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Politik

Ukraine vor politischem Erdbeben

Roman Goncharenko
19. April 2019

Die Sehnsucht vieler Ukrainer nach einem Neuanfang erhöht die Chancen des Komikers Wolodymyr Selenskyj bei der Stichwahl um das Präsidentenamt. Hat Staatschef Petro Poroschenko überhaupt noch eine Chance?

Kandidaten in der Stichwahl: Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj
Kandidaten in der Stichwahl: Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj

In der Ukraine brodelt es gewaltig. Die Stimmung vor der Stichwahl um das Amt des Präsidenten am Sonntag ist so gereizt wie zuletzt während der Proteste der Opposition im Winter 2014. In Familien, Büros und vor allem in sozialen Netzwerken wird gestritten und geschimpft, Freundschaften zerfallen. Grund für die Aufregung ist der sich abzeichnende Sieg des Fernsehkomikers Wolodymyr Selenskyj. Laut aktuellen Umfragen steht Selenskyj bei 60 Prozent der Stimmen. Poroschenko kann mit nur halb so vielen Stimmen rechnen. Mit ähnlich großem Abstand gewann Selenskyj den ersten Wahlgang am 31. März.

Das Ergebnis des ersten Wahlgangs zeigt: Selenskyjs Befürworter sind im ganzen Land verteilt, denn schließlich hat der beliebte Komiker und politische Quereinsteiger in den meisten Landesteilen die Mehrheit der Stimmen erhalten. Das ist für ukrainische Verhältnisse ein seltener Fall. Doch bisher kann von gesellschaftlichem Frieden keine Rede sein. Im Gegenteil: Hass liegt in der Luft. Viele verabscheuen Poroschenko und wünschen ihm eine Niederlage, obwohl es auch einige gibt, die Selenskyj kaum besser finden. Eine verzweifelte Minderheit hingegen drescht auf die Wähler von Selenskyj ein.

Warum Selenskyj so beliebt ist

Selenskyj, der seine Kandidatur in der Silvesternacht überraschend angekündigt hatte, stieg innerhalb weniger Monate bei den Wählern zu einem Hoffnungsträger auf. Seine Hochburgen sind in der Ost- und Südukraine, wo viele Bürger Russisch sprechen und sich unter anderem durch den Vormarsch der ukrainischen Sprache und Kultur in den letzten Jahren überrumpelt fühlen. Selenskyj selbst stammt aus dieser Region, spricht Russisch und wird dort als "einer von uns" empfunden. Doch auch in den zentralen und manchen westlichen Landesteilen konnte der Komiker als Kandidat punkten.

Wahlprogramm des Präsidentschaftskandidaten Wolodymyr Selenskyj im InternetBild: Wolodymyr Selenskyj

Seine größten Trümpfe: Bekanntheit und Beliebtheit als Comedian sowie Politikferne. Nach Jahrzehnten politischer Turbulenzen und Korruptionsskandale ist die Sehnsucht vieler Ukrainer nach neuen Gesichtern so groß, dass es so scheint, als würden sie sich auf ein Experiment mit einem politischen Neuling an der Staatsspitze einlassen wollen. Selenskyj profitiert offenbar dabei aber auch von einer seiner Rollen: In der Fernsehserie "Diener des Volkes" spielt er einen Schullehrer, der Präsident wird und aufräumt. Seine populistischen Hasstiraden auf "korrupte und gierige" ukrainische Politiker in der Serie sprechen vielen aus der Seele. Und obwohl er in der wie ein Märchen konzipierten Serie nur eine Rolle spielt, trifft er offenbar den Nerv der Menschen. 

Poroschenko kämpft mit dem Rücken zur Wand

Während der drei Wochen zwischen den Wahlgängen zeigte sich Selenskyj zunehmend siegessicher, betrieb kaum Wahlkampf und gab kaum Interviews. Der 41-Jährige appellierte aber auch hin und wieder an seine Anhänger - meist mit ironischen Videobotschaften in sozialen Netzwerken. Statt über Inhalte zu diskutieren, wurde tagelang über Drogen- und Alkoholtests der Kandidaten - eine Forderung von Selenskyj - gewitzelt.

Das umstrittene Werbeposter von Petro PoroschenkoBild: picture-alliance/dpa/E. Lukatsky

Der 53-jährige Poroschenko wirkte zunehmend wie ein Getriebener, ging auf fast alle Forderungen von Selenskyj ein und versuchte in manchen Aspekten seinen Herausforderer zu kopieren. Ein Beispiel: In einem Versuch bei jungen Wählern zu punkten, bot auch Poroschenko Sticker mit Fotos und Sprüchen beim beliebten Messengerdienst Telegram an. Doch seine Sticker wirken im Vergleich zu denen von Selenskyj eher hölzern. Auch die Anzahl der Abonnenten beider Kandidaten spricht für sich: Während Poroschenko rund 53.000 Telegram-Follower hat, sind es bei Selenskyj mehr als 145.000.

Die Umfragen legen nahe, dass Poroschenko nur noch durch ein Wunder gewinnen kann. Seine ursprüngliche Strategie, seinen Gegner als eine Marionette des russischen Präsidenten Wladimir Putin darzustellen, ist nicht aufgegangen. Poroschenko musste sich für seine umstrittenen Werbeposter mit einem Putin-Konterfei rechtfertigen. Nach fünf Jahren im Amt muss Poroschenko nun feststellen, dass seine außenpolitischen Erfolge - wie etwa die Visafreiheit für die EU - für die Bürger weniger wichtig sind als steigende Gaspreise und eine immer ärmer werdende Bevölkerung. Aber auch Korruptionsvorwürfe gegen sein Umfeld haben Poroschenko geschadet. Auch deshalb wird es politisch zunehmend einsam um den Präsidenten. Er hat kaum noch verbündete Parteien, die für ihn werben würden. Die meisten Spitzenpolitiker rechnen offenbar mit einem Sieg von Selenskyj und warten ab.

Turbulente Zeiten am Horizont

Sollte Selenskyj tatsächlich gewinnen, dürften auf die Ukraine turbulente Zeiten zukommen, schätzen Beobachter in Kiew. Sein Sieg dürfte das ohnehin fragile politische System durchschütteln. Die Palette reicht von vorgezogenen Parlamentswahlen über eine Verfassungsreform und Umverteilung der Macht bis hin zu neuen gewaltsamen Straßenprotesten. Mit letzteren wäre zum Beispiel dann zu rechnen, wenn Selenskyj eine Abkehr von der bisherigen prowestlichen Politik einleiten und eine Annäherung an Russland betreiben würde. Er selbst bekannte sich zwar zu einem Weg der Ukraine in Richtung EU, signalisierte aber auch Kompromissbereitschaft Richtung Moskau.

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