. Über 50 Prozent ihrer Exporte wickelte die Ukraine zu Friedenszeiten über ihren größten Schwarzmeerhafen in Odessa ab. Doch seit Beginn des russischen Angriffskrieges Ende Februar stehen die Verladekräne still. Eine Blockade der russischen Schwarzmeerflotte verhindert seitdem jegliche Im- und Exporte. Zudem bedrohen zahlreiche Seeminen die Schifffahrt an der ukrainischen Küste; wie viele es genau sind, ist nicht bekannt. Sicher ist nur, dass sowohl Rumänien als auch die Türkei bereits mehrere Minen entschärfen mussten, die sich aus ihrer Verankerung gelöst hatten und durch das Schwarze Meer getrieben waren.

Das Getreide wird jedoch dringend benötigt - in mehreren Ländern Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens werden Brot und Weizen bereits knapp. Und auch die Ukraine selbst ist dringend auf die Einnahmen aus dem Getreideexport angewiesen. In den letzten Wochen hatte Kiew versucht, Weizen verstärkt auch mithilfe der Eisenbahn ins Ausland zu exportieren. Unterschiedliche Spurbreiten in der Ukraine und dem Rest Europas sowie fehlende Güterwaggons auf europäischer Seite verlangsamen den möglichen Export über die Schiene jedoch erheblich.

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine stehen die Hafenanlagen in Odessa stillBild: imago images/unkas_photo

Minenräumungen und Exportkorridore

Fieberhaft wird daher seit Wochen darum gerungen, den Getreideexport über das Schwarze Meer wieder anlaufen zu lassen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow ist nun aus diesem Grund in die Türkei gereist. Und er hat Medienberichten zufolge mit der türkischen Seite eine grundsätzliche Einigung erzielt. Demnach soll die türkische Marine das Gebiet um die ukrainischen Häfen von Seeminen räumen und den Getreidefrachtern sicheres Geleit geben, um diese vor einem möglichen Beschuss zu schützen. "Wir sind gewillt, die Sicherheit von Schiffen zu gewährleisten, die ukrainische Häfen verlassen", sagte Lawrow am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Ankara, "und zwar in Zusammenarbeit mit unseren türkischen Partnern".

Eine in Istanbul geplante UN-Koordinierungsstelle soll regeln, wie das exportierte Getreide weiter auf dem Weltmarkt verteilt werden soll. Für die Verladung des Weizens werden derzeit konkret drei ukrainische Häfen in Betracht gezogen: Neben Odessa kämen hierfür auch die benachbarten Umschlagplätze in Tschornomorsk und Juschne infrage. Aber auch ein Export von Weizen aus dem umkämpften Mykolajiw sowie den russisch besetzten Häfen in Cherson oder Mariupol steht zur Diskussion.

Führten angeblich "fruchtbare Gespräche": Russlands Außenminister Lawrow und sein türkischer Amtskollege Cavusoglu in Ankara Bild: Russian Foreign Ministry Press Service/AP Photo/picture alliance

Die Ukraine ist grundsätzlich an einer solchen Einigung interessiert, hat aber noch große Bedenken. Ukrainische Vertreter waren bei dem Treffen in Ankara nicht zugegen. Die Vereinten Nationen haben bereits vorgeschlagen, eine Viererkontaktgruppe zu bilden, die aus Vertretern der UNO, der Türkei, Russlands und der Ukraine bestehen und einen Kontrollmechanismus für einen möglichen Getreidekorridor erarbeiten soll.

Schutzmacht Türkei?

"Ein solcher Korridor wäre zu realisieren, wenn alle ihn wollen", glaubt Beate Apelt, Leiterin des Türkei-Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul. Es gibt jedoch mehrere Streitpunkte. Vor allem bei der Frage nach den Minensperren, die beide Seiten vor der ukrainischen Küste ausgelegt haben. "Die ukrainische Marine will damit Landeoperationen russischer Kriegsschiffe vor Odessa verhindern", so Apelt. Die Minen müssten entfernt werden, um die Frachtschiffe mit dem Getreide passieren zu lassen. Dies sei türkischen Angaben zufolge innerhalb von ein bis zwei Wochen möglich. "Die türkische Marine", sagt der türkische Sicherheitsexperte Yörük Isik vom Middle East Institute in Istanbul, sei für diese Aufgabe "eine der erfahrensten innerhalb der NATO": Sie verfüge über elf Minenräumschiffe und das dafür geschulte Personal. Weniger optimistische Schätzungen gehen eher davon aus, dass das Entfernen der Seeminen Monate dauern könnte.

Das türkische Minensuchboot TCG Akcay ist eines der Schiffe, das demnächst vor der ukrainischen Küste zum Einsatz kommen könnteBild: YORUK ISIK/REUTERS

Zudem würde dies Odessa ein Stück weit schutzlos machen. Kiew befürchtet, dass russische Kriegsschiffe die größte ukrainische Hafenstadt durch den freigelegten Korridor angreifen könnten und verlangt daher Sicherheitsgarantien - etwa westliche Anti-Schiffs-Raketen, was wiederum Moskau strikt ablehnt. "Ich kann mir schwer vorstellen, dass man in Kiew angesichts der bisherigen Ungeheuerlichkeiten dieses Krieges einer Nichtangriffszusage aus Moskau glauben wird", sagt Apelt. "Hier kommt dann die Türkei ins Spiel, die ja den Korridor offenbar nicht nur vermitteln, sondern auch mit eigenen Schiffen absichern will."

NATO-Schiffe zur Absicherung?

Ankara hat sich dazu grundsätzlich bereit erklärt. Fraglich ist, ob eine Absicherung allein durch türkische Schiffe Kiew ausreicht. Damit Kiew dem Plan zustimme, müssten mehrere Staaten die Sicherheitsgarantien durchsetzen, glaubt Yörük Isik, etwa die Türkei in Zusammenarbeit mit Großbritannien und den USA. Eine solche Absicherung wäre jedoch nicht ohne Risiko. Bislang hat sich die NATO mit eigenen Truppen strikt aus dem Konflikt in der Ukraine herausgehalten. Sollte ein derart geschützter Schiffskonvoi doch von einer der beiden Seiten angegriffen werden, wären NATO-Kriegsschiffe direkt in die Kampfhandlungen verwickelt - womit eine weitere Eskalation des Krieges drohen könnte.

Russland wiederum pocht darauf, die internationalen Getreidefrachter vor dem Einlaufen in einen ukrainischen Hafen inspizieren zu dürfen. Moskau äußerte die Sorge, dass in diesen Schiffen ansonsten Waffen für die ukrainische Armee ins Land gelangen könnten. Kiew hat eine solche Inspektion bislang strikt abgelehnt. Und auch die Verteilung der Verkaufserlöse ist bislang hochumstritten. Im Gespräch ist nämlich nicht nur ein Export von Getreide aus dem Großraum Odessa, sondern auch aus ukrainischen Hafenstädten, die mittlerweile in russisch besetztem Gebiet liegen, etwa aus Cherson oder Mariupol.

Wer welche Erlöse bekommt, dürfte in den konkreten Verhandlungen noch zu einem erbitterten Streitpunkt werden, zumal Kiew Russland bereits jetzt vorwirft, Getreide aus eroberten ukrainischen Häfen zu stehlen und zu exportieren - etwa nach Syrien, möglicherweise aber auch in die Türkei selbst. Die ukrainische Botschaft in Ankara forderte von der Türkei, russische Schiffe im Bosporus strenger auf gestohlene Fracht zu kontrollieren - bislang ohne Erfolg.

Bis zu einer tatsächlichen Einigung ist es also noch ein langer Weg. Und ein für den Westen schmerzhafter noch dazu: "Vermutlich", sagt Beate Apelt, "wird Moskau sich die Zustimmung zu einem Getreidekorridor durch den Abbau einiger Sanktionen bezahlen lassen." Auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem russischen Amtskollegen Lawrow am Mittwoch deutete der türkische Außenminister ein mögliches Entgegenkommen in dieser Frage bereits an: "Wenn wir darüber reden, den internationalen Markt wieder für Getreide aus der Ukraine zu öffnen, dann betrachten wir das Entfernen von Hindernissen, die russischen Exporten im Wege stehen, als eine legitime Forderung", so Cavusoglu.

Der Seehafen von Mariupol wurde durch die Kämpfe der vergangenen drei Monate schwer beschädigt.Bild: Nikolai Trishin/TASS/dpa/picture alliance

"Das ist eine schwierige Entscheidungslage für die Ukraine und ihre westlichen Partner", sagt Beate Apelt, zumal ihnen auch noch die Zeit davonrennt. Der Welternährungsorganisation zufolge hat die Welt nur noch wenige Wochen, um eine Lösung zu finden. Denn schon ab Juli steht die diesjährige Weizenernte in der Ukraine an, für die in den derzeit noch proppenvollen Getreidesilos des Landes bislang noch kein Platz ist.

Mitarbeit von Elmas Topcu. 

Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik
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