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Politik

Schießübungen in der Tschernobyl-Zone

1. August 2019

Bei Dreharbeiten in Prypjat haben DW-Reporter erfahren, dass die ukrainische Nationalgarde in der verstrahlten, verlassenen Stadt Schießübungen abhält. Was ist der Grund dafür - und welche Gefahren bestehen?

Ukraine Region Tschernobyl Sperrzone Prypjat
Bild: DW/F. Warwick

"Das kommt von den Militärübungen", sagt der Fremdenführer zu Touristen aus Deutschland und Kanada, die sich über Einschusslöcher in der Vitrine eines Cafés in Prypjat wundern. Inzwischen müssen die Reiseleiter bei allen Touren durch die Tschernobyl-Zone den Besuchern erklären: Die Einschusslöcher in den Gebäuden der evakuierten Stadt Prypjat haben nicht Abenteurer auf ihrer Suche nach Mutanten und Zombies hinterlassen, sondern Soldaten der ukrainischen Nationalgarde.

In der Ukraine ist über die Ausbildung von Kampftruppen auf dem verstrahlten Gelände wenig bekannt. Einzelne Hinweise darauf finden sich auf den Webseiten der "Stalker", wie die illegalen Besucher der Sperrzone genannt werden. Ende Januar letzten Jahres beklagte der Chefs der Firma Tschernobyl-Tours, Jaroslaw Jemeljanenko, in einem Facebook-Post: "Sie werden wieder schießen. Die Stadt Prypjat wurde ohne Vorankündigung gesperrt. Die Touristen dürfen den Ort nicht besuchen, obwohl sie dafür schon Geld gezahlt haben."

Verfallende Gebäude als attraktives Fotomotiv: Tourist in PrypjatBild: DW/D. Katkow

Der Plan des Innenministers

Auf der Webseite der Nationalgarde oder der des Innenministeriums ist zu den Übungen nichts zu finden. Lediglich die staatliche Firma, die für die Zulassung von Touristen zur Tschernobyl-Zone zuständig ist, verkündete im Internet kurzfristig, am 30. Mai sei die Stadt Prypjat für Besucher geschlossen. Nach Informationen, die der DW vorliegen, wurden genau an diesem Tag Übungen der Nationalgarde in Prypjat abgehalten.

Die Nationalgarde selbst ließ die Frage der DW, wann sie zuletzt in der Tschernobyl-Zone trainiert habe, unbeantwortet. Bestätigt wurde nur, dass Angehörige der Garde gelegentlich im Einvernehmen mit der Verwaltung des Sperrgebiets in Prypjat üben würden, und zwar im Zusammenhang mit dem "Plan der kleinen Schritte", den Innenminister Arsen Awakow zur "Deokkupation" des Donbass entwickelt hatte. Das Gebiet im Osten der Ukraine befindet sich seit fünf Jahren unter der Kontrolle prorussischer Separatisten.

Einschusslöcher auf einer mit Graffiti bemalten WandBild: DW/D. Katkow

Den Plan hatte Awakow im vergangenen Sommer vorgestellt. Er sei eine Alternative zu den Minsker Vereinbarungen, die sich, so der Innenminister, "erschöpft" hätten. Durch die Vermittlung Deutschlands und Frankreichs wurde im sogenannten Normandie-Format unter Beteiligung der ukrainischen und russischen Seite 2015 das Minsker Abkommen erreicht. Dadurch wurde der bewaffnete Konflikt mit den von Russland unterstützten "Volksrepubliken" eingedämmt.

Risiken für Soldaten und Abenteurer

Die Nationalgarde versichert der DW, ihre Angehörigen würden bei den Schießübungen in Prypjat alle Sicherheitsvorschriften befolgen und später die die gesamte Ausrüstung auf radioaktive Kontamination hin prüfen. Doch Beobachter haben Zweifel, was die Sicherheit der Übungen im radioaktiv verseuchten Prypjat mit seinen verfallenen Gebäuden angeht.

Taras Tschmut, Leiter der NGO "Ukrainisches Militär-Zentrum" findet, dass die Tschernobyl-Zone alles andere als ein sicherer Truppenübungsplatz ist. Bei den Gebäuden bestehe Einsturzgefahr, und die Soldaten könnten verletzt werden. "Natürlich kann man sagen, dass solche Übungen unter maximal wirklichkeitsgetreuen Kampfbedingungen stattfinden sollten, aber dabei sollte nicht das Leben von Militärs gefährdet werden", so Tschmut. Er gab auch zu bedenken, dass das Gelände radioaktiv verseucht sei.

Gefahren bergen die Schießübungen auch für die Abenteurer, die illegal in die Sperrzone eindringen. Seitens der Nationalgarde heißt es, einen Tag vor den Übungen würden Gebäude durchsucht und über Lautsprecher Warnungen verbreitet. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass alle Wohnungen der verlassenen Stadt, in der einst 50.000 Menschen lebten, überprüft werden können. Fraglich ist auch, ob die Warnungen beachtet werden. "Stalker", unter denen sich auch Minderjährige befinden, könnten die Schießübungen sogar noch beobachten, statt sich zurückzuziehen.

Debatte um UNESCO-Welterbe

Kritisch sehen die Übungen auch diejenigen, die sich dafür einsetzen, dass die verlassene Stadt unter Denkmalschutz gestellt wird. Laut Nationalgarde gibt es diesbezüglich keinen Grund zur Sorge. "In der Stadt werden Maßnahmen getroffen, um die Zerstörung von Gebäuden zu verhindern", heißt es gegenüber der DW. Geschossen werde nur auf zuvor vorbereitete Ziele, und die Projektile würden beispielsweise von Sandsäcken aufgefangen. Doch die zahlreichen Einschüsse an Gebäuden zeigen, das dem nicht so ist.

Nicht alle Schüsse enden in SandsäckenBild: DW/D. Katkow

"Touristen kommen und sehen die Einschusslöcher in den Fenstern. Das ist einfach Vandalismus", sagt Serhij Myrnyj, Mitarbeiter von Tschernobyl-Tours. Er hat auf der Webseite des ukrainischen Präsidenten eine Petition initiiert mit dem Ziel, dass die Tschernobyl-Zone auf die Liste des UNESCO-Welterbes kommt.

Auch der ukrainische Prypjat-Forscher Oleksandr Syrota ist empört. "Jetzt wird darüber diskutiert, dass Prypjat potenziell ein UNESCO-Welterbe ist. Aber es kann doch keine Rede davon sein, aus der Stadt ein Museum zu machen, wenn auf zentrale Gebäude, die unter Denkmalschutz kommen könnten, geschossen wird", so der Aktivist.

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