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Politik

Ukraine-Krieg: Zahnloser UN-Sicherheitsrat

29. November 2022

Russland kann im Sicherheitsrat per Veto jede Resolution verhindern, die sein Vorgehen in der Ukraine verurteilt. Was ist das höchste UN-Gremium dann wert, fragt sich nicht nur der ukrainische Präsident.

USA Wolodymyr Selenskyj über Videokonferenz während einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates
Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj nimmt immer wieder per Videoschalte an Sitzungen des Weltsicherheitsrats teilBild: Michael M. Santiago/Getty Images

Verzweifelt wandte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an die Mitglieder des Weltsicherheitsrats in New York. Ende November verurteilte er die russischen Angriffe auf ukrainische Infrastruktur: "Wenn wir Temperaturen unter null Grad haben und Millionen von Menschen ohne Energieversorgung, ohne Heizung und ohne Wasser sind, ist das ein offenkundiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit", rief Selenskyj empört über den Bildschirm aus Kiew.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dessen Land einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat hat, bezeichnete die gezielte Zerstörung der Strom- und Wasserversorgung der Ukraine als Kriegsverbrechen, die Konsequenzen haben müssten. Und UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat sich "zutiefst schockiert" über die "großangelegten Raketenangriffe" geäußert.

Blackout in Kiew durch russische Raketenangriffe: Westliche Politiker sprechen von KriegsverbrechenBild: Sergei Supinsky/AFP

Moskaus UN-Botschafter Wassili Nebensja hat darauf entgegnet, die Angriffe seien die Antwort "auf das Vollpumpen des Landes mit westlichen Waffen und die unklugen Aufrufe, Kiew solle einen militärischen Sieg über Russland erringen".

Egal, wie schwer die Vorwürfe gegen Moskau sind, sie haben für Russland in diesem einflussreichsten UN-Gremium mit seinen fünf ständigen und weiteren zehn nichtständigen Mitgliedern keinerlei Konsequenzen. Der Grund: Russland hat als eines der ständigen Mitglieder ein Vetorecht. Das heißt, wenn nur einer dieser Staaten - die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich - sein Veto einlegt, kann er jeden Beschluss verhindern. Das hatte Russland bereits einen Tag nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar getan: Der Rat hatte eine Resolution zur Diskussion gestellt, die den russischen Angriff unverzüglich beenden sollte. Russland wehrte die Resolution mit seinem Veto ab.

Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja kann mit seinem Veto jede Resolution blockierenBild: Jason Decrow/AP/dpa/picture alliance

Der Rat trägt "die Hauptverantwortung" für den Weltfrieden

Nach Artikel 24 der Charta der Vereinten Nationen sollen die UN-Mitgliedsstaaten – derzeit sind es 193 – dem Rat "die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" übertragen. Doch was ist, wenn eines der ständigen Mitglieder selbst einen Angriffskrieg führt?

"Wo ist denn die Sicherheit, für die der Sicherheitsrat sorgen soll?", fragte Selenskyj im April rhetorisch in die Runde. Zuvor hatte er ein Video über mutmaßliche Kriegsverbrechen in Butscha bei Kiew eingespielt. Die Vertreter des Rates, so Selenskyj damals, sollten dafür sorgen, "Russland als Aggressor und Kriegsauslöser (aus dem Sicherheitsrat, d. Red.) zu entfernen, damit es nicht länger Entscheidungen über seine eigene Aggression blockieren kann". Ohne tiefgreifende Reformen könne sich der Sicherheitsrat auch gleich "selbst auflösen" und die Vereinten Nationen könnten "dichtgemacht" werden.

Den fünf ständigen stehen zehn nichtständige Mitglieder gegenüber, die verschiedene Weltregionen repräsentieren

Wie zahnlos der Sicherheitsrat im Ukraine-Krieg agiert, dass musste auch UN-Generalsekretär António Guterres selbst einräumen. Bei einem Besuch in Kiew im April sagte Guterres, der Rat habe nicht alles in seiner Macht Stehende getan, um den Krieg zu verhindern. "Das ist eine Quelle großer Enttäuschung, Frustration und großen Ärgers", so der höchste Vertreter der Vereinten Nationen damals, ohne Russland zu nennen. 

Russland ist nicht mehr im Menschenrechtsrat – wie zeitweise die USA

Während ein Rauswurf Russlands aus dem Sicherheitsrat praktisch unmöglich ist, wurde Russland aus anderen internationalen Gremien tatsächlich entfernt oder trat selbst aus: Wie zuvor beim Europarat, wurde die russische Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat im Frühjahr ausgesetzt. Allerdings war das Meinungsbild keineswegs eindeutig: 93 Mitglieder stimmten dafür, aber auch 24 dagegen, unter anderem Algerien, Bolivien, China, Kuba, Nordkorea, Eritrea, Äthiopien, der Iran und Syrien – Länder, in denen Russland Einfluss besitzt oder die, wie China, aus strategischen Gründen Russland haben gewähren lassen.

