Ukrainekrieg: Was passiert im umkämpften Pokrowsk?
4. November 2025
Die Stadt Pokrowsk in der Region Donezk ist ein Hotspot im russisch-ukrainischen Krieg. Seit über einem Jahr gibt es an dieser Front heftige Kämpfe, die sich in den vergangenen Monaten auch in die Straßen verlagert haben (siehe Karte).
Nach und nach sickern die Russen in die Stadt ein, wie ein Drohnenpilot der DW berichtet. Man könne nicht alle nicht aufspüren. Die Angreifer würden nach Schlupflöchern suchen, günstige Wetterbedingungen abwarten und einzeln oder zu zweit in die Stadt eindringen. Dort würden sie sich als Zivilisten ausgeben und könnten monatelang unentdeckt bleiben.
"Meinen Beobachtungen zufolge ist die Infiltration das Hauptproblem. Es ist sehr schwierig zu unterscheiden, wer Feind und wer Zivilist ist", sagt der Aufklärer, der mit seiner ukrainischen Einheit in der Region im Einsatz ist. Ihm zufolge rücken die russischen Truppen mit einer großen Anzahl von Drohnen und Gleitbomben nach Pokrowsk vor. Mit den Drohnen würden sie Hinterhalte legen, die Logistik der ukrainischen Streitkräfte erschweren und mit den Bomben jegliche Deckung zerstören.
Russische Überlegenheit im Luftraum
Ukrainische Militärs sehen Russlands Armee in Pokrowsk derzeit im doppelten Vorteil: sowohl zahlenmäßig als auch aufgrund ihrer Lufthoheit. Den vielen russischen Drohnen könne die Ukraine derzeit nichts entgegenstellen.
"Wegen der Drohnen können wir unsere Luftabwehr nicht näher an die Front bringen. Dann würden die teuren Anlagen zerstört. Und eigene Flugzeuge haben wir nicht in ausreichender Zahl, um die russischen Su-Bomber abzuschießen", so einer der Gesprächspartner zur DW.
Folgerichtig ist die Kontaktlinie am Frontabschnitt bei Pokrowsk sehr lang. Die sogenannte "Todeszone" erstreckt sich über 20 Kilometer. Das größte Problem der ukrainischen Streitkräfte besteht darin, dass die Russen gezielt die Logistik der ukrainischen Truppen zerstören. Dies erschwert die Lieferung von Munition und technischer Ausrüstung ebenso wie die Rotationen und die Evakuierung Verwundeter.
Kilometerweit zu Fuß bis zum Ziel
"Die Logistik funktioniert zwar noch, aber sie ist sehr riskant. Die meisten Einheiten rücken zu Fuß vor. Einige müssen Dutzende Kilometer zurücklegen, um ihre Stellungen zu erreichen. Die humanitäre Hilfe erfolgt durch den Abwurf aus Drohnen", sagt ein Aufklärer in Pokrowsk.
Die Russen nähern sich nun Städten wie Dobropillja, Rodynske und Bilyzke, die bis zuletzt noch von ukrainischen Soldaten gehalten wurden. Dort befanden sich Umschlagplätze und Logistikzentren. Die Entfernungen, die das ukrainische Militär nun zurücklegen muss, und der dafür benötigte Zeitaufwand hätten sich erhöht, berichtet eine Drohnenpilotin.
"Als die Russen begannen, die ukrainischen Logistikrouten zu zerstören, spürten wir, dass sie die gesamte Lufthoheit übernehmen." Nun müssen die voll bewaffneten ukrainischen Soldaten ihre Stellungen zu Fuß erreichen. Bodenroboter könnten die Versorgung mit dem Nötigsten ermöglichen, seien aber auch ein Ziel für russische Drohnen.
Ein Drohnenpilot der ukrainischen Nationalgarde, der am Rande der Stadt Myrnohrad im Einsatz war, beschreibt auch dort die russische Taktik, in kleinen Infanteriegruppen vorzurücken. Im Juli habe die Logistik noch funktioniert und alles Notwendige sei täglich geliefert worden.
Ab Mitte August mussten die Drohnenpiloten demnach ihre Stellungen zu Fuß verlassen und zwölf Kilometer bis nach Rodynske zurücklegen. Im September waren es schon 30 Kilometer.
