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PolitikEuropa

Ukraine-Krise: Wendepunkt Antalya?

Daniel Heinrich
9. März 2022

Die Außenminister Russlands und der Ukraine treffen sich auf Vermittlung der Türkei am Mittelmeer. Ankara sitzt zwischen den Stühlen: Die Beziehungen sind zu beiden Ländern eng, die Abhängigkeit von Moskau groß.

Der türkische Präsident Erdogan (r.) und sein ukrainischer Amtskollege Selenskyj bei einem Treffen im Herbst 2020
Der türkische Präsident Erdogan (r.) und sein ukrainischer Amtskollege Selenskyj bei einem Treffen im Herbst 2020Bild: Turkish Presidency/AP/picture alliance

Es ist ein Erfolg für die türkische Diplomatie: Zwei Wochen nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine sollen die ersten Gespräche auf Regierungsebene zwischen Russland und der Ukraine stattfinden. Das Treffen der Außenminister Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba ist für diesen Donnerstag im Beisein des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu am Rande des sogenannten Diplomatie-Forums im türkischen Badeort Antalya geplant. Bei dem regelmäßig stattfindenden Forum kommen Politiker, Diplomaten und Experten unterschiedlicher Bereiche zu Diskussionen zusammen.  

Dem Treffen der Top-Diplomaten waren eifrige diplomatische Bemühungen Ankaras vorausgegangen. Erst am Wochenende hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einem rund einstündigen Telefonat mit Kremlchef Wladimir Putin seine Forderung nach einer Waffenruhe erneuert und sich vor allem für "humanitäre Korridore" und für die Unterzeichnung eines Friedensabkommens stark gemacht. Erdogan hatte zuvor auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefoniert.

Das türkische Interesse an einer friedlichen Beilegung des Konflikts ist groß, das NATO-Mitglied pflegt zu beiden Ländern enge Beziehungen.

Historische und wirtschaftliche Verbindungen zur Ukraine

Mit der Ukraine eint die Türkei eine gemeinsame Geschichte: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war die Krim Teil des Osmanischen Reiches. Rund fünf Millionen der überwiegend sunnitischen Krimtataren leben in der heutigen Türkei. Aktuell werden mit türkischen Mitteln unter anderem in der Hauptstadt Kiew Häuser für Krimtataren gebaut, die die Krim nach der russischen Annexion 2014 verlassen hatten und aufs ukrainische Festland gezogen waren.  

Der russische Außenminister Lawrow und sein türkischer Amtskollege Cavusoglu in Antalya im Juni 2021Bild: DHA

Seit 2017 können Bürgerinnen und Bürger beider Länder das jeweils andere Land einfach mit ihrem Personalausweis bereisen. Vor allem in Punkto Wirtschaftsbeziehungen hatten Ankara und Kiew erst kurz vor der russischen Invasion ein weiters Kapitel ihrer Beziehungen aufgeschlagen. Anfang Februar hatten sich die Regierungen auf ein Freihandelsabkommen geeinigt, mit dem sich das Handelsvolumen von 4,6 Milliarden Euro im Jahr 2021 verdoppeln soll. 2021 war die Türkei mit einem Investitionsvolumen von 4,1 Milliarden Euro der größte ausländische Investor in der Ukraine.  

Wegen seiner Rüstungslieferungen an Kiew ist Ankara indirekt auch am Kampfgeschehen in diesen Tagen beteiligt. Die ukrainische Regierung hatte in den vergangenen Tagen gleich mehrere Videos "erfolgreicher" Einsätze türkischer Drohnen gegen russische Truppen über die sozialen Netzwerke verbreitet. Neben Drohnen hatte die Ukraine auch einige Kriegsschiffe aus türkischer Produktion bestellt, die ihre Verteidigungsposition im Schwarzen Meer und Asowschen Meer erheblich stärken sollen.

Begrenzter Einfluss auf Moskau

Präsident Erdogan hat sich die russische Sprachregelung von der "Spezialoperation" nicht zu eigen gemacht, sondern die Invasion wiederholt als "Krieg" verurteilt. Er hat die Bosporusdurchfahrt für russische Kriegsschiffe teilweise sperren lassen und die Anerkennung der so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk durch Moskau abgelehnt.

Der türkische Präsident Erdogan signiert eine Kampfdrohne vom Typ Bayraktar TB2 im Jahr 2018Bild: Murat Cetinmuhurdar/Turkish Presidency/handout/picture alliance / AA

Viel mehr, als auf eine diplomatische Lösung des Konflikts zu setzen, bleibt der Regierung in Ankara allerdings auch nicht übrig - die Abhängigkeit von Moskau ist zu groß. Das türkische Handelsvolumen mit Russland ist rund sechsmal so hoch wie das mit der Ukraine. Mehr als ein Drittel des Erdgasbedarfs bezieht die Türkei aus Russland, das erste türkische Atomkraftwerk wird von der russischen Staatsfirma Rosatom gebaut. Für türkische Bauunternehmen ist Russland der wichtigste Auslandsmarkt und russische Touristinnen und Touristen stellen die größte Besuchergruppe in der Türkei.

Zudem sind die Türkei und Russland gleich in mehreren regionalen Konflikten eng miteinander verwoben. Gemeinsame Militär-Patrouillen in Syrien und ein gemeinsames Zentrum zur Überwachung des Waffenstillstands nach dem armenisch-aserbaidschanischen Krieg um Berg-Karabach sind nur zwei Beispiele. 

Großprojekt: Der Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks durch den russischen Staatskonzern RosatomBild: Serkan Avci/AA/picture alliance

Dass es für die Türkei sehr schmerzhaft sein kann, es sich mit Moskau zu verscherzen, hat man in Ankara noch in guter Erinnerung. Nach Abschuss eines russischen Kampfjets im Winter 2015, der in türkischen Luftraum vorgedrungen war, legte Russland die Wirtschaftsbeziehungen monatelang auf Eis,  zum Schaden Ankaras. Nach einigen Monaten knickte die türkische Regierung ein, Präsident Erdogan flog nach Sankt Petersburg um sich bei Präsident Putin zu entschuldigen. 

Angesichts der dramatischen Wirtschafts- und Finanzkrise und fallender Umfragewerte für ihre Politik kann sich die türkische Führung einen Wirtschafts- oder Tourismusboykott kaum leisten.

Türkische Hoffnung auf "Wendepunkt" 

Ähnlich unerbittlich wie im Konflikt mit Ankara vor einigen Jahren zeigt sich die russische Führung nun im Vorfeld der Gespräche in Antalya. Die Forderungen aus Moskau in Richtung Kiew sind hart: Die Ukraine soll ihre Verfassung ändern und den Wunsch nach einem NATO-Beitritt streichen. Stattdessen soll wieder die Neutralität des Landes festgeschrieben werden.

In diesem Punkt signalisierte Selenskyj bereits seine Gesprächsbereitschaft. Als weiteres Zugeständnis an Moskau erklärte er sich zu einem "Kompromiss" über den Status der Separatisten-Gebiete Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine bereit. Von Lawrow waren bislang keine Kompromisssignale zu vernehmen.

Angesichts dessen überraschte die Einschätzung des türkischen Außenministers zu Beginn der Woche. Nach seinen Erwartungen an das Treffen befragt, zeigte sich Mevlüt Cavusoglu überaus optimistisch. Er erhoffe sich von dem Gespräch einen "Wendepunkt" für den Krieg in der Ukraine.