1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Ukraine: Europäische Panzer-Gemeinschaft gefordert

16. September 2022

Die Ukraine braucht moderne Panzer, um weitere russisch besetzte Gebiete befreien zu können, sagen Fachleute. Deutschland soll dafür eine Koalition in Europa schmieden.

Kampfpanzer Leopard 2 im Gelände
Bisher wurde er nicht in die Ukraine geliefert: der deutsche Kampfpanzer Leopard 2Bild: picture-alliance/dpa/P. Steffen

Die Nachricht hat dann doch einige Experten in Deutschland überrascht: Das Bundesverteidigungsministerium kündigt Mitte September überraschend an, der Ukraine 50 gepanzerte Dingo-Transportfahrzeuge zu liefern. Sie sollen ukrainischen Soldatinnen und Soldaten Schutz an der Frontlinie gegen russischen Beschuss bieten. Kaum ist die Nachricht bekannt, erklärt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD): Deutschland sei bei den Waffenlieferungen an die Ukraine "doch ziemlich weit vorne". Das sagt Scholz vor Führungskräften der Bundeswehr während einer Militärtagung in Berlin und will offenbar politischen Druck herausnehmen. Denn die Ukraine fordert seit Monaten vor allem westliche Panzer für den Kampf gegen die russischen Angreifer. Nach dem jüngsten militärischen Erfolg und der Befreiung der ganzen Region Charkiw im Nordosten des Landes geht der Krieg in der Ukraine in eine neue Phase. Um vor allem den von den Kreml-Truppen besetzten Süden des Landes zwischen den Städten Cherson und Mariupol zu befreien. "Um Gegenangriffe insbesondere in dieser weitläufigen Steppe erfolgreich durchzuführen, reicht eben die Ausstattung noch nicht. Deswegen ist ja die Ukraine so hilfesuchend unterwegs in Bezug auf Schützenpanzer und Kampfpanzer", sagt der Analyst der Münchener Sicherheitskonferenz und Osteuropa-Experte, Nico Lange, im Gespräch mit der DW.

Mehr Hilfe für die Ukraine: Im befreiten Ort Balaklija warten Menschen auf humanitäre Hilfe. Bild: Oleksandra Indiukhova/DW

Bereits bei seinem Besuch Anfang September in Berlin bat der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal erneut um den Kampfpanzer Leopard. Und auch die US-Botschafterin in Berlin ermuntert Deutschland offenbar zu diesem Schritt. Wieder wächst der Druck auf Deutschland, mehr schwere Waffen zu liefern.

Kritik von westlichen Partnern an Deutschland

Tatsächlich heißt es jetzt in Berliner Sicherheitskreisen, Deutschland habe Mitte September erneut viel Reputation bei seinen westlichen Bündnispartnern verspielt. Da war bekannt geworden, dass der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, in einem Interview mit der Zeitschrift "Focus" den militärischen Erfolg der Ukraine im Nordosten des Landes heruntergespielt hat. "Ich bin mit den Begriffen vorsichtig", sagte Zorn in Bezug auf die von den USA und Großbritannien gelobte Offensive der ukrainischen Armee. Er schätze, Kiew könne Russland nur mit einer "Überlegenheit von mindestens 3 zu 1" zurückschlagen. In dem gleichen Interview warnte Zorn vor Angriffen Russlands gegen das Baltikum oder gegen Finnland.

Für die Befreiung der flachen Steppenlandschaft zwischen den Städten Cherson und Mariupol brauche die Ukraine moderne Kampfpanzer, sagen Fachleute.

Das sei eine "erstaunlich schlechte Analyse der russischen Fähigkeiten", entgegnet der frühere Oberbefehlshaber der US-Armee in Europa, Ben Hodges. Tatsächlich würde Finnland alleine die russischen Streitkräfte in ihrem jetzigen Zustand schlagen können. Die Nachbarländer Litauen und Polen könnten die russische Enklave Kaliningrad, die umgeben ist von diesen beiden Ländern an der Ostsee "in einer Woche" einnehmen, schreibt der in Deutschland lebende Hodges selbstbewusst.

Die große Mehrheit der westlichen Analysten sehen das wie der US-General. So schreibt das Verteidigungsministerium in London in seinem regelmäßigen Ukraine-Bulletin: "Russlands Probleme, genug Soldaten zu mobilisieren, verschärfen sich." Der Bericht verweist auf ein Video, das in sozialen Medien die Runde macht: Es zeigt den Eigentümer der privaten Söldnertruppe Wagner, wie er offenbar auf dem Hof eines Gefängnisses Gefangene für seine Truppe rekrutiert im Tausch gegen Straferlass und Bargeld. Kurz darauf wird ein Video in den sozialen Medien bekannt, das Gefangenentransporter zeigen soll auf dem Weg in ein Trainingscamp dieser privaten Söldnertruppe im Auftrag des Kreml. Russland sei stark geschwächt, soll das heißen.

Von weiteren, kleineren Fortschritten der Ukrainer berichtet der US-Think Tank Institute of the Study of War (ISW) in seiner täglichen Analyse. Demnach rückten "die ukrainischen Streitkräfte Berichten zufolge über den Fluss Oskil in der nördlichen Oblast (Region, d. Red.) Charkiw vor". Dabei verweist das ISW auf eine russische Quelle, die bestätigte, dass "die ukrainischen Streitkräfte Stützpunkte und Artilleriestellungen in der gesamten Oblast Charkiw, darunter auch Artilleriestellungen in Hryanykivka am Ostufer des Flusses Oskil in der Nähe der Fernstraße R79" errichteten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuvor angekündigt, dass jetzt zunächst einmal die ganze Verwaltungsregion Charkiw gesichert werde. Allerdings reagieren offenbar auch die russischen Truppen auf die neue Lage.

Russische Armee gräbt sich in Luhansk ein

Der ukrainische Gouverneur der komplett von russischen Truppen besetzten Nachbarregion Luhansk schreibt beim Kurznachrichtendienst Twitter: "Das Szenario von Charkiw wird sich nicht wiederholen." Die ukrainische Armee werde "hart für unsere Verwaltungsregion kämpfen müssen." Die russischen Streitkräfte würden sich bei den Städten Svatove und Troitske zur Verteidigung eingraben und neue Verteidigungsstellungen aufbauen. "Schwere Kämpfe gehen an vielen Fronten weiter." 

Und so bestimmt das Kriegsgeschehen entlang der Frontlinie den Bedarf der Ukraine für westliche Kampfpanzer. Innerhalb der deutschen Regierungskoalition wächst der Druck auf die zurückhaltende Regierungspartei SPD, die Bundeskanzler Olaf Scholz stellt. In einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sagt Bundesaußenministerin Annalena Baerbock von der Partei Bündnis90/Die Grünen: "In der entscheidenden Phase, in der sich die Ukraine aber gerade befindet, halte ich das aber auch nicht für eine Entscheidung, die lange hinausgezögert werden sollte." Allerdings könne die Lieferung "moderner Kampfpanzer" wie des Leopard 2 "nur gemeinsam" entschieden werden, "in einer Koalition und international". Das klingt sehr nach einem Vorschlag des Berliner Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR) für einen "Leopard-2-Plan", der in der deutschen Hauptstadt jetzt in die Runde macht.

Leopard-2-Plan

Demnach sollte ein europäischer Verbund von Ländern, die den Kampfpanzer Leopard 2 in ihren Beständen haben, der Ukraine 90 kampffähige Panzer zur Verfügung stellen. "Nach der Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskampfes in den Städten und der Stärkung der Schlagkraft mit Artillerie sollten sie die Streitkräfte der Ukraine für den Manöverkrieg ausrüsten", schreiben die Analysten Gustav Gressel, Rafael Loss und Jana Puglierin. "Schwere Panzer werden in dieser nächsten Phase des Krieges entscheidend sein."

Eine ganze Reihe von Ländern hat den Leopard 2, hier Fahrzeuge der polnischen Streitkräfte bei einem NATO-ManöverBild: Getty Images/S. Gallup

Die deutsche Regierung solle ein "Konsortium europäischer Leopard-2-Nutzer" vereinen, um diesen Verband mit 90 Kampfpanzern zusammenzustellen. In Europa verfügen demnach zwölf Staaten über insgesamt 2000 Leopard-2-Panzer. Für Nico Lange von der Münchener Sicherheitskonferenz könnte "ein Zusammenschluss von mehreren europäischen Nationen, die über Leopard-2-Kampfpanzer verfügen", ein Weg sein, um mit den USA "auf Augenhöhe" die Ukraine zu unterstützen. Washington hat bislang mit großem Abstand die meisten Waffen in die Ukraine geliefert.