"Der Zugang zu den Stellungen ist sehr schwierig, es gibt nur noch ein oder zwei Landwege, und einer davon steht unter Beschuss", so der Mann. Darüber hinaus müssten die ukrainischen Drohnenpiloten nun 30 bis 40 Tage in ihren Stellungen ausharren. Viele weigerten sich, Stellungen am Stadtrand von Myrnohrad zu übernehmen, weil sie dort von den Russen eingekesselt werden könnten.
Wie entwickelt sich die Lage in Pokrowsk?
Ruslan Mykula ist Mitbegründer des Analyseprojekts DeepState. Die Russen versuchten in der Stadt Myrnohrad möglichst fest Fuß zu fassen, sagt er, um dort ihre Logistik aufzubauen.
Dies wäre jedoch eine äußerst ungünstige Entwicklung für die Ukraine. Ohne Pokrowsk könnten die ukrainischen Streitkräfte Myrnohrad nicht halten, so Mykula.
Pokrowsk selbst würde für die russischen Truppen dann zum Hauptstützpunkt werden. Sie würden in ein Terrain mit Hochhäusern und dichter Bebauung vorrücken, wo Tausende von Soldaten untergebracht werden könnten.
Gleichzeitig müssten die Stellungen ukrainischer Drohnenpiloten sowie die Positionen der ukrainischen Einheiten für elektronische Kampfführung und Aufklärung in die Waldgebiete verlegt werden.
"Ein Verlust von Pokrowsk wäre sehr schmerzhaft, deshalb hoffe ich wirklich, dass es nicht dazu kommt", sagt ein ukrainischer Offizier, der derzeit bei Pokrowsk stationiert ist. "Die Befestigungsanlagen sind fertig. So eine Festung wie Pokrowsk mit Hochhäusern, Anhöhen und viel Beton gibt es nicht nochmal. Es ist eine Stadt, die eigentlich gut zu verteidigen ist."
Eine ähnliche Stadt in der Region gebe es nicht. Sollten die ukrainischen Truppen Pokrowsk verlieren, könnten alle eingesetzten russischen Kräfte in Richtung Kramatorsk, Slowjansk und Druschkiwka weiterziehen. Die Verteidigung dieser Städte wäre um ein Vielfaches schwieriger, so der Offizier.
Ein ukrainischer Militärexperte, der ebenfalls anonym bleiben möchte, ist überzeugt, dass die russische Führung der Armee befohlen hat, die Region Donezk einzunehmen. Der Kreml wolle aus einer Position der Stärke mit der Ukraine und ihren westlichen Verbündeten verhandeln.
"Pokrowsk gilt als Teil dieser Operation, um die Autobahn zwischen den Städten Bachmut, Tschassiw Jar, Kostjantyniwka und Pokrowsk vollständig unter russische Kontrolle zu bringen. Dann könnte es weiter in Richtung Pawlohrad in der Region Dnipropetrowsk gehen", sagt er der DW.
Die Einnahme des Ballungsraums Pokrowsk-Myrnohrad diene den Russen als Ausgangspunkt für ein weiteres Vorrücken in Richtung Pawlograd, aber auch nach Norden in Richtung Druschkiwka, Kramatorsk und Slowjansk wichtig. "Deshalb finden um Pokrowsk so heftige Kämpfe statt."
Der Militärexperte Markus Reisner weist im DW-Gespräch darauf hin, dass seit Wochen eine stete Verschlechterung der Situation um Pokrowsk zu beobachten ist. "Trotz der Erfolge der Ukraine beim Abwehren des Durchbruchversuchs nördlich von Pokrowsk ist es dazu gekommen, dass der Druck der Russen so groß geworden ist, dass es ihnen gelungen ist, vor allem in die südlichen Bezirke der Stadt einzudringen", sagt er.
Und fügt hinzu: "Wir werden im Prinzip dieselbe Entwicklung sehen, wie wir sie auch in den letzten Monaten und Jahren immer wieder gesehen haben bei dem Kampf um wichtige Städte, die wir schon wieder vergessen haben." Aber einen operativen Durchbruch, den die Russen bereits mit ihrer Sommeroffensive erzielen wollten, hätten sie nicht geschafft.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk