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Ukraine-Krieg: Was russische Kriegsversehrte erzählen

Alexey Strelnikov
1. Februar 2025

Mindestens 110.000 russische Soldaten wurden im Krieg gegen die Ukraine schwer verwundet, viele von ihnen mussten amputiert werden. Sie fühlen sich nun von Behörden und Gesellschaft allein gelassen.

Russland Symbolbild Rekruten
Darüber, wie viele russische Soldaten im Angriffskrieg gegen die Ukraine verwundet wurden, gibt es keine exakten offiziellen ZahlenBild: SNA/IMAGO

Offiziell nennt Russland keine genauen Zahlen zu den im Krieg gegen die Ukraine getöteten oder verwundeten Soldaten. Diese Informationen sind geheim. Die russischen Behörden äußerten sich bislang nur vereinzelt über Kriegsversehrte.

So sagte im Jahr 2023 der stellvertretende Minister für Arbeit und Sozialschutz, Alexej Wowtschenko, 54 Prozent aller Verwundeten hätten mit schwerwiegenden Folgen zu kämpfen. Bei einem Fünftel von ihnen hätten obere Gliedmaßen amputiert werden müssen, bei vier Fünfteln untere.

Ende 2024 bezifferte die stellvertretende Verteidigungsministerin Anna Ziviljowa, die von nicht zensierten russischen Medien als Nichte des russischen Präsidenten Wladimir Putin bezeichnet wird, die Gesamtzahl der Kriegsversehrten auf 110.000.

Müssen Verwundete zurück an die Front?

Anfang des Jahres wurden im russischen sozialen Netzwerk VKontakte fast gleichzeitig mehrere Videos geteilt, die zeigen, wie Kommandeure der russischen Armee verwundete Soldaten im Krieg in der Ukraine wieder in den Kampf schicken. In einem Fall befanden sich die Soldaten in einem Wald, mehrere von ihnen bewegten sich auf Krücken fort.

In einem anderen Video geht ein Militärpolizist gegen zwei Männer in Tarnuniformen vor, von denen einer sich auf einen Stock stützt. Dabei droht er ihnen sexuelle Gewalt an. Später bestätigten die Behörden den Fall und der Soldat, der seine Kameraden mit einem Schlagstock und einem Elektroschocker gefoltert hatte, wurde festgenommen. Es stellte sich heraus, dass es sich bei den Verwundeten um Zeitsoldaten handelte, die sich über die Kommandeure beschwert hatten, weil diese sie an die Front zurückschicken wollten.

Russische Truppen vor der ukrainischen Stadt Pokrowsk im Dezember 2024Bild: Stanislav Krasilnikov/SNA/IMAGO

Dass versucht wird, Verwundete schnell wieder an die Front zu bringen, gab die stellvertretende Verteidigungsministerin Anna Ziviljowa in einer öffentlichen Rede zu. Demnach würden etwa 96 Prozent der Verwundeten an die Front zurückkehren, was, wie sie sagte, "dank der Modernisierung der Feldlazarette" möglich geworden sei. Dieses Vorgehen könnte zum Teil auf einen Personalmangel an der Front und große Verluste in der russischen Armee hindeuten.

"Meiner Einschätzung nach haben etwa sechs von zehn Verwundeten schwere Verletzungen erlitten", sagt ein ehemaliger russischer Soldat, der anonym bleiben möchte, gegenüber der DW. Vor kurzem ist er selbst aufgrund seiner Verletzungen aus der Armee entlassen worden; welche das sind, möchte er aus Sicherheitsgründen nicht sagen. "Hauptsache, meine Arme und Beine sind intakt", so der Mann, der nun auf eine Einmalzahlung von mehreren Millionen Rubel wartet.

Der ehemalige Soldat beklagt, dass seine Invalidenrente mit 22.000 Rubel (umgerechnet ca. 220 Euro) gering sei. "Ich bin mit 36 ​​Jahren arbeitsunfähig geworden und habe meine Gesundheit verloren, aber was soll ich tun? Ich habe meinem Land gedient und bereue nichts", sagt er. Den Einsatz verwundeter Soldaten bei Angriffen erklärt er mit Bestrafungen von Militärs wegen Drogenhandels oder vorgetäuschten Verletzungen.

Was bekommen heute Kriegsversehrte?

Beklagt wird im sozialen Netzwerk VKontakte zudem, dass Ärzte Verletzungen verharmlosen. Einige der unzufriedenen Kommentare richten sich gegen den jüngsten Präsidentenerlass, wonach die Einmalzahlungen für leichte Verletzungen von drei Millionen (ca. 30.000 Euro) auf eine Million Rubel (ca. 10.000 Euro) gesenkt werden. Für andere leichte Verletzungen dürfen die Entschädigungen 100.000 Rubel (ca. 1000 Euro) nicht übersteigen.

Russischer Präsident Putin hat die einmaligen Zahlungen für leichte Verletzungen im Krieg gesenktBild: ANTON VAGANOV/REUTERS

Ein Soldat namens Oleg schrieb im Netz, dass die Ärzte seine Verwundung zunächst als mittelschwer eingestuft hätten. "Am Tag meiner Entlassung wurde daraus plötzlich eine leichte Verwundung. Es hieß, es gebe jetzt neue Listen und Kategorien", so Oleg.

Ehemalige Söldner der Privatarmee Wagner-Gruppe, einer der brutalsten Einheiten, die auf der Seite Russlands gekämpft haben, beklagen, dass sie vom Staat nicht als Teilnehmer am Krieg gegen die Ukraine anerkannt werden. Einer von ihnen, Pawel, schreibt auf VKontakte, dass er aufgrund seiner Verwundung nicht mehr laufen könne und "seinem Schicksal überlassen" werde. Nach Aussage des ehemaligen Söldners erhält er eine Invalidenrente vom Staat von rund 10.000 Rubel (ca. 100 Euro), Zahlungen vom Militär werden ihm jedoch verweigert.

In einigen Kommentaren wird auf die hohen Kosten von Prothesen hingewiesen. Eine Userin aus Perm beklagt, dass eine hochwertige Prothese fünf Millionen Rubel (ca. 50.000 Euro) koste. Ihr Bruder, der auf russischer Seite gekämpft habe, könne sich dies nicht leisten. Die Sozialleistungen würden nur einen kleinen Teil der Kosten decken, beschwert sich die Frau. Darüber hinaus wird aus mehreren Regionen aufgrund internationaler Sanktionen gegen die Russische Föderation ein Mangel an bestimmten Prothesen gemeldet, weswegen die Preise für sie steigen und sich die Wartezeiten verlängern.

Wie läuft die Rückkehr ins zivile Leben?

Eines der größten Probleme einer möglichen Nachkriegszeit sei die Wiedereingliederung behinderter Militärs in die Gesellschaft, sagt die Historikerin Aglaja Ascheschowa von der Universitätsbibliothek für Sprachen und Zivilisationen (BULAC) in Paris gegenüber der DW. Sie hat sich insbesondere mit verschiedenen Nachkriegsgesellschaften in Russland und Frankreich befasst, glaubt aber, dass Kriegsversehrte in fast allen Ländern der Welt von der Mehrheitsgesellschaft weitgehend isoliert leben müssen. Ascheschowa vermutet, dass Russland die Versorgung Kriegsversehrter an die Regionen übertragen könnte, was aufgrund der begrenzten Ressourcen dort eine Rückkehr in die Gesellschaft zusätzlich erschweren würde.

Kriegsversehrte würden häufig damit konfrontiert, dass Arbeitgeber sie nicht einstellen wollen, schreibt der ehemalige russische Militärangehörige Nikita Tretjakow auf seinem Telegram-Kanal. Er schildert den Fall eines schwer verwundeten Kameraden, der auf der Suche nach Arbeit war. Laut Tretjakow wurde dem Mann bei einem Vorstellungsgespräch die Stelle eines Verkaufsberaters verwehrt - aus Sorge um seinen psychischen Zustand aufgrund seiner Teilnahme am Ukraine-Krieg.

Haltung in Russland gegenüber Veteranen

Laut der Soziologin Anna Kuleschowa gibt es in der russischen Gesellschaft starke Unterschiede in der Haltung gegenüber Kriegsveteranen. Das liege zum einen an der politischen Polarisierung der Bevölkerung; es gebe aber auch regionale Unterschiede. "Kriegsversehrte werden nicht von allen als Helden gesehen, sondern auch mit Misstrauen betrachtet, weil die Menschen aus den Nachrichten und auch aus persönlicher Erfahrung von Fällen wissen, in denen Militärs Gewalt gegen Zivilisten ausgeübt haben", sagt sie der DW.

Trotz ihrer Verwundungen seien diejenigen, die gekämpft haben, überwiegend der Überzeugung, der Krieg sei rechtmäßig. Dies seien auch Abwehrmechanismen der eigenen Psyche, die bei Veteranen aller Kriege zu beobachten seien, erklärt ein Psychiater, der weiterhin in Russland praktiziert und deshalb anonym bleiben möchte, gegenüber der DW. "Es ermöglicht ihnen, unter extremen Bedingungen effektiv zu funktionieren und zu überleben", erläutert er und fügt hinzu, dass eine Rückkehr ins zivile Leben immer ein schwieriger Prozess sei, auch, weil sich die Männer nicht mehr so stark gebraucht fühlen würden wie an der Front.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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