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PolitikEuropa

Ukrainer in Polen mit offenen Armen empfangen

20. März 2022

Jeder ukrainische Flüchtling in Polen bekommt Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zum Gesundheits- und Sozialsystem. Vor den Registrierungsstellen warten lange Schlangen. Doch die Zukunft der Migranten ist ungewiss.

Polen: ukrainische Flüchtlinge am Stadion in Warschau
Ukrainische Flüchtlinge am Nationalstadion in WarschauBild: Maciek Jazwiecki/Agencja Wyborcza.pl/REUTERS

Für die ukrainischen Flüchtlinge in Polen ist dieser Tage "PESEL" das magische Wort. Es ist die Abkürzung für die polnische Sozialversicherungsnummer. Polens Regierung hat allen Kriegsflüchtlingen aus dem Nachbarland Ukraine den Aufenthalt bis zu 180 Tagen und den Zugang zu Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und Sozialleistungen versprochen. Das alles macht PESEL möglich. Die größte Registrierungsstelle, an der die Geflohenen eine PESEL-Nummer beantragen können, befindet sich seit diesem Samstag (19.03.) am Nationalstadion in Warschau.

Ukrainerin in Polen: Millionen Menschen mussten fliehenBild: The Yomiuri Shimbun/AP Photo/picture alliance

Schon am Vorabend bildeten sich dort lange Schlangen. Am Tor zum Stadion wurden Thermoskannen mit heißem Tee bereitgestellt. "Ich werde hier solange warten, wie es nötig sein wird. Ich brauche die Arbeitserlaubnis, ich muss Arbeit finden, und zwar so schnell wie möglich", sagt die 24-jährige Viktoria der DW.

Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr darf die IT-Spezialistin aus Kiew rein ins Stadion. In der Nacht hat sie sich in der Schlange mit ihrer Freundinnen abgewechselt und zwischendurch im Auto auf dem riesigen Parkplatz vor dem Stadion geschlafen. Die PESEL-Nummer soll sie innerhalb einiger Tage bekommen. Wer nach 7 Uhr zum Stadion kam, hatte keine Chance mehr, am selben Tag bedient zu werden. Die Volontäre hatten lila Armbänder vorbereitet und verteilen sie an diejenigen, die am nächsten Tag garantiert an die Reihe kommen sollen.

Herausforderung für Polens Verwaltung

In Polen halten sich derzeit über zwei Millionen ukrainische Flüchtlinge auf. Am Mittwoch und Donnerstag, den ersten Tagen der Registrierungsaktion, wurden 123.000 von ihnen registriert. Zusätzliche Registrierungspunkte - wie der am Nationalstadion - und Registrierungsbusse, die in die Flüchtlingsunterkünfte fahren werden, sollen die Aktion beschleunigen. Die Stadt- und Gemeindeämter, die normalerweise die Sozialversicherungsnummern vergeben, sind überfordert.

Geflüchtete wie Alexandra Stefaniv stehen vor großen HerausforderungenBild: Monika Sieradzk/DW

In der polnischen Stadt Przemysl in der Nähe zur ukrainischen Grenze arbeitet das Stadtamt auf Hochtouren, doch bei nur vier Fingerabdruckgeräten und insgesamt sieben Beamten gibt es auch hier lange Wartezeiten. Oxana Kolesnyk hat als Bankangestellte gearbeitet. "Ich kann kein Polnisch und es wird wohl nicht möglich sein, bei einer Bank zu arbeiten - damit rechne ich. Aber ich muss schnell irgendeine Arbeit finden, um den Unterhalt für mich und meinen Sohn zu garantieren", sagt sie. Auf die Flucht hat sie ihren Pass mitgenommen, was die Formalitäten erleichtert. Bei den Personen, die ohne ihre Identitätsdokumente vor dem Krieg flohen, dauern die Prozeduren länger. Auch sie werden in Polen aufgenommen, obwohl ihre Identität nicht vollständig überprüft werden kann.

Unsicherheit im neuen Land

Ukrainer hoffen in Polen auf Hilfe - hier in KrakauBild: Beata Zawrzel/NurPhoto/picture alliance

Das vom Parlament kürzlich beschlossene Sondergesetz sichert Geflüchteten den Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen und zu Sozialleistungen, darunter zum monatlichen Kindergeld in der Höhe von 110 Euro pro Kind. Die Ankömmlinge bekommen umgerechnet 70 Euro Begrüßungsgeld, danach müssen sie sich den Lebensunterhalt selbst organisieren. Das Sondergesetz garantiert zudem polnischen Bürgern, die die Ukrainer aufnehmen, umgerechnet 9 Euro pro Tag für Unkosten.

Im Wartesaal sitzt Alexandra Stefaniv aus Lwiw, ihr polnischer Verwandter Leon Bortnik hilft ihr bei der Ausfüllung des Antrags. Der Logistik-Unternehmer aus Przemysl gibt seinen ukrainischen Verwandten Obhut in einer kürzlich geerbten Wohnung, die bisher noch leer stand. "Plötzlich bekam ich einen Anruf von der Schwester meiner Mutter aus der Ukraine. Sie fragte mich, ob ich sie und ihre nächste Familie aufnehmen werde. Darauf gibt es nur eine richtige Antwort", sagt Bortnik der DW.

Polen: Leon Bortnik hilft seinen ukrainischen VerwandtenBild: Monika Sieradzka/DW

Er will Alexandra bei der Arbeitssuche helfen, er kenne viele Menschen in der Region. Für die 46-jährige ist ihre eigene Zukunft ein Fragezeichen. "Ich bin verwirrt, ich habe keine Ahnung, was ich in Polen machen soll. Soll ich Arbeit suchen? Aber ich hoffe doch, dass der Krieg bald vorbei sein wird und dass ich nach Hause zurückkehren kann", sagt sie. Ihr Mann sei in Lwiw geblieben und sie selbst habe doch nie geplant, aus der Ukraine auszuwandern.

Die große Migrationswelle - ein neues Phänomen

Seit dem Kriegsbeginn sind 3,3 Millionen Ukrainer ausgewandert, viele davon nach Polen. Schon zuvor gab es im Land mit 38 Millionen Einwohnern über eine Million ukrainische Migranten, die seit der Krim-Annexion 2014 ihr Land verließen.

2021 gaben in einer Umfrage des Zentrums für Vorurteilsforschung der Universität Warschau 90 Prozent der Befragten an, dass sie die Ukrainer als Kollegen und Nachbarn akzeptieren. In den letzten Jahrzehnten waren Migranten in Polen ein kleiner Bruchteil der Gesellschaft. Außer den ukrainischen Auswanderern seit 2014 gibt es keine Migrantengruppe von vergleichbarer Größe.

Die Fluchtbewegung aus der Ukraine (Stand 18.03.2022)

Im Vergleich zu anderen EU-Ländern hat sich Polen gegen Migranten abgeschottet. Die jetzige Flüchtlingswelle ist ein ganz neues Phänomen. Nach über drei Wochen voller Hilfsbereitschaft, in denen die ukrainischen Kriegsflüchtlinge mit offenen Armen aufgenommen wurden, taucht in den Medien immer häufiger die Frage auf, wie das ohnehin schon überlastete Sozial- und Gesundheitssystem noch weitere Millionen Menschen bedienen kann. In manchen Elternräten wächst Unmut über die Perspektive der überfüllten Schulklassen.

Polnische Gesellschaft ist gefordert

Dr. Agnieszka Lada-Konefal, Vizedirektorin des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, spricht von einer enormen Herausforderung für die Verwaltung und die Gesellschaft, die das Land sicherlich verändern werde. "Die Polen werden lernen müssen, mit Menschen zusammenzuleben, die etwas anders sind.

Flüchtlingskinder in einer Schule im polnischen RzeszowBild: DW

Schon in den letzten Jahren haben viele Polen diese Erfahrung gemacht, auch mit den Ukrainern, und diese Erfahrung war positiv", sagt sie der DW. Das gelte auch für die Schulkinder, die Klassenkameraden mit anderer Sprache und Kultur, aber auch mit schwierigen Kriegserfahrungen bekommen würden. "Damit müssen Kinder und Jugendliche zurechtkommen. Sie werden lernen müssen, mit den anderen zu leben, sich zu öffnen. Das bedeutet Entwicklung".

Doch Teile der Gesellschaft könnten sich von der großen Migrationswelle überfordert fühlen. "Es ist schwer zu sagen, ob die polnische Gesellschaft, wenn die Kosten hoch sind und die Krise und der Krieg lange andauern werden, in der Lage sein wird, dies zu akzeptieren und zu lernen, damit zu leben." Die Politologin warnt davor, dass die Migrationswelle aus der Ukraine von Populisten dazu genutzt werden kann, "Hass und Abneigung zu verbreiten".

Gespräch mit Migrationsforscher Gerald Knaus

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