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Ukraine überrascht Moskau: Vormarsch in russisches Gebiet

Alexey Strelnikov
8. August 2024

Ukrainische Truppen haben nach übereinstimmenden Berichten russisches Staatsgebiet in der Region Kursk erobert. Nach Einschätzung von Militärexperten ist der Vorstoß für Kiew strategisch und politisch von Bedeutung.

Ein zerstörtes Haus nach einem Militärschlag in Kursk
Folgen eines Militärschlags in der Region KurskBild: Acting Governor of Kursk Region Alexei Smirnov/Telegram/REUTERS

In der russischen Region Kursk, die an den Nordosten der Ukraine grenzt, finden seit Dienstagmorgen heftige Kämpfe statt. Inzwischen haben die regionalen Behörden den Ausnahmezustand ausgerufen und es wird regelmäßig Luftalarm gegeben.

Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums und von Militärexperten sind ukrainische Truppen auf russisches Gebiet vorgedrungen. Sie sollen russische Soldaten gefangen genommen haben. Außerdem hat die russische Armee mindestens einen Ka-52-Hubschrauber verloren, der von einer Drohne abgeschossen wurde. 

Die russischen Behörden behaupten, "den Vormarsch des Feindes gestoppt" und "die Lage unter Kontrolle" zu haben, doch gibt es neue Berichte über Kämpfe in der Kleinstadt Sudscha. Eine offizielle Stellungnahme der Ukraine zur Lage in der Region Kursk liegt noch nicht vor. Mychajlo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidenten, äußerte sich nur indirekt und machte Russland selbst für die Eskalation der Lage und die zuletzt vermehrten ukrainischen Angriffe in russischen Grenzregionen wie Kursk und Belgorod verantwortlich.

Die meisten der von der DW befragten Militärexperten sind sich einig: Dieser Angriff auf russisches Territorium wird die russische Armee an der Hauptfront in der Ukraine schwächen, weil sie einen Teil ihrer Truppen verlegen muss. 

Unter Rechtfertigungsdruck: Generalstabschef Waleri GerassimowBild: Mikhail Kuravlev/AP/picture alliance

Was die russischen Behörden sagen

Wladimir Putin äußerte sich erst einen Tag nach dem Vorstoß und warf der Ukraine eine "groß angelegte Provokation" vor. Am Mittwoch berief der russische Präsident seinen Sicherheitsrat ein. 

Dort versicherte Generalstabschef Waleri Gerassimow, der Vormarsch von bis zu 1000 ukrainischen Soldaten in die Region Kursk sei gestoppt worden. Die "Verluste des Feindes" laut Gerassimow: 315 Soldaten, davon mindestens 100 getötet, und rund 50 Einheiten Technik - darunter sieben zerstörte Panzer.

Am Vortag hatte das russische Verteidigungsministerium noch erklärt, der Angriff sei abgewehrt worden und "die Reste der Sabotagegruppen haben sich auf ukrainisches Territorium zurückgezogen". Später wurde diese Meldung des Ministeriums in den sozialen Netzwerken verändert und verschwand auch aus den Meldungen einiger staatlicher russischer Nachrichtenagenturen.

Erfolg der Ukraine, Versagen der russischen Aufklärung

In der nichtöffentlichen Sitzung des russischen Sicherheitsrates wurde möglicherweise über ein Versagen des russischen Geheimdienstes gesprochen, dem es nicht gelungen sei, die Bewegungen der ukrainischen Truppen in Grenznähe zu verfolgen. So der unabhängige russische Militärexperte Juri Fjodorow: "Es handelt sich um zwei Brigaden mit jeweils rund 4.000 Soldaten. Das ist auf jeden Fall ein Erfolg für die ukrainische Seite."

Seiner Meinung nach könnten diese Truppen ausreichen, um einen Brückenkopf auf russischem Territorium zu bilden, wo es keine ernsthaften Verteidigungsanlagen und nicht genügend russische Truppen gibt. "In Kursk befinden sich 10.000 bis 12.000 Soldaten. Sie sind verstreut und weniger kampfbereit als die direkt am Krieg beteiligten Truppen", sagt er. Der Experte vermutet, dass das Hauptziel der Ukraine darin besteht, die russische Armee von der Hauptfront abzulenken.

Gleichzeitig weist Fjodorow darauf hin, dass auch die ukrainischen Streitkräfte große Probleme haben: "Selenskyj sagte, dass die ukrainischen Streitkräfte fast 14 Brigaden ohne Personal haben. Es gäbe nicht genug Waffen, um sie in den Kampf zu schicken."

Zerstörungen auf russischem Gebiet: Dieses Haus in der Region Kursk wurde offenbar bei einem ukrainischen Militärschlag beschädigtBild: Acting Governor of Kursk Region Alexei Smirnov/Telegram/REUTERS

Zehn russische Dörfer und 15 Kilometer Territorium erobert

Der russische Militäranalyst Jan Matwejew schließt sich dieser Einschätzung an und fügt hinzu, dass sich auf russischem Territorium mehrere hundert ukrainische Soldaten befinden könnten, während sich der Rest noch in Reserve auf ukrainischem Territorium befinde. Diese Reserven könnten bei einem Erfolg der ukrainischen Offensive verlegt werden. 

Laut Matwejew soll es der ukrainischen Armee bis zum 7. August gelungen sein, zehn Dörfer und etwa 15 Kilometer russisches Territorium einzunehmen. Allerdings beruhten diese Angaben auf Berichten kremlnaher Korrespondenten: "Wir erleben eine ernsthafte Informationsblockade: Es gibt so gut wie keine Daten - weder von der ukrainischen noch von der russischen Seite". Inzwischen spricht auch das in den USA ansässige Institute for the Study of War (ISW) von einem Vormarsch von bis zu zehn Kilometern. 

Aus psychologischer Sicht sei das eroberte Gebiet für die Ukraine ein wichtiges Argument in den Gesprächen über einen möglichen Waffenstillstand, so Matwejew. Aus militärischer Sicht seien aber noch Fragen offen, etwa ob die Ukraine durch die Offensive am Ende mehr Einheiten verliere als die russische Armee. "An der Donezk-Front zum Beispiel gibt es ernsthafte Probleme für die ukrainische Armee."

Die Kontrolle über einen Teil des russischen Territoriums zu verlieren, sei für die russischen Behörden eine Katastrophe, meint der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow. Gleichzeitig fehle es der russischen Armee schlicht an Personal, das in das neue Kampfgebiet verlegt werden könnte: "Jeden Monat werden in Russland 25.000 bis 30.000 Menschen mobilisiert, die Verträge mit dem Militär unterschreiben. Aber das dient dazu, die Verluste an der Frontlinie auszugleichen."

Schdanow glaubt, dass die ukrainische Führung die Situation nutzen kann, um eine stärkere Position aufzubauen, sollten Verhandlungen zur Beilegung des militärischen Konflikts beginnen. "Die politische Bedeutung wiegt schwerer als ein militärischer Erfolg", sagt er.

Evakuierung der russischen Bevölkerung

Die Behörden der Region Kursk behaupten in sozialen Netzwerken, die Situation sei "unter Kontrolle" und die Bewohner der Grenzgebiete würden evakuiert. Es gibt jedoch Berichte, dass einige Bewohner selbst versuchen, die Kampfzone zu verlassen oder in Siedlungen Zuflucht zu suchen. Ein Video des Priesters Jewgeni Schestopalow wird in russischen sozialen Netzwerken aktiv verbreitet. Ihm zufolge suchen einige Bewohner Schutz in der Dreifaltigkeitskirche in Sudscha, darunter auch Kinder: "Ganz Sudscha steht in Flammen. Alle 10-15 Sekunden gibt es einen Zustrom. Es gibt keine Transportmöglichkeiten, also sammeln wir die Menschen in der Kirche."

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