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Ukraine: Lässt Orban die ungarische Minderheit im Stich?

28. August 2025

Viktor Orban tritt als Schutzpatron der Auslandsungarn auf. Doch einen russischen Luftangriff auf eine westukrainische Stadt, in der auch viele Ungarn leben, verurteilt er nicht. Steckt dahinter ein strategisches Kalkül?

Eine dicke schwarze Rauchwolke ist im Bildhintergrund zu sehen. Davor ein langgestrecktes Fabrikgebäude, das teilweise beschädigt ist. Auf einer Straße daneben stehen mehrere Fahrzeuge, darunter ein Feuerwehrwagen
Russischer Angriff auf eine Fabrik in Mukatschewo in Transkarpatien, UkraineBild: Zakarpattia Regional Prosecutor's Office/REUTERS

Vor wenigen Wochen stilisierte Viktor Orban einen Todesfall in der Ukraine zu einem Angriff auf die gesamte ungarische Nation. Es ging um einen ungarischstämmigen Rekruten in der westukrainischen Region Transkarpatien, in der auch eine ungarische Minderheit lebt. Der Mann war unter bis heute nicht geklärten Umständen in einem Krankenhaus verstorben, nachdem er zuvor aus einem militärischen Ausbildungslager desertiert war. Orban, seine Regierung und seine Partei Fidesz suggerierten einen staatlich sanktionierten Mord.

Nun ist in Transkarpatien etwas geschehen, das deutlich mehr in die Kategorie eines Angriffs auf die ungarische Nation passt. Doch Ungarns Staatsführung reagiert diesmal zurückhaltend. Es geht um einen großen russischen Luftangriff auf die Ukraine am vergangenen Donnerstag (21.08.2025). Dabei trafen zwei russische Raketen auch die westukrainische Stadt Mukatschewo (Munkacs). Dort leben viele ethnische Ungarn. Zudem spielt die Stadt im nationalen Bewusstsein Ungarns eine herausragende Rolle: Transkarpatien gehörte bis 1918 zum ungarischen Teil der Habsburger Monarchie. Doch Ungarns Staatsführung verurteilte den Angriff mit keinem Wort.

Die von russischen Raketen getroffene Fabrik in MukatschewoBild: Zakarpattia Regional Prosecutor's Office/REUTERS

Die Raketen trafen ein Werk der US-amerikanischen Firma Flex, in dem Haushaltsgeräte montiert werden und zerstörten es teilweise. Das Werk produziert nach eigenen und offiziellen ukrainischen Angaben nur für den zivilen Bereich und hat rund 2800 Beschäftigte. Bei dem nächtlichen Angriff wurden mehr als 20 Menschen schwer verletzt. Mukatschewo hat etwa 85.000 Einwohner, rund neun Prozent davon sind Ungarn.

Das Adjektiv "russisch" verschwindet

Ungarns Staatspräsident Tamas Sulyok drückte in einem Facebook-Post am Morgen des 21. August sein "tiefes Mitgefühl mit den Verletzten des russischen Raketenangriffs" aus. Kurz darauf war das Adjektiv "russisch" jedoch aus dem Post verschwunden. Erst Stunden später meldete sich auch Viktor Orban selbst zu Wort. Er schrieb auf Facebook, dass man während einer Regierungssitzung "die Folgen des russischen Raketenangriffs auf Munkacs durchgesprochen" habe. Man müsse weiterhin Friedensanstrengungen unternehmen, so Orban. 

Dass Ungarns Premier und sein Apparat der Ukraine seit Jahren tatsachenwidrig vorwerfen, die ungarische Minderheit identitär und kulturell vernichten zu wollen, aber den russischen Angriff auf Mukatschewo mit keinem einzigen Wort verurteilten, empörte Ungarns regierungskritische Öffentlichkeit zutiefst. In sozialen Medien brachen Shitstorms gegen den "feigen Präsidenten" und gegen die "Doppelmoral der kremlhörigen Regierung" los.

Der ungarische Oppositionsführer Peter Magyar könnte Orban bei der Wahl im nächsten Jahr besiegenBild: Balint Szentgallay/IMAGO

Ungarns Oppositionsführer Peter Magyar bezeichnete den Staatspräsidenten als "Marionette". Der Politologe Zoltan Lakner schrieb auf Facebook, die Reaktionen der ungarischen Regierung zeigten, "wie weit es mit der Souveränität gegenüber Putin noch her sei: gar nicht mehr".

Reaktion "nicht überraschend"

Der ukrainische Politologe, Faschismusforscher und Experte für europäischen Rechtsextremismus Anton Shekhovtsov sagt der DW, dass die Art, wie die ungarische Staatsführung auf den Angriff in Mukatschewo reagiert, nicht überraschend sei. "Obwohl EU-Mitglied, ist Ungarn unter Orban ein prorussisches Regime und betreibt seit langem antiukrainische Kampagnen", so Shekhovtsov. 

Viktor Orban pflegt gute Beziehungen zur Russlands Staatschef Wladimir Putin, auch nach dessen Angriff auf die UkraineBild: Valeriy Sharifulin/SNA/IMAGO

Die neueste prorussisch-antiukrainische Episode in Orbans Ungarn ist dabei ein weiterer Meilenstein. In den vergangenen Monaten hatte Orban in Ungarn eine extrem zugespitzte öffentliche Kampagne gegen die Ukraine und ihre EU-Mitgliedschaft geführt. Darin wurden das Nachbarland und seine Menschen pauschal als Mafia-Staat und als brutale Kriminelle abgestempelt.

Derzeit haben die Beziehungen zwischen Ungarn und der Ukraine wegen Angriffen der ukrainischen Armee auf die russische Druschba-Erdöl-Pipeline einen neuen Tiefpunkt erreicht. Ungarn bezeichnet die Angriffe als Kriegserklärung auf sich selbst und auf die Europäische Union (EU), weil mit einer Zerstörung der Pipeline angeblich die europäische Energiesicherheit gefährdet werde.

Schutzmacht für Minderheit

Die Ursprünge von Orbans prorussischer Orientierung reichen lange zurück. Aktuell geht es vor allem um die innenpolitische Situation in Ungarn. Dem Premier drohen bei der Wahl im Frühjahr 2026 Abwahl und Machtverlust. Ein Wahlkampfthema ist für ihn, sich als Anti-Kriegs-Politiker zu inszenieren, die EU als "Kriegstreiber" zu verteufeln und Ressentiments gegen die Ukraine und die Ukrainerinnen und Ukrainer zu schüren.

Das Schweigen zu russischen Angriffen auf zivile Einrichtungen und Betriebe in Transkarpatien könnte sich innenpolitisch jedoch als Fehler erweisen. Orban hat sich und seine Regierung zur obersten Schutzmacht für die in den Nachbarländern lebenden ungarischen Minderheiten erklärt. In einem Fall wie dem Angriff auf Mukatschewo kollidiert jedoch die prorussische Orientierung Orbans mit dem Schutzmachtanspruch für ungarische Minderheiten.

In Transkarpatien herrschte bisher unter nicht wenigen ethnischen Ungarn die Ansicht, dass die Region vor russischen Angriffen sicher sei, da Orban sich dafür bei dem russischen Staatschef Wladimir Putin eingesetzt habe. Dieses Narrativ ist nun zusammengebrochen. Zwar hatte es 2023 und 2024 bereits zwei Drohnenangriffe in der Region gegeben, die allerdings bei Weitem nicht so schwer waren wie der jetzige.

Loyalität gegenüber Putin 

Dass Orban keine klaren Worte der Verurteilung des russischen Angriffs ausspricht, könnte zu einem Gefühl der Entfremdung bei den ukrainischen Ungarn, aber auch bei denen in der Slowakei und in Rumänien führen. Letztere hatte Orban bereits vor den Kopf gestoßen, als er in der rumänischen Präsidentschaftswahl im Mai 2025 zur Wahl des rechtsextremen und antiungarisch eingestellten Kandidaten George Simion aufrief - aus dem Kalkül heraus, dass ein Präsident Simion in der EU sein Verbündeter sein könnte.

Dass Orban nun die Interessen der ungarischen Minderheit in der Ukraine opfert, um dem russischen Despoten Putin seine Loyalität zu zeigen, könnte ebenso ein langfristiges strategisches Kalkül sein - um irgendwann das Gebiet Transkarpatien zurück unter ungarische Herrschaft zu bringen. Der Politologe Shekhovtsov glaubt zwar nicht, dass Ungarn von sich aus militärische Gewalt einsetzen würde, weil es dafür nicht stark genug sei. "Aber Orban hofft, dass die Ukraine als Staat zusammenbricht", sagt Shekhovtsov. "Dann könnten sie das Gebiet kampflos besetzen, ähnlich wie beim von Hitler verursachten Zusammenbruch der Tschechoslowakei 1938/39."