Leichen in Butscha: Russland werden Kriegsverbrechen vorgeworfenBild: Zohra Bensemra/REUTERS

Der UN-Menschenrechtsrat hat im Oktober sogar beschlossen, einen Sonderermittler einzusetzen, um mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen in Russland selbst zu prüfen. Es ist das erste Mal, dass sich ein Sonderermittler des Gremiums mit einem Mitglied mit ständigen Sitz im Sicherheitsrat beschäftigt.

Dass eine Abwesenheit im Menschenrechtsrat keine russische Spezialität ist, haben die USA unter Donald Trump gezeigt: 2018 setzten sie die Mitgliedschaft aus, kehrten 2021 unter Trumps Nachfolger Joe Biden aber wieder zurück.

Doch der Menschenrechtsrat zählt im Kreml nicht besonders. "Wir scheren uns nicht allzu sehr um dieses Gremium", hat der frühere stellvertretende russische Außenminister Andrej Fjodorow in einem Interview mit der Deutschen Welle gesagt. "Für uns ist natürlich der Sicherheitsrat das wichtigste und unsere Fähigkeit, dort weiterhin präsent zu sein und unsere Ansichten einzubringen." 

Der Rat spiegelt die Welt von 1945

"Der Sicherheitsrat ist zur Bedeutungslosigkeit verdammt, wenn ein Vetostaat die Regeln verletzt", meint der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Universität Halle. "Ich erwarte eine jahrelange Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrates und damit auch einen Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen." Doch das sei nichts Neues. Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 "hatten wir die gleiche Situation: wechselseitige Vetos oder Vetodrohungen der ein oder anderen Seite und damit eine komplette Lähmung".

Selenskyj verlangte in seiner Brandrede vor dem Sicherheitsrat im Frühjahr eine tiefgreifende Reform. Zum Beispiel müssten "alle Regionen der Welt" im Sicherheitsrat "fair repräsentiert" sein. Seine Forderung ist so alt wie der Sicherheitsrat selbst. Zwar werden die zehn wechselnden, nichtständigen Mitglieder nach regionalen Gruppen ausgesucht; die ständigen dagegen, wie der Name schon sagt, bleiben immer dieselben. Und das, verbunden mit ihrem Vetorecht, gibt ihnen einen ungeheuren Einfluss.

Die heutige Struktur des Sicherheitsrates ist den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges zu verdanken: (v.l.) Josef Stalin (Sowjetunion), Franklin D. Roosevelt (USA), Winston Churchill (Großbritannien) Bild: AP/picture alliance

Die Zusammensetzung dieses inneren Zirkels spiegelt die geopolitische Situation von vor fast 80 Jahren wider: Hier sind die wichtigsten siegreichen Staaten des Zweiten Weltkrieges versammelt. Damals befanden sich viele Staaten der Welt, zum Beispiel fast ganz Afrika, noch in kolonialer Abhängigkeit.

Alle Reformbemühungen sind gescheitert

Immer wieder hat es Versuche gegeben, den Weltsicherheitsrat zu reformieren. Unter anderem Brasilien, Indien, Japan und Deutschland erklärten 2004, sich gegenseitig für je einen ständigen Sitz unterstützen zu wollen. Auch die Idee, dass die Europäische Union einen Sitz bekommt, wird immer wieder geäußert. Ein weiterer Vorschlag ist, das Vetorecht abzuschaffen. Doch bisher ist nie etwas daraus geworden.

"Eine Reform des Sicherheitsrates ist ein aussichtsloses Unterfangen", glaubt Johannes Varwick. "Dies betrifft sowohl die Abschaffung des Vetorechtes als auch eine Neuzusammensetzung der Mitgliedschaft, also die Aufnahme neuer Staaten, sei es mit oder ohne Vetorecht. Es gibt schlichtweg keine Formel, mit der alle fünf Vetomächte einverstanden wären und die dann noch die notwendige Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung finden würde."

Vergebliche Reformbemühungen: Der inzwischen verstorbene deutsche Außenminister Guido Westerwelle (hier 2010) forderte einen ständigen Sitz für DeutschlandBild: imago stock&people

Doch ganz abschreiben will Varwick den Rat nicht. Es sei ihm "immer wieder gelungen, in Fragen, wo die Interessen übereinstimmten, eine Rolle zu spielen; dies wird vermutlich auch irgendwann nach dem Ukraine-Krieg wieder der Fall sein". Denkbar sei auch "die Gründung einer Art 'Allianz der Demokratien'", wie sie die USA immer wieder gefordert hätten, "die dann so etwas wie eine Gegenveranstaltung zu den Vereinten Nationen sein dürfte. Ob das Erfolg haben würde, ist aber sehr fraglich." Für den Krieg in der Ukraine spielen aber alle Reformüberlegungen keine Rolle, und Präsident Selenskyjs Klagen über einen unglaubwürdigen Sicherheitsrat werden nichts daran ändern, dass Russland jede Resolution gegen sich selbst blockieren kann.

Dieser Artikel erschien erstmals am 12. April 2022 und wurde zuletzt am 29. November 2022 aktualisiert.

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