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PolitikLitauen

Ukraine-Krieg: Neue alte Wehrpflicht an der NATO-Ostflanke

24. Juni 2024

Litauen will wieder ganze Jahrgänge mustern und zum Wehrdienst in die Kasernen rufen. Für die Republik im Baltikum ist das bloß folgerichtig, eine Reaktion auf den russischen Krieg gegen die Ukraine.

Eine ganze Riehe von Soldaten der litauischen Armee bei der Ausbildung
Ausbildung von Soldaten der litauischen ArmeeBild: Alfredas Pliadis/Verteidigungsministerium Litauen/picture alliance / dpa

Maxim aus Vilnius wird bald 22 Jahre alt. Er ist litauischer Staatsbürger und stammt aus einer russischsprachigen Familie. Letztes Jahr wurde er zu seinem neunmonatigen Wehrdienst eingezogen. "Wir hatten einen Mann in unserer Einheit, der bestenfalls alle zwei Tage geduscht hat-– und das im Sommer. Können Sie sich den Geruch vorstellen?! Ich habe mich sogar zweimal am Tag gewaschen. Nach ein paar Wochen haben wir ihm zusammen mit dem Kommandeur die Leviten gelesen", erinnert sich Maxim. Seine Dienstzeit konfrontierte ihn mit Menschen, die er außerhalb der Streitkräfte wohl kaum kennengelernt hätte. Stationiert war er in einer Infanteriebrigade in Tauroggen, einer Kleinstadt im Südwesten Litauens, nicht weit von der Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad.

In zwei Jahren dürften viele litauische Staatsbürger im Alter von 18 bis 22 Jahren ähnliche Erfahrungen sammeln. Der in diesem Monat vom litauischen Parlament, dem Seimas, gefasste Beschluss, die allgemeine Wehrpflicht wieder einzuführen, kam nicht überraschend. Die Debatte darüber begann bereits im Februar 2022, gleich nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Vier Jahre nach dem NATO-Beitritt 2008 hatte Litauen die Wehrpflicht abgeschafft und war vollständig zu einer Berufsarmee übergegangen.

Einberufung per Zufallsgenerator

Doch nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland war Litauen dann 2015 das erste Land in Europa, das grundsätzlich zur Wehrpflicht zurückkehrte. Jedoch mussten nur diejenigen zur Armee, die per Zufallsprinzip auf eine computergenerierte Liste kamen. So war es Maxim ergangen. Der neue Parlamentsbeschluss behält die neunmonatige Dienstzeit bei, verlängert aber den Ersatzdienst von zehn Monaten auf ein Jahr. Künftig soll es unmöglich sein, eine Universität zu besuchen, ohne vorher gedient zu haben. 2025 sollen die ersten Musterungen durchgeführt werden, und die Einberufung zum Wehrdienst soll dann im Jahr 2026 erfolgen.

Rekruten in der litauischen ArmeeBild: Alfredas Pliadis/Verteidigungsministerium Litauen/dpa/picture alliance

In Litauen befürchten viele, Russland könne nach der Ukraine auch die Länder im Baltikum angreifen. Diesen Befürchtungen kommt die NATO entgegen und will ihre sogenannte "Ostflanke" stärken. Dazu soll unter anderem eine Brigade der deutschen Bundeswehr in Litauen stationiert werden. Folglich kam die Verteidigungspolitik Litauens insgesamt auf den Prüfstand. Die allgemeine Wehrpflicht soll den NATO-Verbündeten nun zeigen, dass die politische Führung des Landes es ernst meint, alles zu tun, um Territorium und Souveränität zu schützen. Litauen gibt regelmäßig mehr als zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus und erfüllt damit die Anforderungen der NATO. Gleichwohl gilt das Land mit seinen derzeit 18.000 Berufssoldaten als militärischer Zwerg. 

Neue militärpolitische Realität

"Noch vor wenigen Jahren erklärten einige unserer Politiker, die NATO werde uns immer schützen. Man ging davon aus, dass Litauen als kleines Land auf große Investitionen in die Verteidigung verzichten könne", erinnert sich Vaidotas Malinionis, Vorsitzender eines Verbandes litauischer Offiziere im Ruhestand. "Heute ist alles anders, die Entscheidung über die allgemeine Wehrpflicht beweist dies", betont er. Ihm zufolge soll der Beschluss des Seimas bis 2028 vollständig umgesetzt sein: "Weitere Investitionen in die Infrastruktur werden nötig, auch der Bau von Kasernen. Aber das ist eher eine Frage der Zeit als des politischen Willens", so Oberst außer Dienst Malinionis. Dabei setzt Litauen weiterhin auf die Hilfe der NATO. Die auf der Bundeswehr basierende Kampfbrigade der Allianz wird dauerhaft im Land stationiert. Zusammen mit Einheiten anderer Verbündeter, die sich dort nur vorübergehend befinden, nehmen die Angehörigen der Brigade regelmäßig an Manövern teil.

"Als der Einberufungsbescheid kam, wollte ich gar nicht zur Armee. Aber heute ist mir klar, dass die Truppe mich verändert hat. Ich bin verantwortungsbewusster und organisierter, kommuniziere besser mit Menschen und verstehe sie besser", sagt Maxim. Seine Mutter, die 47-jährige Irina, fügt hinzu: "Es mag seltsam klingen, aber seit dem Dienst in der Armee ist mein Sohn freundlicher und schätzt seine Familie mehr. Die Zeit, wo er von zuhause weg war, auch wenn nur kurz, hat Wirkung gezeigt." Irina begrüßt die Wehrpflicht: "Das ist gut für das Land, und die Jungs werden reifer."

Probleme mit der Tauglichkeit

Der 43-jährige Valentinas, Vater eines bald wehrpflichtigen Sohnes, sieht die Dinge anders. "Ich war selbst vier Jahre bei den Fernmeldetruppen unter Vertrag. Sollte ein richtiger Krieg ausbrechen, werden neun Monate Training, all das Schießen und Werfen von Granaten nicht reichen, um einem wirklichen Feind entgegenzutreten. Die ganze Last der Kämpfe würden Berufssoldaten schultern müssen, nicht die Jungs", sagt er.

Valentinas meint, es wäre besser, junge Männer würden Kurse in Freiwilligenverbänden absolvieren, aus denen in Litauen Personal für den Zivilschutz, für Patrouillen und zur Unterstützung der Polizei im Falle eines Kriegsrechts rekrutiert werden soll. Er glaubt, dass die Armee für die neuen Probleme der heutigen Zeit nicht gerüstet ist: "Viele Kinder sitzen nur vor dem Computer und leben in einer virtuellen Welt. Außerdem gibt es viele körperlich schwach entwickelte und manchmal auch kranke Kinder. Schließlich ist vielen Schülern heute nicht klar, was Pflichten bedeuten."

Auch Ex-Oberst Malinionis von der Offiziersvereinigung räumt ein, dass es Probleme mit der Tauglichkeit der Wehrpflichtigen gibt. Er hält die Lage aber nicht für kritisch: "Heute werden bis zu 50 Prozent ausgemustert. Aber erstens sind einige der Kriterien veraltet und sollten geändert werden. Und zweitens müssen Fans von Computerspielen nicht mit einem Maschinengewehr durch den Wald rennen. Die Fähigsten von ihnen sollten sich mit Kommunikation, Cyber-Kriegsführung und Drohnen befassen. Hier sind die Anforderungen an die körperliche Tauglichkeit nicht so streng." Malinionis glaubt, dass dadurch die Ausmusterungsquote in der modernen Wehrpflicht-Armee Litauens deutlich gesenkt werden könnte.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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