Ukraine: Wie der einstige Kachowka-Stausee zum Leben erwacht
8. Juni 2025
Wir wandern auf dem Gelände des ehemaligen Kachowka-Stausees. Noch vor zwei Jahren hätte hier über uns das Wasser mehrere Meter hoch gestanden. Nach der Zerstörung des Kachowka-Wasserkraftwerks Anfang Juni 2023, für die sich die Ukraine und Russland gegenseitig die Schuld geben, bildete sich an dieser Stelle zunächst eine Wüste. Heute ist dort üppige Vegetation, in der eine Vielzahl von Tieren lebt.
Der größte ukrainische Fluss Dnipro hat wieder riesige Auen gebildet, wie sie vor dem Bau des Wasserkraftwerks im Jahr 1950 bestanden. Der Ökologe Wadym Manjuk sagt, dass der Dnipro hier viele Nebenarme hat. Was in großen Teilen der Auenlandschaft geschehe, könne man nicht sehen, aber überall gebe es ähnliche Bäche, sagt der Ökologe und fügt hinzu: "Es können Bäche mit einer schnellen Strömung sein, aber auch schmale oder breitere, die Tümpeln ähneln. All diese Labyrinthe existierten schon, bevor die Landschaft für den Bau des Wasserkraftwerks geflutet wurde."
Wer tummelt sich heute in den Auen?
Das Rauschen der Bäche wird ständig durch das Zwitschern der Vögel unterbrochen. "Ein Seeadler! Allein dafür lohnt es sich, ein Fernglas mitzunehmen. Er ist der wahre Herrscher über die Dnipro-Auen", sagt Manjuk und blickt durch sein Fernglas in den Himmel.
Entdeckt haben wir bei unseren mehrstündigen Beobachtungen auch einen Habicht, einen Bussard, einen Reiher, Schwalben, Schlangen, eine Bisamratte und sogar Spuren von Wildschweinen. Menschen vor Ort berichten, sie hätten auch schon Rehe und Hirsche gesehen. Zudem wimmelt es dem Ökologen zufolge im Dickicht von Ameisen, Wespen, Käfern, Raubwanzen, Schmetterlingen und Gottesanbeterinnen.
Auf dem Boden finden wir versteinerte Knochen von Urtieren und Tonscherben. Einer der Knochen sieht aus wie ein Huf. Manjuk nimmt ihn in die Hand und prüft ihn. "Das ist ein uralter Knochen. Damals gab es noch keine Kühe. Hier gibt es viele solcher Knochen, auch von Wollnashörnern und Mammuts, also von großen Tieren", erzählt er.
Wie hat sich die Landschaft verändert?
Schon vor einem Jahr waren wir mit dem Ökologen auf dem Gelände des einstigen Stausees unterwegs. Seitdem gibt es hier deutlich mehr Gräser. Während es damals etwa 200 Arten von Blütenpflanzen gab, sind es heute fast 500. Wo früher nur Sand war, sind heute grüne Wiesen. Überall blühen Mohn, Seggen, Disteln, Geißklee und Waldroggen. Vor einem Jahr habe es all dies noch nicht gegeben, betont der Ökologe. "Mit der Zeit werden sich hier nicht nur Wälder, sondern auch Wiesen bilden", glaubt Manjuk.
Die Bäume sind inzwischen fünf bis sechs Meter hoch. Rund einen Meter sind die Weiden und Pappeln in einem Jahr gewachsen, schätzt der Ökologe. Er warnt, weiter sollten wir nicht gehen, das sei zu gefährlich. "Der Wald hat sich verändert, er ist dichter und größer geworden", sagt er.
Das letzte Jahr sei für die Auen nicht einfach gewesen, berichtet der Ökologe. Der Sommer und Herbst 2024 seien zu trocken gewesen, weswegen die Bäume zu verdorren begannen. Aber im Frühjahr habe sich alles dank Regen erholen können. "Die erste Prüfung von Dürre haben die Auen bestanden, aber jetzt bereitet uns diese Saison Sorgen", beklagt Manjuk.
Debatte um Wiederaufbau des Kraftwerks
Ob dieses Ökosystem überhaupt eine Zukunft hat, ist fraglich. Denn in der Ukraine wird immer noch darüber diskutiert, ob sich ein Wiederaufbau des zerstörten Wasserkraftwerks Kachowka lohnt.
Der Ökologe und Agrarhistoriker Petro Wolwatsch war schon als Kind in den Auen, bevor das zerstörte Wasserkraftwerk gebaut wurde. Er ist gegen einen Wiederaufbau, der die Vernichtung der wieder erstandenen Auenlandschaft bedeuten würde. Ihm stimmt Wadym Manjuk zu. "Ich bin sicher, dieser Nationalpark würde zu den zehn besten Europas zählen. Er wäre unglaublich!", betont der Ökologe.
Ingenieure hingegen meinen, die gesamte Anlage des Kachowka-Wasserkraftwerks sei für die Wasserversorgung der Bevölkerung und der Unternehmen der Region wichtig, ebenso für die Bewässerung der Landwirtschaft, die Schifffahrt und das Energiesystem. Jetzt, nach der Zerstörung des Wasserkraftwerks, gebe es nicht mehr genug Wasser für alle.
Energiewirtschaft braucht Wasserkraft
Oleh Paschtschenko vom Kachowka-Wasserkraftwerk sagt, das Fehlen des Stausees bedrohe das Überleben der gesamten Region. "Das Wasser in den Brunnen wird mit jedem Jahr weniger", sagt er. Der Wasserspiegel sei nach der Zerstörung des Damms in den ersten sechs Monaten bereits um fünf Meter gesunken, jetzt liege er bei 15 Metern oder tiefer. Paschtschenko vermutet, dass das Jahr 2025 für den Fluss Dnipro ein schwieriges sein wird, da der Wasserzufluss bereits drei- bis fünfmal geringer sei als üblich. Deshalb müsse der Stausee wiederhergestellt werden, sonst werde alles nur schlimmer. "Wir bekommen eine Wüste", warnt er.
Paschtschenko sagt, die jetzige Lage sei aufgrund des erheblichen Bevölkerungsschwunds infolge des Krieges sowie der Tatsache, dass die Landwirtschaft und Industrie nicht mit voller Kapazität arbeiten könne, noch nicht dramatisch. Aber das Wasser würde knapp werden, wenn die Menschen zurückkehren.
Unterdessen arbeitet das staatliche Energieunternehmen "Ukrhydroenergo" an Plänen zum Wiederaufbau des Kraftwerks und des Stausees. Anfangs sollen die Reste des Dammes und der Boden des Stausees untersucht werden. Dann soll der Wiederaufbau des Kraftwerks beginnen. Das könnte fünf bis sechs Jahre dauern, denn allein das Füllen des Stausees mit Wasser würde zwei Jahre brauchen, heißt es bei "Ukrhydroenergo". Dort ist man überzeugt, dass nur so eine sichere Trinkwasserversorgung der Region gewährleistet werden kann
Der amtierende Generaldirektor von "Ukrhydroenergo", Bohdan Suchezkyj, sagt: "Wenn der Staat es braucht, werden wir dort ein großes Kraftwerk bauen. Alles hängt von der wirtschaftlichen Lage ab. Außerdem ist ohne den Kachowka-Stausee ein sicherer Betrieb des Kernkraftwerks Saporischschja unmöglich. Das haben Experten festgestellt."
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk