Ukraine: Warum Deutschland als Vermittler taugt
25. Januar 2022Die Sorge wächst vor einem neuen Krieg in Europa. Am Montagmorgen bekam sie neue Nahrung: Sowohl die USA als auch Großbritannien haben die Ausreise eines Teils ihres Botschaftspersonals angeordnet. Als "Reaktion auf die wachsende Bedrohung durch Russland", wie das Londoner Außenministerium erklärte. Gemeint ist die Massierung von über 100.000 russischen Soldaten entlang der ukrainischen Grenze.
Die Lage ist bitterernst: Nicht nur befinden sich die Streitkräfte der NATO-Staaten nach Angaben von Generalsekretär Jens Stoltenberg in Alarmbereitschaft. Stoltenberg kündigte in Brüssel zudem an, die Allianz werde ihre Präsenz in den östlichen Mitgliedsstaaten mit der Stationierung zusätzlicher Kriegsschiffe und Kampfjets ausbauen.
Auch der deutsche Top-Diplomat Christoph Heusgen sieht die Gefahr eines russischen Einmarschs in der Ukraine. Der langjährige Sicherheitsberater der ehemaligen Kanzlerin Angela Merkel und künftige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz setzt im DW-Interview auf klare Signale gegenüber Moskau: "Was wir diesmal wollen, ist, dass eine sehr starke, massive Reaktion ins Schaufenster gestellt wird." Russland müsse genau wissen, was passiert, sollte Putin tatsächlich die Ukraine angreifen, so Heusgen. Zugleich betont er in dem Gespräch immer wieder, wie wichtig die Einheit des Westens sei, um dem "sehr aggressiven Ton" Russlands zu begegnen.
Russland ist als Energielieferant enorm wichtig
In Deutschland wird um die richtige Haltung im Ukraine-Konflikt allerdings noch gerungen. Kein Wunder angesichts tiefer historischer Bindungen - im Guten wie im Schlechten - und florierender Wirtschaftsbeziehungen mit der Region. Bedeutendster Einzelposten: Russische Energielieferungen. Deutschland bezieht über 40 Prozent seines Rohöls und über 50 Prozent seines Erdgases aus Russland.
Auch deshalb warnte der bayerische Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", Drohungen und "immer härtere Sanktionen" gegen Russland könnten "allein nicht die Lösung sein". Sanktionen gegen Russland hätten schon "seit längerer Zeit kaum mehr Wirkung", neue Sanktionen würden "zudem oft uns selbst genauso schaden". Eine NATO-Osterweiterung um die Ukraine, einer der zentralen Streitpunkte im gegenwärtigen Konflikt, steht für Söder "auf lange Zeit nicht auf der Tagesordnung".
Offene Briefe und Appelle
Offene Briefe und Appelle gegensätzlichen Inhalts werden derzeit veröffentlicht. Mitte Januar forderten über 70 Osteuropa- und Sicherheitsexperten das Ende eines "deutschen Sonderwegs" gegenüber Russland. Dem aggressiven Vorgehen Russlands dürfe Deutschland nicht länger tatenlos zusehen. Die Autoren sehen Deutschland als Schlüsselland der EU, der NATO und der westlichen Wertegemeinschaft dabei in besonderer Verantwortung, "sowohl mit Blick auf die Eindämmung und Sanktionierung Russlands als auch in Bezug auf die Unterstützung der von Moskau zerstückelten und bedrängten Staaten".
Umgekehrt hatte bereits Anfang Dezember eine Gruppe ehemaliger Diplomaten und Militärs mit Russland-Erfahrung einen Appell veröffentlicht mit dem Titel "Raus aus der Eskalationsspirale" - inklusive vier konkreter Vorschläge zu einer Entschärfung der Situation. Die Autoren plädieren dafür, Win-win-Situationen zu schaffen, um die derzeitige Blockade zu überwinden. Dazu gehöre auch "die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten".
Zwischen allen Stühlen
Auch die Autoren dieses Appells sehen Deutschland in einer Schlüsselrolle. Zu den Initiatoren gehört Brigadegeneral Reiner Schwalb a.D., ehemals deutscher Militärattaché an der deutschen Botschaft in Moskau. "Deutschland spielt eine ganz wichtige Rolle, weil Berlin in Europa eine zentrale Rolle spielt, weil Berlin aus amerikanischer Sicht ein Ansprechpartner ist zwischen Europa und Amerika", sagt Schwalb im DW-Interview. Und ergänzt: "Das gleiche gilt für Russland. Und gerade, was Russland angeht: Das deutsch-russische Verhältnis hat trotz unserer Geschichte eine gewisse Stabilität."
Aus seinen Gesprächen in Moskau hat Schwalb den Eindruck mitgenommen, dass Deutschland dort, trotz deutlicher Verschlechterung nach der russischen Annexion der ukrainischen Krim-Halbinsel 2014, immer noch positiv wahrgenommen wird. "Man akzeptiert die deutsche Politik, auch unsere Fokussierung auf Menschenrechte, auf Werte. Man möchte sich nur nicht reinreden lassen in das eigene System."
Es scheint, als säße Berlin in der Ukraine-Krise zwischen allen Stühlen. Vielleicht ist das aber auch genau der richtige Ort für einen Vermittler. Diplomat Heusgen betont, dass Deutschland in der Krise eine wichtige Rolle zu spielen habe: "Das haben wir schon beim letzten Mal getan, als nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine Bundeskanzlerin Merkel zusammen mit Präsident Hollande den ukrainischen Präsidenten Poroschenko und Putin an einen Tisch gebracht hat." Dieses Format ist als "Normandie-Format" bekannt. Jetzt hat die Bundesregierung nach den Worten von Außenministerin Annalena Baerbock ein neues Vermittlungstreffen von Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland geplant.
Kleinster gemeinsamer Nenner
2015 mündeten die von Heusgen erwähnten Verhandlungen in das sogenannte Minsk-II-Abkommen. Zwar hapert es an der Umsetzung. Doch auf die damals und in einem Folgeabkommen getroffenen Beschlüsse könne man aufbauen, sagt Thomas Kunze. Er leitet das Moskauer Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Im DW-Interview führt Kunze aus: "Das Abkommen von Minsk ist der kleinste gemeinsame Nenner." Kunze listet auf, was in dem Abkommen alles vereinbart wurde: "Von Waffenstillstand bis hin zum Abzug schwerer Waffen; OSZE-Überwachung; es wurden ein Dialog und Modalitäten der Kommunalwahl in der Ukraine verabschiedet, Gefangenenaustausch, humanitäre Hilfe und vieles mehr. Es gibt da sehr viel, auf das man aufbauen kann - wenn man deeskaliert hat."
Nach Einschätzung Kunzes haben die Russen bereits jetzt Wesentliches erreicht. "Sie haben erreicht, dass sie auf Augenhöhe mit den Amerikanern verhandeln. Sie haben erreicht, dass der NATO-Russland-Rat, den die NATO ausgesetzt hatte, wieder arbeitet. Und die Russen haben erreicht, dass über Einflusssphären geredet wird."
Sicherheitsraum für alle
Wobei Kunze nicht daran glaubt, dass sich die Ordnung in Europa erneut an den Einflusssphären von Großmächten orientiert. "Wir müssen im Gegenteil nach vorne denken, hinkommen zu einer Ordnung in Europa, die einen gemeinsamen Sicherheitsraum mit Sicherheit für alle bietet", fordert Kunze.
Viel zu tun für die Diplomatie. Zur Frage, was das bedeutet, zitiert Reiner Schwalb gerne seinen früheren Chef, den ehemaligen Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch. Diplomatie, so von Fritsch, heiße, "immer wieder dieselbe Mauer hochklettern; und wenn man 20 mal runtergefallen ist, probiert man es ein 21. Mal."
Die Bundesrepublik jedenfalls denkt im Moment nicht über einen Abzug ihrer Diplomaten aus der Ukraine nach. Annalena Baerbock machte in Brüssel deutlich: Sie halte einen Abzug des deutschen Botschaftspersonals derzeit nicht für sinnvoll.