Ukraine: Warum Deserteure wieder an die Front gehen
22. April 2025
"Was für ein Verbrechen? Ich hatte familiäre Probleme!", sagt Kostjantyn, Deserteur der ukrainischen Armee. Und fügt hinzu: "Es ist übrigens ein Verbrechen, dass ich nach meiner Verwundung weder eine Rehabilitation noch Entschädigung bekam!"
Kostjantyn gehört zu den 21.000 Soldaten, die nach Angaben der ukrainischen Ermittlungsbehörden von der Front geflohen oder ihren Pflichten ferngeblieben sind. Sie kehrten in den letzten Monaten freiwillig wieder in den Militärdienst zurück, um einem Strafverfahren zu entgehen.
Anfang März endete eine entsprechende Frist. Zu Jahresbeginn waren knapp 123.000 Verfahren wegen unerlaubten Verlassens von Truppenteilen und Desertion in der Ukraine registriert.
Anzahl der Fälle überfordert Ermittler
Schon in den Jahren 2023 und 2024 erreichte die Zahl der Fälle ein Ausmaß, das die Ermittler nicht mehr bewältigen konnten. In den vergangenen zweieinhalb Jahren wurden nur sieben Prozent aller Fälle aufgearbeitet.
So kam es zur stillschweigenden Abmachung, dass die Behörden nicht ermitteln, solange es dem Kommandanten einer Einheit gelingt, seinen desertierten Soldaten zur Rückkehr in den Dienst zu überreden.
Schon bald wurde diese Praxis vom ukrainischen Parlament gesetzlich festgeschrieben. Seit Herbst 2024 können Soldaten, die ihren militärischen Pflichten ferngeblieben oder desertiert sind, freiwillig wieder in den Dienst zurückkehren und so einer strafrechtlichen Verfolgung entgehen. Der Grund für diese Entscheidung war offensichtlich der Personalmangel an der Front. Noch im Januar sagte der Oberkommandeur der ukrainischen Streitkräfte, Oleksander Syrskyj, dass die Ukraine mehr Soldaten in den mechanisierten Brigaden brauche. Die Mobilisierungskapazitäten reichten aber nicht, um diesen Bedarf zu decken.
Nach einer weiteren Gesetzesänderung im Dezember wurde den betroffenen Männern jedoch eine Frist bis zum 1. Januar 2025 gesetzt, die dann noch um weitere zwei Monate bis Anfang März verlängert wurde.
Ermüdung und Konflikte mit Vorgesetzten
"Ich heiße Jewhen, bin Soldat der ukrainischen Streitkräfte, und wurde nach meiner Desertion wieder in den Dienst gestellt", sagt über sich der 38-jährige Mann, den wir auf einem Übungsplatz der 59. selbstständigen Sturmbrigade treffen, die am Frontabschnitt bei Pokrowsk im Einsatz ist.
"Ich kämpfe seit zehn Jahren und komme aus Mariupol. Der Krieg hat mich auf seine Weise verbrannt, er hat mir alles genommen, die ganze Familie. Aber ich bin hartgesotten und habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn", so Jewhen.
Der Soldat hatte sich unerlaubt von seiner 109. Separaten Brigade der Territorialverteidigung entfernt, in der er seit Beginn von Russlands umfassender Invasion der Ukraine gedient hatte.
"Ich hatte Meinungsverschiedenheiten mit meinem ehemaligen Kommandeur. Er mochte mich nicht und schickte mich zu solchen Einsätzen, von denen man eigentlich nicht zurückkehrt, aber ich bin zurückgekehrt und dann desertiert", erzählt Jewhen.
Anderthalb Monate lebte er in Dnipro und nahm dort illegal einen Job an. "Ich habe mich ein wenig ausgeruht, denn ich hatte in all den Jahren nur einmal Urlaub", fügt der Mann hinzu.
Letztendlich wandte sich Jewhen an die ukrainische Militärpolizei. "Dort habe ich gesagt, dass ich mich unerlaubt dem Dienst entzogen habe und wieder zurück will", erinnert er sich. Am nächsten Tag wurde er zusammen mit anderen Deserteuren zu einem Reservebataillon gebracht, wo sich von Zeit zu Zeit Rekrutierer verschiedener Brigaden einfanden. Schließlich nahm er das Angebot der 59. Sturmbrigade an und war bald wieder im Kriegseinsatz.
"Ich muss kämpfen. Ich bin ein Soldat von den Zehen bis zu den Haarspitzen", sagt Jewhen über seine Motivation. "Wenn man in einer Großstadt von der Front zurückkehrt, ist es seltsam und schwierig zu sehen, wie das Leben weitergeht", fügt er hinzu.
"Von außen betrachtet scheint es, als gäbe es keinen Krieg. Geschäfte, Restaurants, Maybachs, Jeeps, Porsches... Die Menschen leben und verstehen nicht, was dort passiert".
Rückkehrer an der Front gern gesehen
Jetzt trainiert Jewhen zusammen mit einem Dutzend Soldaten, die ebenfalls in den Dienst zurückgekehrt sind. Ihr Kommandant mit dem Rufnamen "Weißer" zeigt Verständnis für das Verhalten seiner neuen Kameraden. Die überwiegende Mehrheit habe gute Gründe gehabt, sich ihrem Dienst zu entziehen.
"Oft werden die Stellungen über einen längeren Zeitraum nicht frisch besetzt, oder sie mussten nach Hause, um familiäre Probleme zu lösen", berichtet der Kommandant und fügt hinzu, dass es auch vorkommt, dass ein Soldat nach einer medizinischen Behandlung als Deserteur gemeldet wird, wenn er nicht innerhalb von zwei Tagen in seine Militäreinheit zurückkehrt.
Doch der Kommandant betont, dass die Rückkehrer ihre Aufgaben gewissenhaft erfüllen, wenn man sie normal behandelt. "Die meisten von ihnen haben bereits gedient und waren auf Stellungen. Sie sind besser ausgebildet als diejenigen, die neu eingezogen werden. Zudem sind sie motivierter, es ist einfacher, mit ihnen zu arbeiten", sagt er.
Im Herbst, als die russische Armee ihre Offensive in Richtung Pokrowsk verstärkte, bekam die Brigade Rekruten. Damals bemängelte der Kommandant mit dem Rufnamen "Weißer" im Gespräch mit der DW deren Ausbildung und ihren Kampfgeist.
So hätten sie häufig ihre Stellungen verlassen. In den letzten drei Monaten habe sich die Situation in seiner Brigade aber dank der Verstärkung durch die freiwilligen Rückkehrer verbessert, sagt er.
Ungelöste Probleme bleiben bestehen
"Die begangenen Taten fallen unter das Strafgesetzbuch, was aber nicht heißt, dass sie schlechte Soldaten sind", betont Roman Horodezkyj, Offizier für psychologische Unterstützung des Personals der 68. separaten Jägerbrigade. Die Brigade ist ebenfalls am Frontabschnitt bei Pokrowsk im Einsatz. Von den desertierten Soldaten seien rund 30 Prozent zurückgekehrt, die Hälfte davon in ihre frühere Brigade, so Horodezkyj.
Er findet, dass das jetzige Verfahren die Rückkehr desertierter Soldaten in den Militärdienst gut regelt. Es löse aber nicht die Ursache für die massenhafte Desertion im Land.
"Das Hauptproblem ist die physische und psychische Erschöpfung der Soldaten. Aber im Moment ist es einfach unmöglich, dieses Problem zu lösen", beklagt Horodezkyj.
"Krieg ist wie eine Droge"
Der 42-jährige Militärangehörige mit dem Rufnamen "Milka" gehört selbst zu den Rückkehrern. Warum er sich unerlaubt seinen Dienstpflichten entzogen hat, will er nicht erklären. Dies geschah nicht an der Front, sondern im Hinterland, wohin er nach einer Verwundung versetzt wurde.
"Warum ich wieder zurückgekehrt bin? Wie soll ich es erklären? Krieg ist wie eine Droge. Wenn man im Krieg war, zieht es einen dorthin zurück", so "Milka". "Es ist nicht so, dass man diese Explosionen braucht, überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll."
Er erhielt den Befehl, zur 68. Brigade zu wechseln, wo er mit der Ausbildung von Soldaten beauftragt wurde. "Milka" findet, sein Zustand habe sich während der Zeit, die er zu Hause verbracht hat, verbessert.
"Ich bin wieder aufgeladen", sagt er und fügt hinzu: "An Urlaub denke ich im Moment gar nicht. Aber am liebsten würde ich alles ausziehen, in Benzin tauchen und die Kleidung verbrennen, und dann einen Trainingsanzug anziehen, meine Kinder an die Hand nehmen und spazieren gehen. Das ist es, was ich mir wünsche", sagt der Mann.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk