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PolitikEuropa

Russland und die Schlacht am Dnjepr

31. Juli 2022

Während die EU um Gas-Solidarität streitet, bereitet der ukrainische Präsident Selenskyj wohl eine Rückeroberung von Cherson im Süden vor. Das Gebiet am Dnjepr ist heute strategisch so wichtig wie im Zweiten Weltkrieg.

Ukraine Charkiw | Ukrainische Soldaten feuern eine Haubitze von Typ M777
Nadelstiche mit westlicher Artillerie: Ukrainische Soldaten bei CharkiwBild: Ukrinform/dpa/picture alliance

Es waren im Zweiten Weltkrieg entscheidende Monate in der damals sowjetischen Ukraine: 1943, vor bald 80 Jahren, drängte die Rote Armee unter enormen Verlusten die deutsche Wehrmacht zurück über den Fluss Dnjepr.Hitler-Deutschland und seine rumänischen Verbündeten hatten nach der Niederlage von Stalingrad Anfang Februar 1943 zunächst noch die sogenannte Wotan-Verteidigungslinie gehalten. Bis Anfang November 1943 konnte sich die Rote Armee auf einer Länge von 450 Kilometern auch westlich des Flusses etablieren. Auf Seiten der Sowjets wurden bei den monatelangen Kämpfen 1,2 Millionen Soldaten getötet oder verletzt.

Selenskyj spricht von einer Million ukrainischen Soldaten

Dieser historische Rückgriff mag eine Rolle spielen bei den täglichen Videobotschaften des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj heute. Die russischen Angreifer werden in der Ukraine vielfach als "Raschisten" bezeichnet, also: "russische Faschisten". Selenskyj kündigt seit Wochen eine Gegenoffensive im Süden seines Landes gegen die russischen Besatzer um die russisch besetzte Stadt Cherson an. Dabei spricht er von einer Truppenstärke von einer Million Soldatinnen und Soldaten. Unabhängig nachprüfbar ist diese Größenordnung nicht. Die russische Armee hatte zu Beginn der Invasion am 24. Februar bis zu 150.000 Soldaten in der Region stationiert. 

Zweiter Weltkrieg: Eine angegriffene deutsche Wehrmachts-Stellung am 23. Februar 1943 außerhalb von CharkiwBild: Keystone/Getty Image

Der Ausgang des Kampfes entlang des in der Südukraine teilweise einen Kilometer breiten Dnjepr war vor 80 Jahren eine Zäsur - und er wäre es wohl auch heute. Seit den ersten Tagen der russischen Invasion nach dem 24. Februar halten die Kreml-Soldaten die südukrainische Stadt Cherson mit ihren knapp 300.000 Einwohnern westlich des Dnjepr besetzt. Der US-Militärexperte Michael Kofman vom Forschungsprogramm für Russlandstudien des Center for Naval Analyses, eines Forschungszentrums der U.S. Navy, glaubt, dass die Ukrainer mit einer erfolgreichen Gegenoffensive an dieser Stelle weitere Offensiven der russischen Armee in Richtung der Hafenstadt Odessa unmöglich machen könnten.

49. Armee Russlands in prekärer Lage

Tatsächlich versucht die ukrainische Armee derzeit mit gezielten Angriffen der von den USA gelieferten HIMARS-Artilleriesystemen, in der Region um die Gebietshauptstadt Cherson eine strategische Weichenstellung für den weiteren Verlauf des Krieges bis zum Herbst zu erzwingen. Sollte die Ukraine erfolgreich sein, könnte sie einen ähnlich wichtigen Sieg für sich reklamieren wie zuvor das Zurückdrängen der russischen Armee von der Millionenstadt Charkiw im Norden des Landes. Sollten die russischen Streitkräfte dagegen widerstehen, wäre das ein herber Schlag für die Ukraine, der ihr womöglich auch viel Unterstützung im Westen kosten könnte. Allerdings kann sich die Regierung in Kiew der Unterstützung zahlreicher Bürgerinnen und Bürger von Cherson sicher sein. Vor dem Verwaltungssitz der Region Cherson mit ihren insgesamt mehr als einer Million Einwohnern hatten zu Beginn von Russlands Angriffskrieg täglich Menschen gegen die russischen Besatzer demonstriert und den Kreml-Soldaten zugerufen: "Haut ab" und "Cherson ist ukrainisch".

Russischer Nachschub abgeschnitten: Durch HIMARS-Raketenbeschuss beschädigte Antoniwkabrücke bei ChersonBild: Sergei Bobylev/ITAR-TASS/IMAGO

Ende Juli beschädigte die ukrainische Armee drei wichtige Brücken auf der Höhe von Cherson, das von Russlands 49. Armee besetzt wird. Die russischen Soldaten in Cherson wurden bis dahin über diese Brücken mit Nachschub versorgt. Entscheidend war offenbar der zweite nächtliche HIMARS-Angriff vom 26. auf den 27. Juli 2022 auf die wichtigste der drei Flussüberquerungen: Die Antoniwkabrücke von Cherson ist mehr als tausend Meter lang.Sie wurde so stark beschädigt, dass sie für schweres Gerät unpassierbar geworden ist. Viele Angaben der Kriegsparteien sind unabhängig nicht zu überprüfen. Allerdings zeigen Videos in sozialen Netzwerken nach der Bombardierung eine russische Ponton-Fähre als Ersatz für die Brücken-Verbindung. Diese Alternative wäre für die Ukrainer ein leicht zu treffendes Ziel. Erstmals berichtete jetzt das britische Verteidigungsministerium, dass die ukrainische "Gegenoffensive in Cherson an Schwung gewinnt". 

Die Gebietshauptstadt Cherson ist seit Beginn von Russlands Feldzug besetzt

Nach diesem britischen Geheimdienstbericht ist die 49. russische Armee in Cherson jetzt "hoch verwundbar". Mehr noch: "Auch die Stadt Cherson (...) ist nun praktisch von den anderen besetzten Gebieten abgeschnitten. Ihr Verlust würde die Versuche Russlands, die Okkupation als Erfolg darzustellen, erheblich beeinträchtigen", schreiben die Autoren. Weitere Social-Media-Videos sollen zeigen, wie die russische Seite bereits reagiert und offenbar schweres Gerät in Richtung Cherson transportiert. 

Wer kontrolliert Cherson?

In der Hauptstadt Kiew zeigt sich Mychajlo Podoljak sehr selbstbewusst. Der Berater von Präsident Selenskijs Kabinettchef verweist im DW-Interview auf den militärischen Erfolg um die Schlangeninsel im Schwarzen Meer. Das kleine Eiland vor den Küsten der Ukraine und Rumäniens, von der aus der Seeweg Richtung Bosporus kontrolliert werden kann. Die Insel wurde von der russischen Armee nach massivem ukrainischen Beschuss Ende Juni aufgegeben. Nach Lesart des Kreml als "Geste des guten Willens". Jetzt werde Moskau "verstehen, dass es notwendig ist, eine weitere 'Geste des guten Willens' zu zeigen und Cherson zu verlassen", so Podoljak mit Verweis auf den Beschuss der wichtigen Straßenbrücke bei Cherson.

Hilfe für verletzte ukrainische Soldaten

03:39

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Aber auch die russische Armee ist zu gezielten Schlägen in der südlichen Region fähig. So bestätigt Simon Ostrovsky vom amerikanischen TV-Sender ABC nach einem Besuch in der Region von mehreren erfolgreichen Zerstörungen von Lagerhäusern der ukrainischen Armee in der Stadt Mykolajiw. Von hier aus organisieren die Ukrainer den Nachschub für die Front bei Cherson. "Russlands Raketenangriffe auf die Ukraine scheinen gezielt zu sein", so Ostrovsky, "und sie fügen nicht nur der Zivilbevölkerung, sondern auch den (ukrainischen, Red.) Kriegsanstrengungen großen Schaden zu." 

Für den US-Militärexperten Michael Kofman ist der Ausgang offen. "Ich glaube, es gibt für die Ukraine gerade ein offenes Zeitfenster." Die Armee verfüge über die Schlagkraft, Cherson zurückzuerobern, doch er verweist auch darauf, dass es schwierig werde, "wenn die Ukraine keinen Überraschungsmoment" nutzen könne.

Die Region Cherson hat für die Ukraine hohe strategische Bedeutung, auch wirtschaftlich. Neben Weizen wird hier vor allem Sonnenblumenöl für den Weltmarkt produziert. Nach ukrainischen Angaben soll Russland hier eine halbe Million Tonnen Getreide, zehntausende Tonnen Sonnenblumenöl und Dünger gestohlen haben. Mithilfe von GPS-Trackern konnte Kiew zudem nachweisen, dass die Kreml-Truppen und russische Kriminelle hier hochwertige Landmaschinen mitgehen ließen. Ohne das fruchtbare Gebiet im Süden wäre die Ukraine kaum überlebensfähig. 

Die Vertreibung der russischen Besatzer aus der Gebietshauptstadt Cherson über den Dnjepr in östlicher Richtung ist zudem die Voraussetzung dafür, dass Kiew überhaupt in die Lage kommen kann, Russland von der Landverbindung zur seit 2014 völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim zu verdrängen. In einer seiner täglichen Videobotschaften sagte der ukrainische Präsident Selenskyj kürzlich, dass jetzt der von den Ukrainern ersehnte Wendepunkt erreicht sei - und forderte weitere schwere Waffen aus dem Westen.

Mitarbeit: Anna Fil

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