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PolitikEuropa

Ukraine: Tauziehen mit Russland im Winterkrieg

30. November 2022

Die russische Armee bräuchte eigentlich eine Pause an der Front in der Ukraine. Das räumt der ukrainischen Armee Chancen ein – doch dafür braucht Kiew mehr Munition.

BG Ukraine Winter
Stromausfall und Suppenküche: Kiew befürchtet den härtesten Winter seit 1945Bild: Jeff J Mitchell/Getty Images

Regenfeuchte Ackerlandschaft, Reifenspuren gefüllt mit Wasser: Die Matschsaison in der Ukraine prägt seit der ukrainischen Rückeroberung der Stadt Cherson in der ersten November-Hälfte die Bilderflut von der Front in der Ukraine. Im Süden des Landes wie im Osten. Gleichzeitig bombt Russland nach Worten des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko die Menschen in den "schlimmsten Winter seit dem Zweiten Weltkrieg". Strom gibt es fast überall in der Ukraine nur noch stundenweise

Mit Wärmezelten und dezentralen Stromgeneratoren versucht Kiew den Menschen zu helfen. Tatsächlich hat Russland "schon einige sehr schwerwiegende Zerstörungen von Infrastrukturen angerichtet, die schnell nicht zu reparieren sein werden", sagt der Ukraine- und Russland-Experte Nico Lange von der Münchener Sicherheitskonferenz im Gespräch mit der DW.

Ersatzteile für zerstörte Umspannwerke und andere Energie-Infrastruktur werden geliefert in die Ukraine, doch allein der Ersatz "von bestimmten Transformatoren oder von bestimmten Ersatzteilen" nehme viel Zeit in Anspruch, so Lange.

Die Europäische Union müsse sich auf Kälte-Flüchtlinge aus der Ukraine einstellen, "wir sollten damit nicht erst anfangen, wenn wir Bilder von Erfrorenen aus der Ukraine sehen." Eine weitere Flüchtlingswelle sei Teil von Putins Kalkül, sagt Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die in Berlin die deutsche Regierung berät. Der Kreml versuche einen Keil zwischen die EU-Länder zu treiben, während die Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge in manchen EU-Staaten nachlässt. 

Hohe russische Verluste 

Die russischen Bombardierungen haben aber offenbar noch ein anderes Ziel: Russlands Armee brauche dringend eine Ruhepause in der Ukraine, so SWP-Analystin Klein. "Die verzeichnet hohe materielle und personelle Verluste." Soldaten, die erst im Herbst mobilisiert wurden, helfen den russischen Streitkräften offenbar wenig. "Um die Kampfkraft der Streitkräfte zu erhöhen, reicht es nicht, schnell schlecht ausgebildete und ausgerüstete Reservisten an die Front zu schicken." Die dienten vor allem als Kanonenfutter. "Um eine mögliche neue Welle an Reservisten besser zu trainieren", brauche der Kreml Zeit. "Denn viele der potenziellen Ausbilder sind im Kampfeinsatz." 

Schlamm schränkt derzeit die Beweglichkeit der ukrainischen Armee ein. Das könnte sich bald ändern. Bild: Metin Aktas/AA/picture alliance

Darin, Russlands Armee diese Zeit nicht zu geben, liegt offenbar das wichtigste strategische Ziel der ukrainischen Streitkräfte in diesem Winter. Während die Zivilbevölkerung auf eine humanitäre Winterkatastrophe zusteuert, könnten die Minus-Temperaturen der Ukraine bald militärische Vorteile verschaffen. 

Warten auf frostige Böden

Im Osten des Landes, wo die russische Armee weite Teile der Oblast (Region) Lugansk besetzt hält, seien die ukrainischen Streitkräfte "auf gefrorenen Boden angewiesen", sagt Ukraine-Experte Nico Lange. So verfüge die Armee gerade im Nordosten des Landes über "sehr viele Fahrzeuge auf Rädern". Damit die ukrainische Armee "ihre Stärke – die Mobilität – ausspielen" könne, brauche es gefrorene Böden.

Denn entlang der Front im Osten des Landes spielt die russische Armee ihre Überlegenheit mit mobilen Granatwerfern aus, dem schon in der Sowjetunion gebauten GRAD-System. Damit deckt die russische Armee die ukrainischen Stellungen täglich mit flächendeckendem Granaten-Beschuss ein. Die Munition kann Russland ständig nachproduzieren. Die Ukraine ist also darauf angewiesen diese Nachschubwege zu treffen – mit westlicher Artillerie auf Rädern wie das französische Caesar-System. Und genau dafür braucht es gefrorenen, festen Boden statt Matschfahrten.

Und tatsächlich beginnt in diesen Tagen laut Wetterbericht im Nordosten der Ukraine der Frost. "Sobald der Boden festfriert, wird da glaube ich von ukrainischer Seite wieder mehr möglich sein", so Lange. "Darauf scheint man schon zu warten", bezogen auf "die Angriffsachse im Gebiet Lugansk."

Schnee in Borodianka bei Kiew: Im Norden und Osten des Landes beginnen die Böden einzufrieren Bild: Philip Reynaers/BELGA/dpa/picture alliance

Bereits in wenigen Wochen soll ein Problem der ukrainischen Armee gelöst werden: Der intensive Einsatz der westlichen Artillerie-Systeme führt zu hohem Verschleiß. Bis "Mitte Dezember" soll in der Slowakei an der Grenze zur Ukraine ein Reparaturzentrum für Waffen wie die deutsche Panzerhaubitze 2000 fertig sein, sagt die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. "Die deutsche Industrie ist nun – in unserem Auftrag – mit dem Aufbau des Servicezentrums beschäftigt", so Lambrecht. "Ein großes Ersatzteilpaket mit rund 14.000 Teilen wird dafür bereitgestellt."

Es mangelt an Munition

"Für die Ukraine geht es darum, das Momentum zu nutzen. Die ukrainische Armee hat gezeigt, dass sie sehr clever die Schwächen der russischen Seite ausnutzen kann", sagt SWP-Analystin Margarete Klein. Allerdings fehlt es der ukrainischen Armee an Munition, warnt Nico Lange von der Münchener Sicherheitskonferenz. "Die Ukraine verbraucht zum Beispiel Raketen für Luftverteidigungssysteme schneller als sie produziert werden." Das gelte auch für einfache Artilleriemunition, über die Russland wiederum unbegrenzt verfügen könne. Anders als bei den zum Teil Chip-gesteuerten russischen Mittelstreckenraketen.

Und so entwickelt sich dieser Krieg mittlerweile zu einem Wettlauf um Munition. Putin spekuliere darauf, so Lange, dass der ukrainischen Flugabwehr die Munition ausgehe. Doch gleichzeitig liefern die 50 Unterstützer-Staaten der Ukraine-Kontaktgruppe, angeführt von den USA, weitere Flugabwehrsysteme. "Die Luftverteidigung der Ukraine wird besser", sagt Lange. Russland reagiere darauf und schieße in seinem Luftkrieg noch mehr Mittelstreckenraketen und Drohnen auf die zivile Infrastruktur ab. 

Allerdings werde das für den Kreml immer schwieriger. "Man hat ja Bilder gesehen, dass da Raketen schon benutzt worden sind, die eigentlich zur strategischen Reserve gehören. Und diese Raketen kann Russland aufgrund der technologischen Sanktionen nicht einfach so nachproduzieren, weil es die Chips und die Technologie dafür nicht hat." 

Die Winterphase von Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ein Tauziehen. Wie es ausgeht, hängt ganz offensichtlich davon ab, ob Kiew die humanitäre Not mit westlicher Hilfe lindern kann, ob die ukrainische Luftabwehr weiter gestärkt wird – und ob die ukrainische Armee die Kreml-Truppen auf frostigen Böden so mit Nadelstichen entlang der Front stören kann, dass sie nicht zur Ruhe kommen. Chancen auf einen schnellen Frieden angesichts des menschlichen Leids in der Ukraine – den sehen die wenigsten Fachleute. Im Gegenteil: "Ich sehe auf russischer Seite momentan keine Bereitschaft, ernsthaft zu verhandeln", sagt Osteuropa-Expertin Margarete Klein von der SWP.

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