Ukraine: Neues Gesetz schwächt Antikorruptionsbehörden
23. Juli 2025
Am 22. Juli hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Gesetz unterzeichnet, dass die Befugnisse des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) und der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) einschränkt. Es war erst wenige Stunden zuvor vom ukrainischen Parlament verabschiedet worden.
In mehreren Städten der Ukraine kam es daraufhin zu spontanen Protesten. In Kyjiw, wo einige tausend Menschen auf die Straße gingen, sprachen die Demonstranten von einem "Rückfall" in die Ära des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Janukowitsch war von 2010 bis 2014 im Amt , bis er während der als "Maidan-Revolution" bekannt gewordenen pro-europäischen Proteste nach Russland fliehen musste.
Was ändert sich mit dem neuen Antikorruptionsgesetz?
Das neue Gesetz sieht vor, dass der Generalstaatsanwalt, der in der Ukraine vom Präsidenten mit Zustimmung des Parlaments ernannt wird, Zugang zu allen NABU-Fällen erhält und diesen auch jedem anderen Staatsanwalt gewähren kann.
Darüber hinaus kann er den NABU-Ermittlern schriftliche Anweisungen erteilen, den Gegenstand von Verfahren ändern, Ermittlungen auf Antrag der Verteidigung einstellen und vieles mehr. Das Gesetz schränkt auch die Verfahrensautonomie der SAPO erheblich ein.
"Die Unabhängigkeit der beiden Institutionen - von jeglichem politischen Einfluss und Druck auf unsere künftigen und laufenden Ermittlungen - wird faktisch vernichtet", erklärte SAPO-Staatsanwalt Oleksandr Klymenko. "NABU und SAPO wurden als Organe mit exklusiven Ermittlungsbefugnissen geschaffen, um Korruption auf höchster Ebene unter voller Garantie ihrer Unabhängigkeit zu bekämpfen. Das ist eine Voraussetzung für unser Vorankommen Richtung Europa", betonte NABU-Direktor Semen Krywonos.
Selektive Korruptionsbekämpfung in der Ukraine?
Nur einen Tag vor der Annahme des umstrittenen Gesetzes waren Büros von NABU und SAPO durchsucht worden. Ermittler der Antikorruptionsbehörden stehen unter Verdacht, Verbindungen nach Russland zu unterhalten.
Einige Abgeordnete begrüßten die Verabschiedung des Gesetzes, darunter die ehemalige Ministerpräsidentin und Vorsitzende der Partei "Vaterland", Julia Tymoschenko, die den beiden Behörden vorwirft, im Kampf gegen die Korruption selektiv vorzugehen. "Man kann nicht von Antikorruptions-Strukturen sprechen, sondern von einer Schattenregierung, die alle Prozesse kontrolliert", so Tymoschenko.
Präsident Selenskyj erklärte, dass die ukrainischen Antikorruptionsbehörden weiterhin funktionieren würden, "nur frei von russischem Einfluss". "Die Verdachtsfälle müssen untersucht werden. Seit Jahren leben einige Beamte, die aus der Ukraine geflohen sind, unbehelligt im Ausland - ohne rechtliche Konsequenzen."
Es gebe keine rationale Erklärung dafür, warum einige der milliardenschweren Strafverfahren seit Jahren festhingen, zürnte der Präsident. Zudem beklagte er, dass Russland in der Vergangenheit Zugang zu sensiblen Informationen erhalten habe.
Kritik auch aus den Reihen der ukrainischen Regierungspartei
Die Verabschiedung des Gesetzes wurde jedoch parteiübergreifend kritisiert. Unverständnis kam selbst aus den Reihen der regierenden Partei "Diener des Volkes". So warnte deren Abgeordnete Anastasija Radina, die Vorsitzende des parlamentarischen Antikorruptions-Ausschusses, noch vor der Abstimmung vor den "katastrophalen" Folgen dieses Gesetzes für den ukrainischen Staat.
Die Parlamentsfraktion der oppositionellen Partei "Europäische Solidarität" teilte mit, der Aufbau eines Antikorruptions-Systems sei eine der größten Errungenschaften der Maidan-Revolution gewesen, und diejenigen, die für das Gesetz gestimmt hätten, würden den Staat in einem kritischen Moment seiner Geschichte zerstören.
"Faktisch wird das Land in einen Zustand zurückgeworfen, mit dem die Russen einst zufrieden waren, als es an Rechten und Demokratie mangelte. Solche Länder geraten früher oder später in die Einflusszone des Kreml", warnte die Oppositionsabgeordnete und Vorsitzende des EU-Integrationsausschusses der Ukraine, Iwanna Klympusch-Zinzadse.
Ihr zufolge bedroht das Gesetz europäische und andere internationale Finanzhilfen, die an die Korruptionsbekämpfung der Ukraine geknüpft sind.
Brüssel zeigt sich besorgt über ukrainisches Antikorruptionsgesetz
EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos sprach im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz von einem "ernsthaften Rückschritt". "Unabhängige Organe wie NABU und SAPO sind für den Weg der Ukraine in die EU von entscheidender Bedeutung. Die Rechtsstaatlichkeit bleibt im Mittelpunkt der EU-Beitrittsverhandlungen", schrieb Kos im sozialen Netzwerk X.
Der Investmentbanker und Finanzexperte Serhij Fursa wies auf Facebook darauf hin, dass viele Menschen dem NABU und der SAPO Ineffizienz vorwerfen. Doch seien die Organe "weit effektiver als angenommen", so Fursa. Wenn man bereit sei, mit den rechtlichen Einschränkungen sogar die europäische Integration und die Unterstützung westlicher Partner aufs Spiel zu setzen, "dann ist die Angst sehr groß - was bedeutet, dass das NABU sehr gute Arbeit leistet", meint Fursa.
Als Reaktion auf die Proteste hielt Wolodymyr Selenskyj am 23. Juli ein Treffen mit allen Leitern der ukrainischen Strafverfolgungs- und Antikorruptionsbehörden sowie mit Generalstaatsanwalt Ruslan Krawtschenko ab. "Wir alle hören, was die Öffentlichkeit sagt. Wir sehen, was die Menschen von staatlichen Institutionen erwarten, damit Gerechtigkeit und die Effektivität jeder einzelnen Institution gewährleistet wird", erklärte der ukrainische Präsident. Er kündigte an, innerhalb von zwei Wochen einen gemeinsamen Aktionsplan zur Lösung des Streits zu entwickeln.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk